Was bedeutet es für die anthroposophische Arbeit, den Karmagedanken ernstzunehmen?
Mit dem Entschluss Rudolf Steiners, sich auf der Weihnachtstagung 1923/24 bis hin zur äußeren Verwaltung in die Anthroposophische Gesellschaft voll verantwortlich hineinzustellen, war eine bittere Konsequenz verbunden: Einer Aussage Marie Steiners zufolge hatte er dadurch das Karma der Anthroposophischen Gesellschaft auf sich genommen. Rudolf Steiners persönliches Schicksal ist somit engstens mit dem jener Menschen verkettet, die sich damals mit der anthroposophischen Sache verbunden haben.
Über die Weihnachtstagung 1923/24 zur Gründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft
Über den Verlauf der sogenannten Weihnachtstagung 1923/24 brachte Marie Steiner zwanzig Jahre später eine ausführliche Dokumentation heraus. Im Vorwort führte sie aus, die Tagung sei der Versuch eines »Menschenerziehers« gewesen, »seine Zeitgenossen über das eigene kleine Selbst hinaus zu heben, sie zum bewußten Wollen wachzurufen, Werkzeug der weisen Weltenlenkung werden zu dürfen.« Marie Steiner fuhr dann fort: »Doch ist diese Weihnachtstagung zugleich mit einer unendlichen Tragik verbunden. Denn man kann nicht anders als sagen: Wir waren wohl berufen, aber nicht auserwählt. Wir sind dem Ruf nicht gewachsen gewesen. Die weitere Entwicklung hat es gezeigt.« Die Tagung stehe im »tragischen Lichte« für den, der die Möglichkeit habe, »die Geschehnisse zu überschauen. Von der Schwere und dem Leide dieses Geschehens haben wir nicht das Recht, unsere Gedanken abzuwenden.« Dieser Worte gilt es sich zu erinnern, wenn in der Anthroposophischen Gesellschaft der Gegenwart der historischen Weihnachtstagung festlich gedacht wird.
Die Weihnachtstagung zur Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24 und Rudolf Steiners Hochschulimpuls
Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« stehend, wie der Historiker George F. Kennan den die Geschichte dieses Jahrhunderts prägenden Ersten Weltkrieg charakterisiert, gab Rudolf Steiner im Jahr 1918 ›Die Philosophie der Freiheit‹ neu heraus. Der Autor versah sein damals weitgehend in Vergessenheit gesunkenes Hauptwerk bei dieser Gelegenheit mit erläuternden Zusätzen und einer ›Vorrede‹. Offenbar war es ihm, der zu diesem Zeitpunkt seit mehr als einem Jahrzehnt in der theosophisch-anthroposophischen Bewegung als vielbeanspruchter Vortragsredner, Lehrer und Berater unterwegs war, wichtig, auf die Grundlagen der von ihm vertretenen Geisteswissenschaft zu verweisen. Es galt, das Ideal eines »ethischen Individualismus« ins Bewusstsein seiner spirituell meist hochmotivierten Schülerinnen und Schüler zu rücken. Diese waren aufgrund ihres Hangs zu mystischen Traditionen und unter dem Eindruck der Autorität des »Meisters« sowie der von diesem übermittelten »Offenbarungsinhalte« stets gefährdet, ihr selbstständiges Denken und Beobachten zumindest partiell einzubüßen.
Welche Bedingungen benötigt ein zeitgemäßes Mysterienwesen? (2. Teil)
Der in drei Klassen gegliederte Hochschulorganismus, deren Einrichtung Rudolf Steiner mit der Weihnachtstagung 1923 in Angriff nahm, sollte eine irdische Erscheinungsform der übersinnlichen Michaelschule werden und die verschiedenen Lebenszweige impulsieren. Welche Konsequenzen hat es für die Gegenwart, dass dieser Einrichtungsprozess nur bis zum 1. Abschnitt der ersten Klasse durchgeführt werden konnte? Und was bedeutete dies für die Menschen, die diese Tragik unmittelbar miterlebt haben?
