Ein altes theosophisches Vorurteil hält die Sinneswelt für Maja. Das ist deshalb ein Vorurteil, weil es der Erfahrung widerspricht. Da aber auch Rudolf Steiner von einer Maja spricht, gerät das Bewusstsein in einen Zwiespalt: Wider die eigene, unmittelbare Erfahrung, dass ich von der sinnlichen Wahrnehmung fraglos berührt werde, soll ich annehmen, dass das alles gar nicht wirklich sei. Nun wird mancher Kenner der philosophischen Ausführungen Rudolf Steiners (z.B. der ›Philosophie der Freiheit‹) einwenden, dass die Wirklichkeit erst durch das Verbinden der Wahrnehmung mit dem zugehörigen Begriff entstehe. Weiter Geschulte werden darauf hinweisen, dass ich ohne den zugehörigen Begriff überhaupt nichts wahrnehme.
Immanuel Kant und Johann Wolfgang von Goethe haben sich beide intensiv mit dem Problem des Lebendigen auseinandergesetzt, Kant in seiner ›Kritik der Urteilskraft‹, Goethe in seiner ›Metamorphose der Pflanzen‹. Die beiden Schriften, die zeitgleich an Ostern 1790 erschienen, können als paradigmatisch für die Frage nach dem Lebendigen angesehen werden, Kant bezüglich der Zweckmäßigkeit, Goethe bezüglich der Form und ihrer Metamorphose. Rudolf Steiners Darstellungen ermöglichen es, Goethes Methode als die Lösung von Kants Frage zu erkennen.
Ich-Wille und Himmelsgaben im Denkprozess
Die allgemeine Auffassung von den Möglichkeiten und dem Wesen des Denkens beschränkt sich heutzutage fast flächendeckend auf dessen intellektuelle Komponenten – wie das Sammeln von Gedanken und Wissen, das Verfassen kritischer Analysen, das Auffinden von Kausalitäten oder das Erstellen von Meinungen und Urteilen. Spirituelle Kräfte des Denkens bleiben dabei unbeachtet, sei es aufgrund einer materialistischen Leugnung des Geistigen überhaupt oder einer Unkenntnis vom Denken als Ganzem in vielen, auch spirituell offenen Kreisen.
So widerfährt dem Denken eine Missachtung. Da für den spirituellen Fortschritt der reine Intellekt verständlicherweise als Hindernis erlebt wird, will man häufig das Denken überhaupt vermeiden. Andererseits wird wenig gezögert, den Intellekt in Form einer berechnenden Raffinesse bis zum Äußersten auszureizen, um damit egoistische Ziele wie beispielsweise wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen. Der Respekt dem Denken gegenüber ist somit weitgehend geschwunden, und so scheint es auch kein besonderer Schritt zu sein, digitale Funktionen an dessen Stelle setzen zu wollen. Auf diese Weise verliert aber der Mensch den Bezug zu seinem eigenen Denken. Es entgleitet ihm und stürzt ab. Dem Einzug von Lügen und der weit verbreiteten Fake-News sind damit alle Türen geöffnet.
›evolving science‹ – Internationale Tagung der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum
Zur Aktualität der Kabbala im Israel der Gegenwart
Im Jahre 2006 fand in Winterthur unter dem Titel ›Das jüdische Winterthur‹ eine Ausstellung statt. Ich wurde dem Präsidenten der dortigen »israelitischen Gemeinde« – der Begriff »jüdische« wird auffälligerweise umgangen – auf der Vernissage vorgestellt. Er lud mich zum bevorstehenden Passahfest ein. Eine gemeinsame Bekannte war dabei und sagte daraufhin zu ihm: »Lass ihn in Ruh’, er ist Israeli!« Eine Schweizer Kultur- und Religionsgemeinde nennt sich also »israelitisch«, betrachtet jedoch die eigentlichen Israelis als in religiösen Fragen ignorant, uninteressiert und ohne Glauben. Dann hielt eine Rabbinerin(!) der konservativen Bewegung – die behauptet fortschrittlich und nicht orthodox zu sein – einen Vortrag. Sie lehnte es strikt und kategorisch ab, meine anschließende Frage zu beantworten, ob sie etwas über die Messiaserwartung im Judentum sagen könne. Wollte sie diese Frage mit einem Israeli nicht diskutieren? Im Nachhinein meinte ich etwas verstanden zu haben: dass die Beziehung der Menschen jüdischer Herkunft zu Religion, Transzendenz und Mystik in Europa eine andere ist als in Israel. Und dass es – jenseits von gegenseitigen Vorurteilen und unbegründeten Ansichten – interessant wäre, einmal den Versuch zu wagen, diese Differenzen und deren Entstehung zu untersuchen.
