Zu Bron Taylor: ›Dunkelgrüne Religion‹
Vor allem durch drei Aspekte fasziniert das Buch ›Dunkelgrüne Religion‹ des amerikanischen Religionswissenschaftlers Bron Taylor: es hat nicht nur einen wunderschönen Titel, sondern beschreibt auch spannend die in Deutschland wenig bekannte Geschichte naturreligiöser Bewegungen in den USA und skizziert eine »vernunftgestützte« Spiritualität der Zukunft, die auch an Erkenntnissen der Wissenschaft orientiert sein sollte.
Zu Bernd Rosslenbroich: ›Properties of Life‹
»Was also ist das Leben?« Mit dieser Frage beschäftigt sich das neueste wissenschaftliche Buch von Bernd Rosslenbroich, Leiter des Instituts für Evolutionsbiologie der Universität Witten/Herdecke. Man könnte darin eine Abwandlung der Frage des Augustinus nach dem Wesen der Zeit sehen, auf die der Kirchenvater geantwortet hat: »Wenn keiner mich fragt, weiß ich es; wenn einer mich fragt und ich es erklären soll, weiß ich es nicht mehr.« Denn so ist es mit dem Lebendigen: Wir kennen es selbstverständlich und intuitiv, aber um eine befriedigende wissenschaftliche Erklärung ringt die Biologie seit über 2.000 Jahren.
Zum 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich (5. September 1774 in Greifswald – 7. Mai 1840 in Dresden)
Greifswald, die Stadt am Meer. Hier wurde vor 250 Jahren Caspar David Friedrich, der bedeutendste Künstler der deutschen Romantik, geboren. Ich kenne Greifswald aus den 60er Jahren; es ist ein Wiedersehen nach langer Zeit. Doch au.er der markanten Silhouette der Kirchen – Marienkirche, Dom St. Nikolai und Jakobskirche – ist die Stadt kaum wiederzuerkennen. Aus einer grauen, fast verfallenen Altstadt durch Renovierung und Restaurierung auferstanden, ist sie so schön wie nie zuvor.
Zu Markus Sommer u.a.: ›Plastisch-therapeutsches Gestalten‹
In seinen Händen lebt der Mensch von Anbeginn so, wie er die Welt ergreift und begreift. In unserer Zeit, in der die Menschen mit ihren Fingerspitzen Glasscheiben betasten, um durch elektrisch leuchtende Zeichen ihre Wege, ihre Heilmittel und ihre Orientierung zu finden, tritt ein schweres, gewissermaßen aus feuchtem Ton geborenes, aber hellwach und einfühlsam geschriebenes Buch ans Licht und sagt: »Ergreife Erde und gestalte sie!« Gegen Ende des Buches heißt es zusammenfassend: »Schon das bloße Ergreifen und plastische Gestalten von Substanz kann therapeutisch wirksam sein. So wurden schwer beeinträchtige, neurologisch erkrankte, an Schlaganfällen sowie an Epilepsie leidende Patienten im Rahmen einer Studie gebeten, einen Klumpen Ton frei zu gestalten. Dabei zeigte sich, dass allein durch ein solches unsystematisches schöpferisches Tun und das Erfahren von Selbstwirksamkeit eine signifikante und anhaltende Besserung ihres Befindens bewirkte, was auf der Beck Hopelessness Scale (BHS) als signifikanter Therapieeffekt dokumentiert werden konnte.« (S. 294)
Zur Pfingsttagung ›Neue Wege‹ in Budapest anlässlich des 100. Geburtsjahres von Georg Kühlewind
Man traf sich vom 17. bis zum 19. Mai 2024 in Budapest, der Geburtsstadt Georg Kühlewinds, in den großzügigen Räumen einer Schule an einem grünen Hang über der lebhaften Stadt. Eine pfingstliche »hohe Zeit« war es, ein wahres Fest – des gemeinsamen Übens, der Begegnungen mit alten Freunden, des Entstehens neuer Freundschaften und der Besinnung auf di zukunftsweisenden Impulse, die Georg Kühlewind mit seinem Lebenswerk gegeben hat. Und der »Zufall« wollte es, dass wir uns dabei in der Nähe des Hauses befanden, wo er über etliche Jahre mit Freunden meditiert hatte.