Der Grundsteinspruch in der Entwicklung des jungen Menschen
Die Grundstein-Meditation Rudolf Steiners besteht aus vier Teilen. Die ersten drei entfalten ein rhythmisch gegliedertes Bild der Menschenseele in ihrem Verwobensein mit Leib und Geist, mit irdischer Menschenwelt und geistigem Kosmos. Aus diesem geistig strahlenden Bild ertönt eine zu höchster Differenzierung entwickelte und in höchster Vereinfachung zusammengefasste Weisheit, die zunächst fast kristallin-unzugänglich erscheint, doch schon nach anfänglicher meditativer Beschäftigung beginnt, inneres Leben zu entfalten und Seele zu atmen. Der vierte Teil – im Duktus ganz anders als die ersten drei – erzählt wie ein Ur-Märchen mit einfachsten Worten den historischen wie innerlichen Weg des Welten-Geistes-Lichtes in das Innere des Menschen hinein, zum Ziel der Verwirklichung des Guten.
Aspekte ihres Wesens und ihrer heutigen Bedeutung
»In der alten Atlantis waren die meisten Menschen instinktiv hellseherisch, sie konnten hineinsehen in die Gebiete des Geistigen. Diese Hellsichtigkeit konnte sich nicht fortentwickeln, sie musste sich zurückziehen zu einzelnen Persönlichkeiten des Westens. Sie wurde da geleitet von einem Wesen, das in tiefer Verborgenheit lebte einstweilen, zurückgezogen selbst hinter denen, die auch schon zurückgezogen und Schüler waren eines großen Eingeweihten, [eines Wesens] das sozusagen zurückgeblieben war, bewahrend dasjenige, was aus der alten Atlantis herübergebracht werden konnte, bewahrend es für spätere Zeiten. Diesen hohen Initiierten, diesen Bewahrer der uralten atlantischen Weisheit, die tief hineinging sogar in alles dasjenige, was die Geheimnisse des Physischen Leibes sind, kann man Skythianos nennen, wie es im frühen Mittelalter üblich war. Und es blickt derjenige, der das europäische Mysterienwesen kennt, zu einem der höchsten Eingeweihten der Erde hinauf, wenn der Name Skythianos genannt wird.« – Rudolf Steiner
Der in dem obenstehenden Zitat aufgezeigte Zusammenhang um den Eingeweihten Skythianos bildet einen wichtigen Hintergrund für die Beschäftigung mit den hybernischen Mysterien. Einigen Grundmotiven dieser Mysterien bin ich bereits an anderer Stelle nachgegangen. So erschien zum 200. Geburtsjahr Herman Melvilles 2019 in dieser Zeitschrift ein Artikel, der die moderne Fortschreibung eines Motivs der westlichen, der hybernischen Mysterien beinhaltete: das Rätsel des mephistophelischen Doppelgängers, der in Melvilles ›Moby Dick‹ das Ich der Hauptperson Käpt’n Ahab überwuchert. Es ist dies ein Thema, das Rudolf Steiner zufolge für die Zukunft im Sozialen immer wichtiger zu beachten sein wird und das Melville wie prophetisch für die Entwicklung der damals frisch geborenen amerikanischen Kultur in monumentaler Weise vor uns hinstellt.
Zu Martin Barkhoff & Caroline Sommerfeld: ›Volkstod – Volksauferstehung‹
Eine Veröffentlichung aus dem Jahr 2021 erlangte im vergangenen Sommer neuerlich Aktualität. Das Buch des Autoren-Duos Martin Barkhoff und Caroline Sommerfeld erschien im Antaios Verlag, der in dieser Zeitschrift eher selten Beachtung findet. Versorgt er doch vor allem das Umfeld der AfD mit Lesestoff – und hier vielleicht diejenigen mit intellektuellem Anspruch. Im Zuge des Zulaufs, den diese Partei am äußersten rechten Rand der demokratischen Legitimation heute erlebt, scheinen vermehrt auch anthroposophisch Orientierte diesem Umfeld etwas abgewinnen zu können.
Zu Wolf-Ulrich Klünker: ›Alanus ab Insulis‹
»[E]s ist ein groß Ergetzen, / Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen; / Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht, / Und wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht.« So charakterisiert Fausts Famulus Wagner die Beschäftigung mit alten Schriften als eine Art Selbstzweck - und die skeptische Antwort seines Meisters ist hinlänglich bekannt ... Es ist schwerlich ein Verkaufserfolg zu erwarten, wenn man heutzutage eine vor 30 Jahren erstmals erschienene Studie über einen wenig bekannten Philosophen und Theologen des 12. Jahrhunderts neu herausgibt: Alanus ab Insulis. Umso mehr ist dem Verlag Freies Geistesleben für diesen Schritt zu danken, der durch das Jubiläum der Alanus-Hochschule im vergangenen Jahr veranlasst wurde.