Eine einführende Betrachtung zur Kymatik
Der folgende Artikel geht von der Gestaltungskraft der Töne aus, die seit mehr als 200 Jahren erforscht wird. Er widmet sich insbesondere dem Maler, Arzt und Naturwissenschafter Hans Jenny (1904 -1972), der eine feine Beobachtungsgabe für diese Gestaltungskraft in der Natur ausgebildet hatte und ein Phänomen entdeckte, welches er als ›triadisches Urphänomen‹ bezeichnete. Sowohl beim mechanisch als auch beim elektronisch und bei vom menschlichen Kehlkopf erzeugten Ton tritt immer eine Dreiheit von Gestalt, Rhythmik und Dynamik in Erscheinung. Diese Erscheinungen sind jedoch von ganz unterschiedlicher Qualität. Die von Hans Jenny begründete Wissenschaft der Kymatik erforscht diese Qualitäten. An dieser Forscherpersönlichkeit wird sichtbar, wie Wissenschaft und Kunst sich für ein lebendiges Erfassen der Welt gegenseitig befruchten können.
Über das Verhältnis von Wissen, Wahrnehmung und Handlung vom Gesichtspunkt der Waldorfpädagogik
In der Rezeption der Waldorfpädagogik spielen deren charakteristische Methoden, die Verwendung spezifischer Materialien und wohl auch die Haltung der Pädagogen eine überragende Rolle. Dies gilt nicht minder für die − von Rudolf Steiner als Vertiefung der Pädagogik verstandene – Heilpädagogik. Die anthropologischen Grundlagen bleiben in der Rezeption demgegenüber zurück. Dennoch konstatieren waldorfpädagogisch orientierte Forscher und Praktiker seit langem, dass nicht nur zahlreiche Praxiselemente der WaldorfpaÅNdagogik ins allgemeine Schulsystem übernommen werden, sondern sich auch genuine und grundlegende Gedanken der anthroposophischen ›Menschenkunde‹ in zeitgenössischen Konzepten wiederfinden, welche zudem durch empirische Ergebnisse bestärkt werden.
Mit Paul Celan in der Kabbalisten-Stadt Safed
Eines der spannendsten Fotos, das ich bei den Recherchen zu meinem Film ›Gottes zerstreute Funken. Jüdische Mystik bei Paul Celan‹ sah, zeigte den Dichter vor den Gräbern großer Kabbalagelehrter in Safed. Celan hatte 1969 während seiner Israelreise einen Abstecher in dieses spirituelle Zentrum gemacht, um das Grab des Mystikers Isaac Luria (1534–1572) zu besuchen, der im 16. Jahrhundert eine völlig neue Deutung der Kabbala vorgelegt hatte. Auch mich hatte Lurias Interpretation schon lange fasziniert, und erst die Entdeckung, dass Celan davon beeinflusst war, führte zu der Entscheidung, einen Film über diesen von Tragik umwölkten Dichter zu riskieren. Ich hatte die Lurianische Kabbala über die Kunst von Anselm Kiefer kennengelernt, zuerst über geheimnisvolle Bildtitel wie ›Bruch der Gefäße‹, ›Zimzum‹, ›Schechina‹ und ›Sefiroth‹. Dann durch die Kabbalastudien von Gershom Scholem, die mir diese Begriffe verständlicher machten, mit denen Luria versucht hatte, die brutale Vertreibung der Juden aus Spanien mit seinem Gottesbegriff zusammenzudenken. Gott, so seine Hypothese, muss sich bereits am Anfang der Schöpfung zurückgezogen haben, um die freie Entwicklung der Welt nicht zu gefährden (Zimzum). Seine wenigen Lichtstrahlen waren aber immer noch so mächtig, dass die ersten Seinsformen (»Gefäße«) zerbrachen und ihre Scherben von nun an durch das All schwirrten (Shevirat Ha kelim). An ihren Rändern aber kleben noch göttliche Lichtfunken, die der spirituell Suchende einsammeln und neu zusammensetzen kann, im Akt des Tikkun, was übersetzt »Reparatur der Welt« heißt.