Wenn ein Kind auf die Welt kommt, dann hat es ein natürliches Vertrauen, ein »Urvertrauen« zu seinen Eltern. Das kleine Kind kennt eine Zeit lang noch keine Angst. In ihm tritt ein geistiges Wesen in die geformte Welt seines Leibes, lebt aber noch im Urvertrauen zu seinem Ursprung, zur geistigen Welt. Erst durch die Bildung der Seele, dem Bindeglied zwischen Leib und Geist, lernt es die Angst und später auch den Zweifel kennen.
Vom Eros des Denkens
Es gibt ein schöpferisches Verstehen, ein kreatives Anschauen, das nichts zu tun hat mit Interpretation. Darin sind sich zwei so unterschiedliche Geister wie Bertolt Brecht und Rudolf Steiner einig. Brecht: »›Was tun Sie‹, wurde Herr K. gefragt, ›wenn Sie einen Menschen lieben?‹ ›Ich mache einen Entwurf von ihm‹, sagte Herr K., ›und sorge, da. er ihm ähnlich wird.‹ ›Wer? Der Entwurf?‹ ›Nein‹, sagte Herr K., ›der Mensch.‹. Und Steiner: »Man sagt: die Liebe mache blind für die Schw.chen des geliebten Wesens. Die Sache kann auch umgekehrt angefaßt werden und behauptet: die Liebe öffne gerade für dessen Vorzüge das Auge. Viele gehen ahnungslos an diesen Vorzügen vorbei, ohne sie zu bemerken. Der eine sieht sie, und eben deswegen erwacht die Liebe in seiner Seele. Was hat er anderes getan: als von dem sich eine Vorstellung gemacht, wovon hundert andere keine haben. Sie haben die Liebe nicht, weil ihnen die Vorstellung mangelt.«
Eine Gegenbewegung – Zweiter Teil
Ich wache mitten in der Nacht auf. Da ist Geschmack von Blut in meinem Mund. Ich weiß sofort, was das bedeutet. Ich schlage die Decke weg, huste. Obwohl es dunkel ist, sehe ich den Auswurf. Ich habe es im Blut. Sagt man doch. Es bedeutet, dass man »es« mit seinem Ich verbunden hat, dass es einem gehört, als Fähigkeit, an die man sich immer erinnern wird. Ich besitze die Fähigkeit, mich krankzumachen und mich zu heilen.
Gedanken über einen althochdeutschen Text aus den mittelalterlichen Schreibstuben des Klosters Reichenau
Aus der Mitte des 10. Jahrhunderts ist das anonyme Text-Fragment eines althochdeutschen Textes auf ratselhafte Weise aus einem der Skriptorien (Schreibstuben) des Klosters auf der Bodenseeinsel Reichenau auf uns gekommen. Es handelt sich um eine poetische Fassung von Joh 4,1-42, der Begegnung Jesu mit einer samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen in Sichem. Und so könnte es gewesen sein: Ein Bruder aus dem Orden des Hl. Benedikt im Kloster auf der Reichenau ging an einem uns unbekannten Tag um die Mitte des 10. Jahrhunderts nach der mittäglichen Ruhe wieder in das Skriptorium zu seiner Arbeit, dem Abschreiben eines trockenen historischen Textes, der ›Lorscher Annalen‹ (Annales Laureshalmenses‹), einer Aufzählung von Ereignissen aus der Zeit Karls des Großen.
Wie war dieser Bau gemeint?
Es ist bekannt, dass der Bau des zweiten Goetheanums nicht in jener Höhe errichtet werden konnte, die dem ursprünglichen Entwurf Rudolf Steiners entsprach. Doch welche Höhe war vorgesehen und wichtiger noch: Wie hätte der Bau dann gewirkt? In dieser Frage hatte ich mich immer an das von Rudolf Steiner gefertigte Baumodell bzw. seinen Gipsabguss gehalten. Günstige Umstände hatten mir erlaubt, von diesem Modell Fotos in einer dem realen Baueindruck entsprechenden Perspektive zu machen. Sie lassen eine Aufrichtekraft erkennen, die dem schließlich entstandenen Bau entschieden abgeht.
