Artikel von Claudius Weise
Der Krieg in der Ukraine lässt niemanden unberührt und hat fast alle anderen Themen in den Hintergrund gedrängt. Das spürt man auch in diesem Heft. Zunächst charakterisiert Ute Hallaschka diesen Krieg als »ein gewaltiges Bild der Frage nach der Zukunft«, die jeder Einzelne von uns aufgefordert ist, zu beantworten. Nach einem kurzen, bewegenden Interview mit einem ukrainischen Waldorfschüler, das Christoph Hueck für uns geführt hat, öffnet Joachim von Königslöw als ausgewiesener Osteuropa-Experte weite historische Perspektiven auf diesen Konflikt und analysiert das eigentümliche Geschichtsbild des russischen Präsidenten. Stephan Eisenhut wiederum legt dar, dass den Berechnungen Russlands – wie denen des Westens – der Geist der Entzweiung zugrunde liegt, und dass noch offen ist, welche Seite sich wirklich verrechnet hat.
Das Schicksal ist ein großer Lehrmeister - allerdings auch ein anspruchsvoller, der es uns nicht leicht macht, in Rätseln oder unverständlich spricht und uns mit Aufgaben konfrontiert, unter deren Last wir schier zusammenbrechen. Um seine Sprüche verstehen zu können, müssen wir das Vertrauen haben, dass darin überhaupt ein Sinn liegt, dass es nicht Zufall ist, was uns begegnet. Der Karma-Gedanke nährt dieses Vertrauen. Indem wir das Schicksal als eine Folge unserer eigenen Taten betrachten, als eine Gelegenheit zum Ausgleich früherer Versäumnisse, als Aufforderung zur Entwicklung, indem wir versuchen, uns selbst in dem zu erkennen, was uns von außen zustößt, beginnen wir, die Lehren zu verstehen, die darin verborgen sind. Das gilt für das individuelle wie für das kollektive Schicksal.
Gut versteckt im Nachtprogramm zeigte das ZDF am 27. Juni 2022 ein bemerkenswertes Interview mit der südafrikanischen Außenministerin Naledi Pandor. Wahrscheinlich war selbst dies allein der Tatsache zu verdanken, dass sie eine alte schwarze Frau ist und kein alter wei©¨er Mann. Geradezu verzweifelt versuchte Wulf Schmiese, der Redaktionsleiter des ›heute journal‹, ihr die westliche Russlandpolitik und das entsprechende Wording nahezubringen. Doch Pandor weigerte sich konsequent, »die Sprache anderer zu sprechen, um uns für eine Seite zu entscheiden«, und forderte Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Schließlich habe man sich auch in Südafrika am Ende des alten Apartheid-Regimes mit seinen Feinden an einen Tisch gesetzt, um eine Lösung zu finden. – Wie lange ist es her, dass deutsche Politiker und Diplomaten ein solches Ethos des Ausgleichs und der Verständigung verkörperten! Heute ist es einem engstirnigen Moralismus gewichen, der mit einer eklatanten Unfähigkeit einhergeht, eine andere Sicht der Dinge zu verstehen, geschweige denn für berechtigt zu halten.
Vor nunmehr 100 Jahren wurde die Christengemeinschaft als Bewegung für religiöse Erneuerung ins Leben gerufen. Das vorliegende Heft wendet sich den Impulsen und geistigen Hintergründen zu, die dabei eine Rolle spielten, und fasst einige Menschen ins Auge, die als Geburtshelfer dieser Bewegung gelten können, aber dann aus dem Blickfeld gerieten.
Am 18. November 2022 fand ein konzertierter Angriff gegen die Anthroposophie in den deutschen Medien statt. Deren Kernstück war eine ›ZDF-Zoom‹-Reportage mit dem manichäisch anmutenden Titel: ›Anthroposophie – gut oder gefährlich?‹, die vor knapp einem Jahr gedreht worden war und deutliche Spuren der damaligen Stimmung trug, in der die Diskriminierung, ja Dämonisierung Andersdenkender in deutschen Redaktionsstuben zum guten Ton gehörte. Der Journalist Jochen Breyer zieht darin das Resümee: »Anthroposophie ist eben auch Karma, kosmische Kräfte und immer wieder die Überzeugung, dass Wissenschaft nicht alles ist, dass Wissenschaft begrenzt ist, und genau das ist gefährlich. In der Pandemie haben wir bemerkt, was es bedeutet, wenn das Vertrauen in die Wissenschaft fehlt.« Verwundert nimmt man zur Kenntnis, dass Wissenschaft neuerdings »alles« zu sein hat, dass offensichtlich Religion und Kunst nicht mehr neben ihr als gleichberechtigte Ausdrucksformen des menschlichen Geistes stehen dürfen. Stattdessen scheint Wissenschaft für viele Menschen zu einer Art Staatsreligion geworden zu sein, an der Zweifel zu hegen und von deren Grenzen zu sprechen als gemeingefährlich gilt.