Zur vierten Meditationstagung zum Werk von Georg Kühlewind vom 20. bis 22. Oktober 2023 in Stuttgart
Zum vierten Mal hatte die Akanthos-Akademie zu einer Tagung eingeladen, die sich mit Themen aus dem Werk des 2006 verstorbenen Bewusstseinsforschers Georg Kühlewind beschäftigte. An der Tagung im Rudolf Steiner Haus in Stuttgart, die dieses Mal den Titel ›Der sanfte Wille‹ hatte, nahmen etwa hundert Menschen teil. Vorträge hielten der Psychotherapeut Sebastian Elsaesser aus Stuttgart, der Psychotherapeut Michael Lipson aus Great Barrington/MA (USA) und der emeritierte Professor für Informatik Laslos Böszörmenyi aus Klagenfurt. Alle drei leiteten auch Übungsgruppen; zu ihnen gesellten sich als Übungsgruppen-Leiter der Psychiater und Psychotherapeut Hartwig Volbehr aus Überlingen und der Organisationsberater Rudi Ballreich aus Stuttgart. Organisiert hatten die Tagung wiederum Andreas Neider und Laurence Godard aus Stuttgart.
Zur Ausstellung: ›Turner – Three Horizons‹ im Münchner Lenbachhaus
München leuchtet mal wieder. Die Sonderausstellung ›Turner -Three Horizons‹, die noch bis zum 10. März im Kunstbau des Lenbachhauses besucht werden kann, ist ein Glanzlicht. Doch ehe wir die Ausstellung betreten können, müssen wir in den Untergrund. Ein wirklich sonderbares Gefühl begleitet den Abstieg. Es geht tatsächlich in den nahegelegenen UBahn-Schacht hinab, in dem das Lenbachhaus diese Dependance, den sogenannten Kunstbau, unterhält. Zu der unterirdischen Räumlichkeit gehören Zeitfenster, die vorab online gebucht werden müssen (ein spontaner Museumsbesuch wird zunehmend zur Unmöglichkeit). Also ab in den technischen Hades, mit einer entsprechenden Einstimmung der Seele!
Zur Performancekunst von Marina Abramović
Marina Abramović darf als die bedeutendste Performancekünstlerin der Gegenwart bezeichnet werden. Ihr Gesamtkunstwerk besteht aus einem alles riskierenden, bis an die Grenzen menschlicher Existenz gehenden, Schmerzen erleidenden Einsatz des eigenen Körpers und den damit einhergehenden Bewusstseinsveränderungen. In ihren Performances bezieht Abramović das Publikum so ein, dass es ihren öffentlich vorgeführten Selbstverletzungen und ihren mentalen Transitionen nicht nur ausgesetzt ist, sondern zum aktiven Handeln und inneren Mitvollziehen veranlasst wird. Die Übertragung psychischer und mentaler Energien der Akteurin auf das Publikum gehört zu den Grundelementen ihrer performativen Aktionen. Ihr biografischer und künstlerischer Weg führt von der Ablösung aus familiären Zwängen, durch exzessive, Abhängigkeiten schaffende Liebesverhältnisse, über spirituelle und meditative Praktiken zu einer eigenen performativen Sprache der Aufmerksamkeit und empathischen Hingabe.
Zu Christine Gruwez: ›Die Wunde und das Recht auf Verletzlichkeit‹
Gibt es eine Wunde auch ohne vorherige Verletzung? Eine ursprüngliche, primordiale Wunde? Die Wunde der Menschheit ist das zentrale Anliegen dieses Buches. Es stützt sich dabei auch auf drei Vorträge Rudolf Steiners über die Wunde, die eine Zerstörung bedeutet, und die Kraft zur Heilung. Das Buch ist - mit Prolog und Epilog - in drei Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel ›Wach werden‹ ist von den vielen Krisen die Rede, die wir heute erleben. Sie sind oft schon alt und werden nur, z.B. durch die Corona-Pandemie, verschärft. Hat eine Krise vielleicht erst die Fakten deutlich gemacht? Es ist im Leben wie in der Medizin: Nicht die Symptome sind wesentlich, sondern die durch sie angezeigte tiefere Wirklichkeit. Fakten und Tatsachen erscheinen bloß an der Oberfläche und verhindern sogar den Blick in die Tiefe. Zwischen Oberfläche und Tiefe liegt die Mitte, wo die Krise stattfindet und die Entscheidung fällt. Hier liegt die Wahrheit. Auch bei den gegenwärtigen Kriegen ist das so. Schaut man nur auf die Symptome, ist ein Brückenbauen unmöglich.