Otto Heinrich Jaeger und seine Freiheitslehre
Mit dem Siegeszug der modernen materialistischen Naturwissenschaften und ihrem Durchsetzen als alleinige Erklärungsinstanz gerieten jene Denker in Vergessenheit, dieals Nachfolger, Fortsetzer und Überwinder des Idealismus von 1820 bis 1860 auftraten und eine Brücke zur Anthroposophie hätten bauen können. Rudolf Steiner spricht indiesem Zusammenhang von einem »verschütteten Geistesleben«1. Der vorliegende Aufsatz widmet sich den Gedanken des Philosophen Otto Heinrich Jaeger (1828–1912) undbeleuchtet insbesondere seinen Freiheitsbegriff sowie seinen Reihenbegriff, wie sie sich im Verlauf seines geistigen Weges bildeten.
Warum wir »geistige Monokulturen« überwinden müssen
In den letzten 200 Jahren hat sich eine sehr einseitige Art des Denkens über die Natur und das soziale Leben herausgebildet. Dieses Denken hat Folgen, die zur Bedrohung fürunsere Gesundheit und die gesamte Welt werden. Der folgende Artikel sucht nach Wegen, auf denen wieder eine größere Vielfalt auf verschiedenen Ebenen des Lebens möglich wird. Dabei erscheint Diversität immer mehr als eine Quelle der Gesundheit.
Über die Philosophie von Édouard Glissant und das künstlerische Werk von Régis Granville
Die Überwindung eurozentrischer kolonialer Denkweisen und Machtstrukturen dauert an. Dabei handelt es sich nicht allein um eine politische Angelegenheit, sondern um die menschheitliche Aufgabe, das zukünftige Zusammenleben auf der Erde neu zu gestalten. Modellartig leuchtet die kreolische Kultur auf, die aus dem Zusammenkommen verschiedener Ethnien, Sprachen und Lebensarten in der Karibik entstanden ist und die sich sehr wahrscheinlich weltweit ereignen wird. Die Kreolisierung offenbart sich, indem über das Vergangene und Tradierte hinaus nach zukünftigen Lebensgestaltungen gesucht wird. Die Philosophie von Édouard Glissant und das künstlerische Werk von Régis Granville rufen facettenreich Ideen für eine postkoloniale und zukunftsbewusste Lebensweise wach. Der folgende Essay basiert auf einer Spurensuche auf der Antilleninsel Martinique.
Ideologie und Fakten - Teil II
Der Umgang mit dem Begriff »Rassismus« verdient an dieser Stelle eine Klärung. Gegenwärtig wird er häufig pauschal und nicht selten populistisch verwendet; wie beispielsweise der Kampfbegriff des »Kommunismus« in Zeiten des Kalten Krieges, vor allem in der McCarthy-Ära. Damals stand schnell unter »Kommunismus «-Verdacht, wer eine allzu liberale Haltung gegenüber der Sowjetunion einnahm, soziale Gerechtigkeit forderte, sich nicht eindeutig von früheren, linken Aktivitäten distanzierte oder einfach nur »falsche« Bekanntschaften geschlossen hatte. In ähnlicher Weise kann heute der Gebrauch eines »falschen« Wortes im »falschen« Kontext als »Rassismus« gewertet werden. Nuancierte Beschreibungen für unpassendes Verhalten, Unhöflichkeit, Vorurteile, Unbildung, Missverständnisse oder situativen Zorn werden häufig nicht Erwägung gezogen.
