Zu Karl Ballmer: ›Elf Briefe über Wiederverkörperung‹
Mitte Mai 1953 erhält der für seine akademische Versiertheit bekannte Anthroposoph und Autor Hans Erhard Lauer eine Folge von Briefen, die sich auf dessen neueste Veröffentlichung zum Thema Wiederverkörperung beziehen. Bereits der erste Brief ist ein Affront. Er kommentiert nämlich Lauers gebildete Darstellung mit dem Satz: »Wie sich Tante Lieschen die Wiederverkörperung vorstellt – – ...« (S. 9). Lauer kennt den Absender, den hochgradig engagierten Anthroposophen und Maler Karl Ballmer, schon länger. Er hat ihn noch vor dem Krieg mehrmals in dessen Hamburger Atelier besucht, und bestimmt wurden damals intensive Gespräche über Wissenschaft und Anthroposophie geführt. Wohl deshalb antwortet er in seinem eigenen ersten Brief konziliant und bittet den Provokateur, nicht bloß mit seinen Äußerungen zu orakeln und zu kritisieren, sondern selbst einen »positiven und systematischen« (S. 65) Beitrag zum Thema Wiederverkörperung zu leisten. Und in einem zweiten Brief, wenig später, macht Lauer sogar einen besonnenen Vermittlungsvorschlag – den Ballmer indessen auf sich beruhen lässt. Es scheint Ballmer vielmehr nötig, weiter aus seiner eigenen Perspektive zu sprechen und zu versuchen, trotz aller erlebten und vollzogenen Zurückweisung verständlich zu werden. Und d.h. bei ihm: durch seine Begriffsbewegungen und denkerischen Ansatzpunkte, durch seine Schreibpraktiken und Ungehörigkeiten sichtbar und nachvollziehbar zu machen, was sein Erkenntnisethos antreibt und welche Wege es sich bahnt. Es kommt also zu keinem Austausch, wie wir ihn uns als Vertreter einer rationalen Diskursgemeinschaft wünschen würden. Lauer wird sich nach seinem zweiten, von Ballmer nur beiseite geschobenen Brief nicht mehr äußern.
Zu Rudolf Steiners Holzskulptur des ›Menschheitsrepräsentanten‹
Wer ist der »Menschheitsrepräsentant« – eine der vielen Begriffe, mit denen Rudolf Steiner die Mittelfigur seiner neun Meter hohen Holzplastik bezeichnete? Bin auch ich es? Ist es der durch Tod und Auferstehung gegangene Christus? Kann ich es werden, wenn ich mich mit ihm verbinde? Die Holzskulptur stellt diesen Menschheitsrepräsentanten in das Spannungsfeld zweier antagonistischer Kräfte, die zu Wesenheiten verdichtet sind: den sich ins Licht wie auflösenden Luzifer und den sich an die Erde bindenden Ahriman. Ersterer bleibt ganz im eigenen Innenraum von Kopf und Brust, ohne Verbindung zur äußeren Welt; mit ihm nimmt die schöpferische Phantasie ihren freien Lauf. Letzterer ergibt sich ganz den irdischen Kräften, die ihn zum Skelett erstarren lassen; seine fledermausartigen Flügel lassen keine geistigen Höhenflüge zu, wohl aber pragmatisches Denken und Handeln. Anders ausgedrückt: Folge ich allein Luzifer, gerate ich in eine Welt gefühlvoller Gedanken, die zur Illusion werden; folge ich ausschließlich Ahriman, schaffe ich eine automatenhafte Wirklichkeit, aus der das eigentlich Menschliche verschwindet.