Erinnern Sie sich an die Zeit, als »Querdenker« ein Ehrentitel war? Noch vor fünf Jahren rief die ›Bertelsmann Stiftung‹, die durch staatsgefährdende Aktivitäten bisher nicht aufgefallen ist, ›Camp Q 2018 – Die Leadership Konferenz für Querdenker‹ ins Leben. Zwei Jahre später musste die Stiftung bereits ihre Wortwahl verteidigen: »Das Q steht bei uns als Symbol für Andersdenken, aber nicht für Verschwörungstheorien oder -gruppen. Wir verlassen gewohnte Pfade, hinterfragen, nehmen neue Perspektiven ein, rütteln wach, machen Dinge anders, denken voraus und erweitern Netzwerke – für all das stehen unsere Projekte und Veranstaltungsformate und damit auch das Querdenken im Kompetenzzentrum Führung und Unternehmenskultur.« Dennoch blieb ›Camp Q 2021‹ die letzte Auflage dieses Formats. Stattdessen gibt es jetzt ›Leadership-Expeditionen‹, wo ausgewählten Führungskräften »die Alternativlosigkeit zu einer beherzten Führung« vermittelt wird.
»Krieg«, so lautet einer der berühmtesten Aussprüche des Heraklit von Ephesos, »ist der Vater aller Dinge.« Rudolf Steiner hat dazu in ›Das Christentum als mystische Tatsache‹ bemerkt: »Gerade Heraklit kann leicht mißverstanden werden. Er läßt den Krieg den Vater der Dinge sein. Aber dieser ist ihm eben nur der Vater der ›Dinge‹, nicht des Ewigen. Wären nicht Gegensätze in der Welt, lebten nicht die mannigfaltigsten einander widerstreitenden Interessen, so wäre die Welt des Werdens, der Vergänglichkeit nicht. Aber was sich in diesem Widerstreit offenbart, was in ihn ausgegossen ist: das ist nicht der Krieg, das ist die Harmonie. Eben weil Krieg in allen Dingen ist, soll der Geist des Weisen wie das Feuer über die Dinge hinziehen und sie in Harmonie wandeln.« Der Krieg gehört zur Welt des Werdens. Aber was letztlich werden soll, ist Harmonie. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu diesem fernen Ziel könnte darin bestehen, dass die Auseinandersetzungen zwischen uns Menschen immer mehr von der physischen Ebene in die geistige verlegt werden, dass der Konflikt zur Konferenz wird, zum Diskurs.
Nicht um Geometrie geht es in diesem Heft – aber wenn man ein durchgehendes Motiv feststellen möchte, dann ist dieses nicht inhaltlicher Natur. Viele, zum Teil sehr verschiedene Themen werden in den hier versammelten Beiträgen behandelt. Doch gehen oft zwei Artikel in dieselbe Richtung – wie Parallelen. Zu allen anderen zeichnen sie sich hingegen nur durch eine mehr oder weniger große Nähe aus – wie Parabeln. Die folgenden Zeilen können deshalb auch als Wegweisung verstanden werden, wie man das Heft am besten kreuz und quer liest.
Wir leben in einer Welt, in der Bilder eine immer größere und oft äußerst problematische Rolle spielen. Denn diese Bilder sind zunehmend künstlichen und kaum mehr künstlerischen Ursprungs – Ausdruck einer unmenschlichen Intelligenz, nicht eines schöpferischen Individuums. So vermitteln sie auch keine höhere Wahrheit mehr, sondern perfekte Illusionen oder raffinierte Lügen – und über die sogenannten »sozialen« Medien entfalten sie eine verheerende Wirksamkeit. Welche Folgen das insbesondere für die heranwachsenden Menschen hat, zeigt einleitend Heinz Buddemeier in seiner Rezension des Buches ›Wir verlieren unsere Kinder!‹ von Silke Müller.