Zur gegenwärtigen Aufarbeitung der Corona-Politik – Teil II
Im ersten Teil dieses Artikels habe ich mich mit einem im Januar 2024 von dem deutschen Soziologen Klaus Kraemer an der Universität in Graz veranstalteten Podiumsgespräch beschäftigt, an dem auch der in Kassel lehrende Soziologe Heinz Bude teilnahm. Bude hat bei diesem Versuch einer Aufarbeitung der Corona-Politik ein Narrativ vertreten, das – wie ich schrieb – »eine nationale Gemeinschaft umfassende staatliche Ordnung als den Souverän« ansieht, »der im Falle einer Pandemie qua Exekutive das individuelle Handeln einschränken und zugunsten der allgemeinen Gesundheit vor allem durch Überwachungsmaßnahmen, aber auch durch Ausgangssperren bis hin zu sogenannten ›Lockdowns‹ regulieren kann.« Das zweite Narrativ, »das bis heute nur von einer Minderheit der Bevölkerung getragen wurde, sieht hingegen die freie Entfaltung der Persönlichkeit auch dann an erster Stelle, wenn die allgemeine Gesundheit einer Menschengemeinschaft durch eine Virusepidemie bedroht wird. Dieses Narrativ sieht den Souverän mithin in jedem einzelnen Individuum, in dessen individuelle Verantwortlichkeit auch das Verhalten in einer Pandemie gestellt ist.« Im Folgenden soll es nun um einen weiteren Versuch zur Aufarbeitung der Corona-Politik gehen, nämlich um die Rezeption der im März 2024 veröffentlichten »RKI-Protokolle«.
Fortgesetzte Betrachtungen zu einem ununterbrochenem Krieg
Dem Schweizer Waldorflehrer und Anthroposophen Peter Lüthi, einem Kenner Russlands und der Ukraine, ist es im vorigen Jahr gelungen, beide Länder – in denen er seit den 90er-Jahren Kurse und Seminare abgehalten hat – mehrere Wochen lang zu bereisen. So etwas geht also. In der Zeitschrift ›Gegenwart‹ berichtet er darüber und schreibt: «Es kann mir gar nicht einfallen, den Lesern mitzuteilen, was ›Russland‹, ,›die Ukraine‹ oder ›das russische Volk‹ denken, fühlen und wollen. – Und jede eigene Wahrnehmung und Begegnung vermindert ein wenig meine Abhängigkeit von dem, was westliche, ukrainische oder russische Medien und Experten beweisen wollen. Ich glaube weder dem Spiegel noch dem Antispiegel, weder dem Mainstream noch dem Antimainstream [...]. Von beiden Seiten werde ich mit Eindeutigkeiten bearbeitet, die so wenig der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit gerecht werden, die ich in jeder wahrgenommenen Wirklichkeit finde. Meine Sympathie oder Antipathie gegenüber Russland, den USA oder der Ukraine kann nicht das Kriterium sein, ob eine Information wahr ist. Da ich mir eingestehen muss, sowohl für ›Russland‹ wie für ›die Ukraine‹ Sympathien zu haben, komme ich um diese Einsicht nicht herum.« Mir geht es ebenso! Deshalb habe ich mir seinen Vorbehalt sehr zu Herzen genommen.
Das vorliegende Heft ist in mehrerer Hinsicht eine Fortsetzung. Insbesondere die ein kontroverses Thema mit hervorragender Sachkenntnis behandelnde Studie von Matthias Fechner über ›Postkolonialismus im 21. Jahrhundert‹ und die literarische Fantasie über Franz Kafka, die aus der Feder von Andreas Laudert stammt, sind ohne die Lektüre des vorigen Heftes, wo jeweils deren erster Teil erschienen ist, kaum verständlich. Hingegen steht die zweite Folge des – mittlerweile auf drei Teile angelegten – kritischen Rückblicks auf die Corona-Pandemie von Andreas Neider in gewissen Grenzen für sich.
Ermutigung für den Rechtsweg
Allen Kindern eine Stimme geben
Zur Ausstellung ›Modigliani. Moderne Blicke‹ im Museum Barberini Potsdam
Neu im Museum Barberini in Potsdam zu sehen ist bis 18. August 2024 die Ausstellung ›Modigliani. Moderne Blicke‹. Sie entstand in Kooperation zwischen dem Museum Barberini und der Staatsgalerie Stuttgart. Nach 15 Jahren Abstinenz ist dies die erste monografische Übersicht Amedeo Modiglianis (1884–1920) in Deutschland. Sie zeigt 56 seiner zwischen 1907 und 1919 in Paris entstandenen Portraits und Akte, darunter viele Schlüsselwerke.
Neues von und zu Jürgen Habermas
Am 18. Juni begeht der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas seinen 95. Geburtstag. Ihm, der seit rund sieben Jahrzehnten Umgang mit Medien aller Art hat, wird sehr wohl bewusst sein, dass viele Redaktionen längst Nachrufe für ihn in Vorbereitung haben werden … Was für ein Lebensgefühl mag das für diesen Menschen sein?