Zum Auftakt einer neuen Filmreihe von Rüdiger Sünner
Über den unermüdlich schaffenden Filmemacher und Autor Rüdiger Sünner kann man ohne Übertreibung mit einem Wort Martin Bubers sagen, dass er stets darum bemüht ist »neues Feuer« heranzubringen, damit »die Glut auf dem Altar seiner Seele nicht verlösche«. Eine ganz wichtige Inspirationsquelle für Sünners Werk, aus der er seit Jahrzehnten sein kreatives Seelenfeuer bezieht, sind die Landschaften, die er auf seinen zahlreichen Filmreisen durchstreift. Kein Sünner-Film, der nicht zu einem wesentlichen Teil von der Atmosphäre der gefilmten Orte lebt. Da ist es nur folgerichtig, wenn sich Sünner nach den vielen Porträts, die er über große Denker, Dichter und Künstler gedreht hat, nun in seinem Alterswerk dem Rohstoff seiner Arbeit zuwendet und uns mitnimmt auf eine Reise zu seinen Seelenlandschaften. Es ist, als würde Sünner sein sonst eher im Hintergrund wirkendes Zauberkästchen ins Offene stellen und ihm den Ehrenplatz auf der Bühne überlassen. Die stimmungsvollen Filmorte dienen nun nicht mehr der Untermalung der Gedanken und Lebensstationen berühmter Protagonisten, sondern werden selbst zu den alleinigen Hauptdarstellern. Entstanden ist dabei ein sinnlich-poetischer Filmzyklus, der auf mindestens drei Teile angelegt ist. Zwei davon sind bereits erschienen: ›Seelenlandschaften: England und Wales‹ und ›Seelenlandschaften: Schottland‹. Im Herbst 2024 wird ein weiterer Teil über die Seelenlandschaften in Deutschland folgen (der auch von einem Buch begleitet wird). Und es wäre nicht verwunderlich, wenn es am Ende einen vierten oder fünften Teil geben sollte. Zumindest scheint die kindliche Entdeckerlust des mittlerweile 70-Jährigen noch immer frisch und ungebrochen.
Wiederverkörperung und Menschenwürde
Wertvolle Orientierungshilfe
Zu Thomas Külken: ›Corona im Kontext der neuzeitlichen Bewusstseinsentwicklung‹ in die Drei 5/2023 und zum Leserforum in die Drei 6/2023 und zu Zu Bernd Brackmann: ›Warum so angepasst?‹ in die Drei 6/2023
Zu Wolfgang Knüll: ›Nahtoderfahrungen‹
Seit ungefähr 50 Jahren häufen sich Berichte von Menschen, die am Rande des Todes standen. Dies ist vor allem dem medizinischen Fortschritt zuzuschreiben, weil Lebensrettung in solchen Situationen immer öfter möglich ist. Die Berichte sind beeindruckend. Es wird deutlich: Dieser Mensch stand am Tor zur Geistigen Welt. Das Erlebte ähnelt den Darstellungen alter Einweihungen. Bereits Platon gibt in seiner ›Politeia‹ den Bericht eines Soldaten wieder, der nach einer Verletzung im Kampf zu Tode kam, vor seiner Feuerbestattung aber gerade noch rechtzeitig erwacht und von seinen Erfahrungen im Totenreich berichtet.
Um Auferstehung geht es in diesem Heft – fast ein Klischee zur Osterzeit. Doch Auferstehung setzt den Tod voraus, das milde Osterlicht folgt den trüben Wochen des ausklingenden Winters. Und so beginnen auch wir mit ein paar düsteren, dissonanten Akkorden. Zunächst kommentiert Udi Levy die jüngsten Ereignisse in Israel und den Gebieten der Palästinenser mit angemessener Verzweiflung und Ratlosigkeit, bevor Ute Hallaschka den desolaten Zustand unserer Welt zum Anlass nimmt, uns die Lektüre von Franz Kafka als Heilmittel nahezubringen.