Das Transfigurative in der byzantinischen Spiritualität
Der 6. August ist der Tag, an dem die Transfiguration, die Verwandlung – metamórphôsis im Griechischen – Jesu Christi am Berg Tabor gefeiert wird. Immer wieder, wenn ich an dieses Ereignis denke, erlebe ich im Gedächtnis mein Gespräch mit dem 2010 unerwartet verstorbenen Pater Kosmas, das ungeplant während einer Exkursion in Kalabrien stattfand. Pater Kosmas war ein Mönch vom Berg Athos, der nach einem Auftrag seines spirituellen Lehrers – des in der orthodoxen Welt berühmten Pater Paisios – das halb verfallene byzantinische Kloster des Heiligen Johannes Theristís (des Schnitters bzw. Mähers) in Bivongi (Süd-Kalabrien) wieder beleben wollte. Während unseres Gesprächs sagte er, dass er diesen Schritt wagen wollte, damit Ost und West durch die Wirkung einer noch lebendigen Spiritualität sich wieder begegnen können. Das ionische Meer solle Europa nicht mehr trennen, sondern verbinden, so wie es jahrhundertelang durch die griechische Kultur geschah.
Wilhelm von Humboldts Bildungsideal, seine Staatsidee und sein politisches Wirken
Der Humboldt-Forscher Clemens Menze hat in seiner 1965 erschienenen grundlegenden Arbeit über ›Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen‹ geschrieben, dass Humboldts Gesamtwerk nichts anderes sei als der großangelegte Versuch, eine Wissenschaft vom Menschen zu begründen. Der letzte Gesichtspunkt, der sein Denken bestimmt habe, sei die Menschenbildung auf der Grundlage der philosophisch-empirischen Menschenkenntnis gewesen.
Eine Betrachtung zum Impuls des Johannes-Markus
Am 20. Januar 1479 begibt sich der berühmte Diplomat Giovanni Emo nach Udine, um dort als Statthalter von Venedig zu wirken. Mit sich bringt er das Geschenk, das er von Sultan Mehmed II. dem Eroberer am Ende von nicht so glücklichen Friedenverhandlungen bekommen hat, die zwischen 1474/75 stattgefunden haben: Der legendenhaft gewordene Eroberer von Konstantinopel hat ihm eine Marien-Ikone geschenkt, die im Kaiserpalast von Konstantinopel aufbewahrt wurde und Mariens Gesichtszüge getreu darstellen soll. Zunächst bewahrt Giovanni Emo die Ikone bei sich im Schloß von Udine, dem Sitz des Statthalters, nach einem mit ihr verbundenen Wunder lässt er sie jedoch am 8. September 1479 - am Fest von Mariens Geburt - zur Kirche der Heiligen Gervasius und Protasius verlegen. Die intensive devotionale Bewegung, die sich um dieses Bild rasch entwickelt, führt dazu, eine größere Kirche zu bauen, und diese größere, Madonna delle Grazie (Maria der Gnaden) genannte Kirche bewahrt noch heute die Ikone aus Konstantinopel. Die hier betrachtete, vielleicht im 14. Jahrhundert gemalte Ikone ist nicht nur deshalb eine besondere, weil sie aus dem Kaiserpalast in Konstantinopel stammt. Eine viel wichtigere Besonderheit liegt darin, wie sie - als älteste und in dieser Form womöglich einzig erhaltene - die Maria darstellt. Das sonst verbreitete Motiv der Maria als stillende Mutter (griech. galak-totmphousa, latein. lactans), welches an das ägyptische Bild der den Horusknaben stillenden Isis ankniipft - wird hier nämlich dadurch vertieft, dass Maria in der linken Hand eine goldene Kose hält. Diese Kose in der Herzenshand hebt genau die Herzgegend Mariens hervor und wirkt gleichsam als Urbild der auf derselben Linie liegenden rechten Brust, an der das Kind trinkt, die eigene Herzenshand der Kose entgegenstreckend.