Zu Edvard Hoem: ›Der Geigenbauer‹
Zugegeben, ich musste inneren Widerstand überwinden, als es darum ging, nach der ›Hebamme‹ (Stuttgart 2021) ein weiteres Werk des Norwegers Edvard Hoem vorzustellen. Wieder ein Roman, der den Spuren eines bzw. einer Verwandten folgt? Ist das die Masche eines Bestseller-Autors? Mag sein. Auf den zweiten Blick aber zeigte sich, dass die Ansätze der beiden Romane grundverschieden sind, und das machte sie für mich dann doch interessant. Kurz gesagt werden zwei unterschiedliche Wirkensöglichkeiten des Schicksals vorgestellt: Die ›Hebamme‹ weiß von Jugend an, dass sie Hebamme werden will; Lars Olsen Hoem, der spätere Geigenbauer, hat einen ganz anderen Wunsch, nämlich den, ein eigenes Schiff, eine Schute zu besitzen und zu führen, und findet erst nach verschlungenen Pfaden zu seinem eigentlichen Schicksalsauftrag. Den klar zu erkennen und anzunehmen gelingt den wenigsten. Manchen gelingt es rückblickend in die Vergangenheit; anderen in der Gegenwart, aber nicht für die Zukunft. Alle Varianten sind möglich. Manchmal sind helfende Hände beteiligt und nötig (vgl. S. 334), doch gibt es auch herausragende Menschen, die das, wofür sie ausgewählt wurden, als Auftrag an sie persönlich empfinden, unwiederholbar und nicht übertragbar. Meistens gibt es Widerstände – sie müssen überwunden werden, dazu sind sie da. In der Regel offenbart sich der Schicksalsauftrag in menschlichen Begegnungen.
Drei Schlaglichter auf Leben und Werk
Zu Franz Kafkas 100. Todestag am 3. Juni 2024 wird ein Jahrhundert-Schriftsteller gefeiert. Ein Genie des Wortes. Ein Schriftsteller, der damals wie heute in die Zukunft wirkt und immer bekannter wird, je mehr unsere Zeit voranschreitet. Man hat nicht den Eindruck, dass nach Ablauf des Gedenkjahres Stille um ihn herrschen wird. Dafür sind zu viele Menschen hinzugekommen, die ihn jetzt erst richtig entdeckt haben, vor allem aus der älteren Generation, für die Kafkas Leben und Werk noch nicht zum Schulunterricht gehörte. Im Jahr 2024 gibt es dazu die verschiedensten Initiativen und Neuheiten. Aus vielem, vielem anderen sind hier ausgewählt: Die Ausstellung von Hans-Gerd Koch zu Kafkas Familie in der Berliner Staatsbibliothek; die neue, geistig orientierte Biografie von Rüdiger Safranski; und ein Abend in der Berliner Christengemeinschaft zum Thema Kafka, Mozart und Intuition.