Dies ist ein Heft für Bibliophile. Nicht nur wegen der zahlreichen Buchbesprechungen, zu deren Verfassern dieses Mal u.a. Peter Selg, Konrad Schily und René Madeleyn gehören. Sondern auch deshalb, weil die Schriftkultur selbst in den Blick genommen wird – sei es in dem Kommentar von Jens Göken über deren Zerstörung durch Künstliche Intelligenz, der düstere Diagnosen mit stiller Zuversicht verbindet; in der Rezension, die Ute Hallaschka dem brandneuen Thriller ›Going Zero‹ von Anthony McCarten gewidmet hat, in dem eine Bibliothekarin die Überwachungsmaschinerien unserer Zeit herausfordert; oder in dem facettenreichen kulturhistorischen Aufsatz von Ruedi Bind, in dem geschildert wird, wie die Literatur der Goethezeit unser Verhältnis zur Natur nachhaltig verwandeln half.
Wie es sich für eine anthroposophische Zeitschrift gehört, hatten wir uns in der Redaktion schon seit langem darauf verständigt, das vorliegende Heft der Weihnachtstagung von 1923/24 zu widmen. In der Tat haben wir so viele Beiträge zu diesem Thema zusammenstellen können, dass es auch den Schwerpunkt des nächsten Heftes bilden wird. Doch wollen wir trotz dieses erhebenden Jubiläums an den oft niederdrückenden Zeitereignissen nicht vorbeigehen. Ich bin János Darvas sehr dankbar dafür, dass er seine Rezension des Buches ›Die Juden im Koran‹ von Abdel-Hakim Ourghi nach dem Überfall der Hamas auf Israel überarbeitet und berührende Worte gefunden hat, die von Versöhnung sprechen, ohne vom muslimischen Antisemitismus zu schweigen. Im Anschluss weist Salvatore Lavecchia auf problematische Aspekte der sogenannten Entkolonialisierung hin, die inzwischen auch dadurch offensichtlich geworden sind, dass mit dieser Idee oft eine beunruhigende Tendenz zur Relativierung terroristischer Gewalt einhergeht. Und Bernd Brackmann denkt über ›Wirklichkeitsverlust und totalitäre Tendenzen‹ als Krisensymptome unserer Demokratie nach.
Wie angekündigt steht auch in diesem Heft die Weihnachtstagung 1923/24 im Mittelpunkt der Betrachtung - die durchaus kritisch ausfällt, was die Umsetzung der damals von Rudolf Steiner gesetzten Impulse betrifft. Günter Röschert, seit 1975 Autor dieser Zeitschrift, gibt in seiner ›Besinnung nach 100 Jahren‹ den Takt vor: aus seiner Sicht ist die Weihnachtstagung ein gescheiterter Aufbruch geblieben, weil insbesondere die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft dem Auftrag, eigenständige geistige Forschung zu betreiben, nicht gerecht geworden sei. Dadurch habe die ganze anthroposophische Bewegung den sektiererischen Charakter, dessen Überwindung Rudolf Steiner ein Anliegen war, bis heute nicht abstreifen können.
Ein Jahr Gelbwesten-Proteste
Man stelle sich vor, dass in einem autoritär regierten Land, sagen wir Russland, seit über einem Jahr tausende von Menschen jeden Samstag auf die Straße gehen, um gegen ihre Regierung zu protestieren. Man stelle sich weiter vor, dass die Regierung immer wieder gewaltsam gegen diese Demonstranten vorgeht, mit Tränengas und Gummiknüppeln, aber auch mit Gummigeschossen, die so schwere Verletzungen hervorrufen, dass 24 Menschen ein Auge verloren haben, fünf Menschen eine Hand abgerissen wurde und ein Mann einen Hoden verlor; dass eine 80-jährige Frau starb, weil sie von einer Tränengasgranate ins Gesicht getroffen wurde; und dass Organisationen wie ›Amnesty International‹ und ›Reporter ohne Grenzen‹2 das harte Vorgehen der Polizei kritisieren. Wäre das nicht in unseren Medien ein Thema, das wiederholt behandelt und von moralischen Verurteilungen begleitet würde? Wenn es um Russland ginge, ganz bestimmt. – Aber es geht ja um Frankreich.
Zur ›Asghar Farhadi-Box‹ der ›trigon-film‹
Der iranische Regisseur und Drehbuchautor Asghar Farhadi ist hierzulande kein ganz Unbekannter. Zumindest Filmenthusiasten kennen den 1972 Geborenen als zweifachen Oscar-Preisträger in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film, zuletzt für das Ehedrama ›The Salesman‹ (2016). Es ist die subtile Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen sowie des mittelständischen Milieus, in dem seine Geschichten verortet sind, mit denen er sich diese und andere Ehren verdient hat. Für westliche Betrachter haben seine Filme den zusätzlichen Reiz, Einblicke in ein Land zu gewähren, das den meisten mehr als Projektionsfläche denn als Realität bekannt sein dürfte.