In dem michaelischen Zeitalter, in dem wir leben, geht es einerseits darum, das eigene Denken zu verlebendigen und zu spirrtualisieren. Es geht aber genauso dringlich darum, die Sinneswahmehmungals etwaszu schulen undzu erleben, in dem auch das Seelische der Welt mitschwingt. Mit dem Vollziehen des von Steiner so genannten »Lichtseelenprozesses«, wird Stück um Stück der Materialismus unserer Zeit überwunden. Die Wandlung der Welt fangt bei jedem einzelnen Menschen an.
Wirkungen auf die Wesensglieder des Menschen
Die Wirkung der Meditation auf die Gesundheit des Meditierenden ist zwar bekannt, jedoch noch weitgehend unerforscht. Gesundheitsfördernde Wirkungen werden in verschiedenen Meditationsrichtungen propagiert; doch läuft die meditative Praxis auf diese Weise Gefahr, ihrem spirituellen Kontext entfremdet zu werden. Dieser spirituelle Zusammenhang ist bei der anthroposophischen Meditation indes entscheidend. Auf der Basis eines spirituellen Menschenbildes lassen sich dann verschiedene Wirkungen auf die Wesensglieder des Menschen aufzeigen.
Bausteine zu einer anthroposophisch inspirierten Psychotherapie
Juni 2013 erschien in der anthroposophischen Zeitschrift ›Merkurstab‹ ein Artikel von mir zu Wegen für Psychotherapeuten, die eine meditativ orientierte Vertiefung ihrer therapeutischen Arbeit im Sinne des gegenwärtig wirkenden Christuswesens suchen wollen. Während ich in diesem Artikel umfassend und grundsätzlich auf Meditation als Therapieinstrument zu schauen versuchte, stelle ich hier eine Form meditativ orientierter Diagnostik vor. Sie ist von mir zwar ursprünglich für psychotherapeutische Klienten angewandt worden, kann aber, so denke ich, auch anderen Therapeuten hilfreich sein, die helfend und heilend mit der Beziehung der menschlichen Seele zwischen Körper und Geist umgehen.
Persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse
Der vorliegende Text besteht aus zwei Teilen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden sind. Der erste stammt aus dem Sommer 2021 und blickt aus der damaligen Perspektive auf das pandemische Geschehen, den gesellschaftlichen Umgang damit und die eigenen Erfahrungen des Autors zurück. Der zweite wurde im Herbst desselben Jahres verfasst, nachdem der Autor an Covid-19 erkrankt war. Zusammen ergeben sie ein persönliches Bekenntnis, das keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit oder Allgemeingültigkeit erhebt, sondern als Gesprächsbeitrag verstanden werden will.
Zunächst eine Beobachtung: 1988 war ich für 14 Tage nach Japan eingeladen, um dort in den Waldorf-Kindergärten Vorträge zu halten. Auf vielen Zug- und Straßenbahnfahrten zwischen und in den verschiedenen Städten freute ich mich, wie viele Japaner lasen und sich während der Fahrt unterhielten. 2006 – 18 Jahre später – hatte ich im Rahmen der Internationalen Ärzteausbildung wieder in Japan zu tun. Jetzt bot sich mir ein anderes Bild: Die meisten Passagiere schliefen oder schauten vor sich hin. Deutlich weniger waren mit ihren Smartphones, einer Zeitung oder Ähnlichem beschäftigt. Es dauerte eine Weile, bis mir bewusst wurde, dass diese kollektive Müdigkeit evtl. mit der Zunahme des Elektrosmogs durch die massenhafte Ausbreitung der Mobiltelefone zusammenhängen könnte. Müdigkeit ist eine unspezifische Symptomatik, die anzeigt, dass die regenerativen Möglichkeiten des Körpers unter Stress stehen und nicht mehr genügen. Entsprechend sind ja auch »Müdigkeit und das Gefühl der Abgeschlagenheit« eine typische Symptomatik, die der Diagnose schwerer Erkrankungen oft schon über einen längeren Zeitraum vorausgegangen sind.