Zur letzten Phase der Beziehung zwischen Christian Morgenstern und Friedrich Kayssler
Am 5. April 1914, einen Tag nach der Trauerfeier für den am 31. M.rz verstorbenen Christian Morgenstern, schrieb Friedrich Kayssler an die Witwe Margareta: «Es hat mir so wohl getan, daß ich mit ihm [Rudolf Steiner] gesprochen habe [...]. Von dem gestrigen Tage geht ein Licht aus, ein Friede, der unbeschreiblich ist. Wir tragen ihn in uns wie ein seliges Glück, es ist nicht anders zu nennen. Es ist, als hätte alles, unser Leben, eine Weihe bekommen. Aber diese Worte sind arm.« Dem Brief war ein mit ›Meinem hingegangenen Freunde‹ überschriebenes Gedicht beigefügt: »Einst schien der Tod ein Abgrund, uferlos und leer, / daran wir, die Verlassenen, hilflos stehn. / Da sah ich Dich, Geliebtester, hinübergehn. / Nun weiß ich mehr. // Ein Abgrund war. Es stürzte eine Welt. / Doch als Dein Bild in Tränenschleiern schwand – / ward uns das innere Auge sanft erhellt, / und eine neue Gegenwart erstand. // Noch fern dem Tode – früher – sagtest Du, / nicht Trauer zieme uns bei Freundes Tod. / Nun halfst Du selber uns aus aller Not / und strahltest sterbend Gegenwart uns zu. // Du wolltest keine Tränen. Nun hab Dank. / Nicht Trauer ziemt uns, denn wir sehn Dich ja. / Der Abgrund blüht, aus Schweigen steigt Gesang. / Der Tod ward uns ein Gleichnis: Du bist da.«
Zu einer Weiterbildung in Sprachgestaltung und Schauspiel am Goetheanum
Eine Reise nach Dornach ist immer ein Abenteuer. Man weiß nie, was einen erwartet. Das liegt daran, dass man so viel Sehnsucht an diesen Ort trägt. Heimlich die Hoffnung, es könnte sich ereignen, dass ein äußeres Geschehen sich genauso zuträgt, wie es sich anfühlt im eigenen Gemüt. Das ist natürlich eine Illusion. Im Grunde erwartet man ja, sich selbst zu begegnen – in der Liebe zur Anthroposophie. Damit hängt das bekannte Dilemma zusammen, wie leicht diese Liebe, die doch alle Anthroposophen eint, umschlagen kann in ihr Gegenteil. Eifersüchtig die Geliebte verteidigend, wird der andere als Nebenbuhler plötzlich zum Feind. Schon sind wir mitten drin im Drama. Was wir aus Herzen gründen und aus Häuptern zielvoll führen wollen – damit kann ja nur das Herz und das Haupt jedes Einzelnen gemeint sein. So ist es auch, ganz im Sinne der ›Philosophie der Freiheit‹. Dennoch kann keine Rede davon sein, dass der ethische Individualismus ein liebevolles anthroposophischen Gemein(schafts)wesen hervorgebracht hätte. Das wissen wir alle. Und doch könnte angesichts dieser Tatsache auf der Stelle ein Streit entbrennen und zur übersinnlichen Schlägerei führen. Wie sonderbar!
Zur Tagung ›Civilization: Death and Resurrection‹ vom 5. bis 7. April 2023 in Stroud
Stroud – ein malerisches, südwestenglisches Städtchen zwischen Hügeln, von denen aus man bis zur Mündung des Severn in die Keltische See blicken kann. Hierhin hatten vom 5. bis 7. April dieses Jahres Gregers Brinch und Richard Ramsbotham zu einer ›Fourfold Living Arts‹-Tagung eingeladen. Gemeinsam mit ca. 60 Teilnehmenden wurde in sehr lebendigen künstlerischen Darbietungen, Vorträgen und vielen Gesprächen der 100. Geburtstag der Ostertagung 1924 in Dornach und zweier Initiativen gefeiert und bedacht. Angesichts der schwierigen ökologischen und ökonomischen Lage, in der wir uns als Menschheit befinden, sind alle drei Impulse noch ebenso notwendig und umkämpft wie damals!
Die Fähigkeit des Denkens, die sich der Mensch in langen Zeiten der Entwicklung mit der Unterstützung geistiger Wesen aneigenen konnte, ist nicht erst ernsthaft bedroht, seit es neue Formen der sogenannten Künstlichen Intelligenz – wie das Programm ChatGPT – gibt. Ein Denken, das sauber vorgeht und dabei ein menschliches Antlitz trägt, war auch vorher keineswegs selbstverständlich. Ahrimanische wie luziferische Wesen bemühten sich stets, ein solches Denken zu korrumpieren.
Eine Gegenbewegung – Erster Teil
Ich ging aus dem Haus und merkte es nicht. Plötzlich stand ich unten auf der Straße. Wo war ich gewesen, als ich die Stufen hinunterstieg? In Gedanken in Gedanken. Die Jungmannova lag nicht weit. Frühlingsluft. Ewig dieses Gehen. Durch die Vaterstadt spazieren. Die Augen deprimiert auf den Boden gerichtet. Immerhin habe ich diesmal ein Ziel. Habe ich ein Ziel? Man muss schon sehr verzweifelt sein, wenn man von etwas überhaupt nicht überzeugt ist und sich trotzdem Hilfe davon erhofft.