Zum Nicht-Verstehen der Lage im Nahen Osten
Schon zu Beginn dieses Aufsatzes lässt sich ein Widerspruch nicht vermeiden. Jeglicher Bericht, der seit dem 7. Oktober letzten Jahres über dessen Folgen geschrieben wird, beginnt nämlich mit einer kurzen Wiederholung im Sinne von: »Zuerst überfielen Hamas-Kämpfer (bzw. Terroristen) israelische Siedlungen, verbrannten Häuser, töteten 1.200 Menschen und nahmen einige als Geiseln. Daraufhin überfiel das israelische Militär den Gazastreifen, hinterließ unfassbare Zerstörungen und tötete etwa 30.000 Palästinenser.« Dann folgt eine Stellungnahme, je nach Verfasser der einen oder der anderen leidenden respektive Leid erzeugenden Partei sich zuneigend. Ich wollte ja nicht so beginnen – und dennoch tat ich es.
Man könnte neuerdings jeden Tag mit einem persönlichen Wahrspruch beginnen – jetzt, wo der Zusammenbruch, ob privat oder weltpolitisch, nahezu Normalität geworden ist.Wer nicht zusammenbrechen will, muss sich aufrecht erhalten! Das wäre so ein Spruch, ohne den man kaum noch durch den Tag bis zum Abend kommt. Aber es geht auch kleiner, konkreter, bescheidener. Sich zu sagen: Bleib ein Stündchen auf dem Sofa liegen und schone aktiv deine Nerven – oder: Iss ein Häppchen und tröste deine Galle, dass sie nicht überläuft. Sich um den eigenen Körper kümmern als Seelenwächter, damit der Geist weiter darin leben kann – oder anders herum? Wie auch immer: Es ist in diesen Zeiten zur Arbeit geworden, am Leben zu bleiben. Als ein halbwegs intaktes, integres Lebewesen. Geschweige denn als schöpferisches Geschöpf. Wer das sein, bleiben und werden will, hat genug damit zu tun.
Zu Edwin Hübner: ›ChatGPT – Symptom einer technischen Zukunft‹
Der Verfasser des hier zu besprechenden Buches hat den Wunsch, dass seine Leser verstehen, wieso eine Maschine in der Lage ist, auf schwierige Fragen komplexe und sinnvolle Antworten zu geben. Um dieses Ziel zu erreichen, wird u.a. erklärt, was künstliche neuronale Netze sind, wie sie gebaut werden und wie sie funktionieren. Im Folgenden einige Sätze aus dem Kapitel ›Zur Grundidee von ChatGPT‹: »Das Prinzip ist schnell formuliert. Die Maschine hat die Aufgabe, zu einem eingegebenen Text nur das nächste sinnvoll passende Wort zu finden. Wird also bei ChatGPT eine Frage, ein sogenanntes Prompt, eingegeben, dann hat der daraufhin erfolgende Rechenaufwand nur eine einzige Aufgabe: das Wort zu finden, das die größte Wahrscheinlichkeit besitzt, den sinnvollen Anfang eines Antwortsatzes zu bilden. […] Man kann es auch so formulieren: Das Sprachmodell GPT versucht in bestmöglicher Nähe die bedingte Wahrscheinlichkeit des Wortes Wn zu bestimmen, wenn die anderen Wörter W1, W2, W3 … Wn-1 bereits vorliegen.« (S. 21)
Transhumanismus, künstliche Intelligenz und das Michaelzeitalter
Die entscheidende Frage des gegenwärtigen Michaelzeitalters ist, ob die Menschheit den Materialismus überwinden kann. Während die Anthroposophie eine Überwindung des Materialismus anstrebt, die für das gegenwärtige, am naturwissenschaftlichen Denken geschulte Bewusstsein angemessen ist, treibt ihn der Transhumanismus auf die Spitze, indem er den Menschen als ein Maschinenwesen definiert, das technisch optimiert werden soll. Dabei will er die drei Konstruktionsfehler dieser Maschine: Alter, Krankheit und Tod durch die Fortschritte in der Biotechnologie, Robotik und Nanotechnologie überwinden.
Das Faszinosum des Transhumanismus besteht darin, dass er tiefe spirituelle Sehnsüchte des Menschen, z.B. nach Unsterblichkeit, anspricht und für diese eine bequeme, materialistische Lösung anbietet, indem er ihm einen unsterblichen Leib verspricht. Die spirituelle Sehnsucht nach Unsterblichkeit der Seele wird dabei umgelenkt auf das materialistische Verlangen nach einem unsterblichen Leib.