In Gegenwart einer Apokalypse
Philosophie wird nur dann eine sinnvolle Zukunft erleben, wenn sie in Zeiten der Krise jenseits aller einlullenden Diskurse jene Fragen mutig zuspitzen wird, die das Menschsein in seinen lichtvollen Höhen und warmen Tiefen offenbaren können. Gerade in unserer Gegenwart, die das Menschliche in die Hölle einer hypertechnisierten, alle seelischen sowie geistigen Höhen und Tiefen gleichschaltenden Überwachbarkeit immer mehr zu versenken scheint, ist Philosophie zu jenem Redemut und jener Redefreiheit, zu jener parrhesía zutiefst verpflichtet, die Sokrates urbildhaft mit der authentischen Sorge um den Menschen als geistiges Wesen verband. Dabei geht es nicht darum, rhetorische Anklagen zu erheben, sondern – im Zusammenklang mit Sokrates – wohlwollend streng und provokant zu Fragen anzuregen, die Schwellen zu einer durch Freiheit und Liebe getragenen Verwandlung des Bewusstseins, d.h. – Rudolf Steiners Ausdruck aufgreifend – zur moralischen Phantasie öffnen können. Es geht, anders gesagt, um die Menschenwürde, deren Beachtung in der physischen, seelischen und geistigen Begegnung mit allen Menschen – selbstverständlich auch mit denen, welche die Menschenwürde ausblenden oder sogar vernichten möchten – als goldener Keim der stimmigen Gemeinschaftsbildung wirkt.
Eine ganzheitliche Anschauung der Gestalt und Evolution des Menschen und der Tiere
Seit dem 29. September 2018 wurde und wird an verschiedenen Orten in Deutschland1 die Ausstellung ›Metamorphose Mensch & Tier‹ gezeigt, die überall auf reges Interesse stößt. An etlichen Beispielen stellt sie Rudolf Steiners Idee dar, dass in der menschlichen Gestalt die Urform der Tiere erscheint und dass nicht der Mensch von den Tieren, sondern – geistig gesehen – diese von ihm abstammen. Methodisch geht es um ein »Lesen im Buch der Natur« anhand einer Methode, welche die Naturformen wirklich verständlich machen kann.
Zur Bedeutung der »charakterologischen Veranlagung« in Rudolf Steiners ›Philosophie der Freiheit‹
»Michael muß uns durchdringen als die starke Kraft, die das Materielle durchschauen kann, indem sie im Materiellen zugleich das Geistige sieht«1 - Rudolf SteinerMit Eduard von Hartmanns Hinweis auf die determinierende Kraft charakterlicher Verschiedenheiten der Menschen führt Rudolf Steiner im I. Kapitel der »Philosophie der Freiheit« einen Freiheitsgegner an, der sich von den Auffassungen der großen Masse ihrer Gegner unterscheidet. Denn diese halten es für prinzipiell unmöglich, die Naturkausalität auf dem Gebiete menschlichen Handelns unterbrochen zu denken. ...
Bilder einer gegenwärtigen Alchemie
Die mittelalterliche Kirche der Heiligen Gervasius und Protasius in Nimis - in der Provinz Udine, unweit von Cividale, der Hauptstadt des ersten langobardischen Herzogtums in Italien - birgt ein sehr bemerkenswertes Bild Michaels aus dem 14. Jahrhundert. Deshalb sehr bemerkenswert ist das Bild, weil es, soweit mir bekannt, einmalig in so wirksam verdichteter Form die zwei Hauptmotive der Michael-Ikonografie in einer einheitlichen Komposition zusammenklingen lässt: Der Kampf gegen den Drachen bzw. Teufel und die Seelenwägung (Psychostasia), die das Schicksal der Seele im nachtodlichen Leben entscheidet. Die intime geistige Verbindung der zwei Motive wird in diesem Bild durch die Tatsache offenbar, dass Michaels Speer und der Balken der Waage Michaels zusammen ein Andreas-Kreuz, ein X bilden, was wiederum auf eine tiefe alchemistische Symbolik hinweist: Auf das bis ins Physische offenbare geistige Licht, das durch das vollkommene Maß der pythagoreischen Vierheit bzw. Zehnerschaft offenbar wird, sowie auf jene Substanz, Sal Ammoniacum, die als Vermittlerin zwischen Wasser und Feuer, Himmel und Erde, Geist und Leib wirkt, ferner auf das Glas als kristallklarem Stoff, der sich der Vollkommenheit am stärksten annähert.
