Artikel von Andreas Laudert
Die Symptomatologie der Gegenwart und Salvatore Lavecchias Buch ›Ichsamkeit‹
Am Helmholtzplatz in Berlin-Prenzlauer Berg, buchstäblich vor meiner Tür, wurde am frühen Abend des 17. April ein Kippa tragender junger Mann von einem arabischen Jugendlichen angegriffen und gedemütigt. Das Opfer filmte den Täter; es hatte die Kippa als Experiment getragen. Der Vorfall brachte es bis auf die Titelseiten aller Zeitungen. Antisemitische Übergriffe nehmen in der deutschen Hauptstadt bis in Grundschulen hinein zu. Einen Zusammenhang mit dem seit 2015 zunehmenden Zuzug von Muslimen herzustellen, ist weder bös- noch mutwillig, sondern dieser besteht objektiv. Juden in Berlin fühlen sich nicht mehr sicher und befinden sich mit ihrer Sorge im feuilletonistischen Abseits, denn den folgenlosen politischen Betroffenheitsfloskeln stehen die Rechtfertigungsmuster plötzlich um ihren Ruf bangender Institutionen gegenüber: Man möchte sich nicht Rassismus und Ausgrenzung von Muslimen nachsagen lassen. Deshalb wird systematisch bagatellisiert, dass 80 Jahre nach dem Holocaust das Judentum in Deutschland im Alltag wieder als Problem angesehen wird. Dies mag freilich nur auf dem Boden eines noch immer latenten Ressentiments quer durch alle Schichten gedeihen können. Umso gedankenloser, ja fast wahnsinnig mutet es an, die Gefahr eines sozusagen zusätzlich importierten islamistischen Antisemitismus (inklusive eines nicht minder aggressiv-höhnischen Antifeminismus) politisch derart ausgeblendet zu haben. Auf dieser Begriffsstutzigkeit – oder Strategie? – der Entscheidungsträger kocht eine Gruppierung wie die AfD ihr fades Süppchen, das Gift der eigenen hassgetränkten Gedanken und rein destruktiven Rhetorik noch hineinmischend.
Im Lazarus-Haus in Wuppertal ist am 13. Mai, am Himmelfahrtssonntag und Muttertag, meine Mutter gestorben. Es war ein friedlicher Tod ohne Schmerzen. Margarete, geb. Schneider, wurde im März 1925 geboren. Sie war ein, wie man so sagt, bildungsferner Mensch. Sie war einfach, war äußerlich nie mehr als Hausfrau gewesen, las selten anspruchsvolle Bücher, machte Brombeeren ein und buk immer den gleichen Kuchen. Sie war auch nicht verklärbar als dieser einfache Mensch, der sie war, sie war keine fröhlich-gütige Großmutter (aber eine geliebte), sie war auf den ersten Blick auch keine nahbare, Wärme verströmende Mutter für ihre vier Kinder, dafür war sie zu sehr geprägt von den spießigen 50er Jahren und mehr noch von den eigenen Wunden. Aber sie traf, wenn sie sich frei und angenommen fühlte, den Nerv der Dinge. Sie spürte, was in Menschen vorging, aber nur, wenn ihr Blick von sich absah.