»A gift« ist im Englischen ein Geschenk. Im Deutschen ist »Gift« eine krank machende oder tödliche Substanz. Die meisten Geschenke, die an Weihnachten ausgepackt werden, verdanken wir dem Denken. Dieses Denken ist selber ein Geschenk, das die Menschheit im Laufe der vergangenen Jahrtausende empfangen hat. Wie von der Sonne die Erde Licht und Leben empfängt, so haben wir das Denken empfangen, das erst mythische Bilder in die Seelen zauberte, wie das die Sonne am Morgen- und Abendhimmel tut – bis in Aristoteles die Sonnenstrahlen des Denkens die Erde erreichten und in sie eindrangen. Das »Lichtgeschenk« wurde zur Naturwissenschaft. In der Neuzeit mutierte diese dann aber zur »Wissenschaft schlechthin«, die für alle Erfahrungsbereiche des Menschen methodisch die Alleinherrschaft beansprucht. Wissenschaft wurde Ideologie, das »gift« wurde zum Gift, das heißt: zum totalitären Machtanspruch staatlich verwalteter Universitäten mit den entsprechenden sozialen Folgendes gelebten Materialismus.
Gibt es eine Auferstehung aus dem Tod des mechanisierten Denkens?
Wir können denken, wir wissen auch von dieser Fähigkeit, wir wissen aber nicht, wie wir denken. Wir können sprechen, von dieser Fähigkeit wissen wir auch, aber hier wissen wir ebenfalls nicht, wie wir das machen. Der heutige Erwachsene kann auf sein Bewusstsein reflektieren, aber nur auf dessen Vergangenheit. Wenn ich etwas verstehe, wird mir der Gedanke bewusst, den Prozess des Verstehens selbst erlebe ich nicht.
Auferstehungsmomente der Naturwissenschaft
Die klassische Naturwissenschaft stieß gegen Ende des 19. Jahrhunderts an Erkenntnisgrenzen, die zu überwinden einen neuen Blick auf das Verhältnis von Mensch und Welt erforderte. Mit der Quantenphysik vollzog sich ein Paradigmenwechsel, nach dem der Quaternität (Vierzahl) besondere Bedeutung zukommt. Für den Physiker Wolfgang Pauli ließen sich damit »sinnvolle Zufälle« verorten – Sinnkorrespondenzen zwischen äußeren Ereignissen und innerem Erleben, die er gemeinsam mit dem Psychiater Carl Gustav Jung fast drei Jahrzehnte lang erforschte. Um den Sinn in solchen Korrespondenzen zu begreifen, bedarf es allerdings eines lebendigen Zeitbegriffs und eines intimen Verständnissesdes viergliedrigen Menschen, der sich »seelisch umwenden« und darin zu einem wirklichkeitsgemäßen Erkennen gleichsam auferstehen kann. Das Ostergeschehen um Maria Magdalena bringt diesen Erkenntnisprozess ins Bild.
Rudolf Steiner erringt in seiner Wiener Zeit eine Anschauung über das Erkennen, die er als objektiven Idealismus bezeichnet. Diese Anschauung ermöglicht es ihm, eine in den Untergründen von Goethes Schaffen wirkende Erkenntnistheorie herauszuarbeiten. Exemplarisch für Goethes wissenschaftliche Methode ist das Anschauen der Übergänge in der Natur, das in eine künstlerische Tätigkeit übergeht. Die von Steiner entwickelte Erkenntnistheorie legt zugleich den Weg von der Natur in die geistige Welt hinein frei.
Immanuel Kant und Johann Wolfgang von Goethe haben sich beide intensiv mit dem Problem des Lebendigen auseinandergesetzt, Kant in seiner ›Kritik der Urteilskraft‹, Goethe in seiner ›Metamorphose der Pflanzen‹. Die beiden Schriften, die zeitgleich an Ostern 1790 erschienen, können als paradigmatisch für die Frage nach dem Lebendigen angesehen werden, Kant bezüglich der Zweckmäßigkeit, Goethe bezüglich der Form und ihrer Metamorphose. Rudolf Steiners Darstellungen ermöglichen es, Goethes Methode als die Lösung von Kants Frage zu erkennen.