Mitte September 2017 öffnete das ›Haus der Zukunft‹, auch ›Futurium‹ genannt, ein in futuristischem Stil erbautes Gebäude in Berlin neben dem Hauptbahnhof, zum ersten Mal – für einen Tag – seine Türen. Dem auffallend großen Zustrom von interessierten Menschen bot man in schlichten Räumen und Sälen ein vielseitiges Programm mit wissenschaftlichen Vorträgen, Kunstdarbietungen, Ausstellungen, Diskussionsmöglichkeiten, Spielecken etc. an. Ökologische Untersuchungen, psychologische Befragungsergebnisse und zeitgeschichtlich-philosophische Betrachtungen betonten die Verantwortung der Menschheit für die Zukunft. Sie wiesen hin auf Entscheidungsnotwendigkeiten in vielen Bereichen und verdeutlichten die Einsicht, dass im heutigen, »anthropozänen« Zeitalter der Mensch derjenige ist, der die Zukunft der Erde bestimmt. Zugleich wurde an verschiedenen Stellen eingeräumt, dass wir alle nicht wissen können, wie diese Zukunft aussehen wird – trotz aller grenzenlosen digital-technischen Innovationsphantasien; für welche die Roboterband, die am Abend auftrat, als Beispiel stehen kann.
Was bedeutet es für die anthroposophische Arbeit, den Karmagedanken ernstzunehmen?
Mit dem Entschluss Rudolf Steiners, sich auf der Weihnachtstagung 1923/24 bis hin zur äußeren Verwaltung in die Anthroposophische Gesellschaft voll verantwortlich hineinzustellen, war eine bittere Konsequenz verbunden: Einer Aussage Marie Steiners zufolge hatte er dadurch das Karma der Anthroposophischen Gesellschaft auf sich genommen. Rudolf Steiners persönliches Schicksal ist somit engstens mit dem jener Menschen verkettet, die sich damals mit der anthroposophischen Sache verbunden haben.
Reinkarnation und Karma in der Novelle ›Die schwarze Spinne‹ von Jeremias Gotthelf
Hin und wieder taucht heutzutage der Gedanke an Reinkarnation und Karma – zu Deutsch: an Wiederverkörperung und selbst geschaffenes Schicksal – in der Öffentlichkeit auf, allerdings oft ohne echte Vertiefung und geistigen Hintergrund. So heißt z.B. ein 2008 erschienener Roman ›Mieses Karma‹. Darin geht es um mehrmalige Erdenleben einer Protagonistin, die nach ihrem frühen Tod ungute Taten zunächst als Tier und schließlich wieder als Mensch in erneuten Inkarnationen ausgleichen muss. Hier werden Aspekte von Reinkarnation und Karma miteinem gewissen moralischen Impuls in eine unterhaltsame Handlung gebracht. Im Allgemeinen kommt solchen Gedanken in der westlichen Welt aber keine große Bedeutung zu, man verortet den Glauben an wiederholte Erdenleben weiterhin vorangig in östlichen Religionen. Noch ist wenig bekannt, dass es auch in der deutschen Geistesgeschichte verschiedene Beispiele aus allen Zeiten dafür gibt – und zwar mehr, als man vermuten sollte. Sie sind allerdings größtenteils nicht Zeugnisse konkreter Kenntnis geistiger Zusammenhänge, sondern eher Andeutungen, Ahnungen oder Mutmaßungen. Rudolf Steiner erläutert, dass man im 18. Jahrhundert, in dem die Theosophie an Wirkmächtigkeit verlor, die Tatsache wiederholter Erdenleben nicht gekannt habe, und im 19. Jahrhundert sei eine weitere »Abwendung von den spirituellen Welten« eingetreten.
Der eigene Sprachgebrauch als Zeichen im menschlichen Miteinander
Aussagen wie »Das ist nun einmal so« oder gar »Das war schon immer so« hatten noch nie eine überzeugende Auswirkung auf mein Verständnis der Dinge – und wenn das doch in früher Kindheit einmal anders gewesen sein sollte, so haben die ca. 17 Jahre institutioneller Waldorfprägung in meiner Kindheit und Jugend hiermit ein für alle Mal Schluss gemacht. Dinge zu hinterfragen, vorhandene Systeme und Institutionen kritisch zu betrachten, dominanten Diskursen skeptisch zu begegnen – wenn es etwas gibt, das ich aus meinem anthroposophischen Elternhaus und der Zeit als Waldorfschülerin mitgenommen habe, dann das! Mit dieser dem scheinbar »Normalen« gegenüber grundlegend kritischen Haltung geht aber auch ganz klar eine ebenso entscheidende affirmative Überzeugung einher: Eine Bejahung gegenüber dem Anderen, ein Bemühen um Inklusion mir auf den ersten Blick vielleicht fremder Lebensrealitäten, ein gewisses Vergnügen am Umgang mit allen, die sich in ihrer Haltung, ihren Überzeugungen und, ja, auch in den vielen Facetten der menschlichen Identität als Abweichende, als Freaks, eben als anders und unangepasst verorten (lassen). Vor allem aber durfte ich in dieser waldorfgeprägten Kindheit Respekt und ein fortwährendes Bemühen um Verständnis für mein Umfeld und die gelebte Diversität (in der Umwelt ebenso wie in der menschlichen Gesellschaft) entwickeln. Und das gilt auch, wenn diese Haltung doch manchmal an ihre Grenzen gerät, nämlich immer dann, wenn ich Menschen begegne, die sich bewusst dafür entscheiden, es an diesem in meinen Augen unabkömmlichen Respekt gegenüber anderen Menschen fehlen zu lassen.
Zur phänomenologischen Bildbetrachtung
Die Bezeichnung »Phänomenologie« stammt aus der Philosophie und umfasst eine Vielzahl zum Teil sehr komplexer theoretischer und methodischer Ansätze, die sich mit Namen wie Edmund Husserl, Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty und vieler anderer verbinden. Auf diese philosophischen Strömungen werde ich hier nicht eingehen. Es scheint mir jedoch gerechtfertigt, von »phänomenologischer Bildbetrachtung« zu sprechen, wenn ich eine Vorgehensweise meine, die von den sichtbaren Phänomenen ausgeht und die Aufmerksamkeit zudem auf die anschauende Erfahrung richtet. Dass eine Bildbetrachtung vom Sichtbaren ausgehen sollte, scheint selbstverständlich zu sein, und doch fällt es vielen Menschen schwer, sich auf dieses Sichtbare tatsächlich einzulassen. Wenn wir einem Gemälde gegenüberstehen, wollen wir es verstehen; wir heben es, Bilder zu interpretieren und ihre »Hintergründe« - ob historische, biografische, symbolische oder weltanschauliche - zu beleuchten. Hierbei gehen wir häufig von der Prämisse aus, dass das Bild eine begrifflich fassbare »Botschaft« vermittelt, und so setzen wir all unsere gedanklichen Bemühungen ein, um diese Botschaft zu entschlüsseln.
Zur Gnosis in Spätantike und Gegenwart
Das 20. Jahrhundert gab, bei all seinen abgründigen, schier endlosen Verfinsterungen, doch auch Aussichten frei auf Vergangenheiten, auf die nun – durch entsprechende Entdeckungen – ganz neues, helles Licht fallen kann. Die Existenz von Essenern oder Therapeuten, von Manichäern und eben auch frühchristlichen Gnostikern war immer schon, aus spätantiken Überlieferungen, leidlich bekannt. Dann aber kamen, durch Forschungsexpeditionen oder Zufallsfunde, zahlreiche Schriftrollen und Kodizes ans Licht, welche die Sprache jener religiösen Gruppen unverfälscht wiederzugeben versprachen: Manichäisches fand sich im zentralasiatischen Turfan und in Dunhuang (1902-1913) wie auch im ägyptischen Terenouthis nahe Medinet Madi (Ende der 1920er Jahre); Essenisches im heute israelisch-palästinensischen Qumran am Toten Meer (1947-1956); Zeugnisse dann auch der christlichen Gnosis in der Nähe des ebenfalls ägyptischen Nag Hammadi (1945/46).
Versuch einer Rekonstruktion und zugleich ein Beitrag zum »Lesen« Rudolf Steiners – Teil II
Im ersten Teil dieses Beitrags wurde skizzert, wie Rudolf Steiners rätselhafte, zum Teil auch widersprüchliche Schilderungen der Hybernischen Mysterien zu lesen sein könnten. Versucht man, wie dort angedeutet, Steiner so zu lesen, dass nicht das geschilderte Bild selbst die Wirklichkeit ist, sondern die dahinterstehenden Erlebnisse dasjenige sind, um das es in den Einweihungen ging, so kann man mit diesem imaginativen Blick Zeugnisse dieser Kultur in Hybernia, d.h. im fernen Westen und Nordwesten Europas finden. Einer dieser Orte sind die Orkney-Inseln im Norden Großbritanniens.