Zur vierten Meditationstagung zum Werk von Georg Kühlewind vom 20. bis 22. Oktober 2023 in Stuttgart
Zum vierten Mal hatte die Akanthos-Akademie zu einer Tagung eingeladen, die sich mit Themen aus dem Werk des 2006 verstorbenen Bewusstseinsforschers Georg Kühlewind beschäftigte. An der Tagung im Rudolf Steiner Haus in Stuttgart, die dieses Mal den Titel ›Der sanfte Wille‹ hatte, nahmen etwa hundert Menschen teil. Vorträge hielten der Psychotherapeut Sebastian Elsaesser aus Stuttgart, der Psychotherapeut Michael Lipson aus Great Barrington/MA (USA) und der emeritierte Professor für Informatik Laslos Böszörmenyi aus Klagenfurt. Alle drei leiteten auch Übungsgruppen; zu ihnen gesellten sich als Übungsgruppen-Leiter der Psychiater und Psychotherapeut Hartwig Volbehr aus Überlingen und der Organisationsberater Rudi Ballreich aus Stuttgart. Organisiert hatten die Tagung wiederum Andreas Neider und Laurence Godard aus Stuttgart.
Zum Gedenken an Prof. Dr. rer. nat. Wolfgang Schad (27. Juli 1935 in Biberach – 15. Oktober 2022 in Witten)
Die Begeisterung für die Sache und den Anspruch des Forschers auf Genauigkeit hat Wolfgang Schad schon als Schulkind gezeigt. Sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Georg Schad berichtet, dass Wolfgang und er in immer weiteren Kreisen die heimatliche Umgebung ihrer Kindheit in Hildesheim erkundet hätten. »Wolfgang sammelte alles was sein Interesse fand«, und eigentlich habe »alles sein Interesse gefunden.« So wurden Eidechsen, Blindschleichen und Schmetterlinge nach Hause getragen. Dem Vater fiel es zu, die verklebten Hosentaschen zu reinigen. Wolfgang notierte in Listen, welche Vögel sie erkannt hatten und an welchem Ort diese angetroffen worden waren. Wolfgang erklärte Georg, warum das alles von entschiedener Bedeutung sei, leitete ihn zur Hilfe an, und der jüngere Bruder erhielt Zeugnisse für »Fleiß, Treue, Gehorsam etc.«
Antwort auf Martin Basfelds kritische Anmerkungen zu meinem Buch Evolution im Doppelstrom der Zeit in die Drei 11/2013
Zu Lorenzo Ravagli: ›Selbsterkenntnis in der Geschichte – Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung im 20. Jahrhundert. Band 3‹
Ende letzten Jahres ist der abschließende Band von Lorenzo Ravaglis dreibändigem Werk ›Selbsterkenntnis in der Geschichte‹ erschienen. Der erste Band (2020) ›Von den Anfängen bis zur zweiten großen Sezession 1875 bis 1952‹ umfasst siebenundsiebzig Jahre, der zweite Band (2021) ›Vom Bücherkonflikt bis zur Konsolidierung des Gründungsmythos 1953 bis 1982‹ neunundzwanzig Jahre, und der jetzt vorliegende dritte Band ›Vom Mythos zur Verfassungskrise 1983 bis 2000‹ nur sechzehn Jahre. Dessen letzte Abschnitte weisen voraus auf Ereignisse des beginnenden dritten Jahrtausends, soweit sie die Anthroposophische Gesellschaft betreffen. Die unterschiedlichen Reichweiten der drei Bände erzeugen eine Anmutung der Beschleunigung in Richtung der Jahrtausendwende, auch wächst im Verlauf der drei Bände die Dichte der vom Autor erwähnten Einzelvorgänge – die auch viele Leser zum Teil selbst miterlebt haben dürften.
Zu Rudolf Steiner: ›Organisches Denken‹
Der Tag, an dem ich dies geschrieben habe, war besonders merkwürdig. Mein täglicher Gang führt mich in ein kleines Landschaftsschutzgebiet mitten in der Stadt, mit Fließgewässer, See, Büschen, Bäumen und wenigen offenen Flächen. Wenig attraktiv für Kolkraben, welche die Weite brauchen; vereinzelt ruft einer das Jahr über. An diesem Tag aber riefen gleich zwei im Wechselgesang, ließen sich von mir durch Nachahmung des Rufes anlocken und kreisten über mir. Nach einer Weile bemerkte ich, dass sogar vier Raben rufend über mich hinwegflogen. Warum gerade an diesem Tag? Das Wetter war zunehmend windig; für die Küste war Sturm vorausgesagt. Durch meine Freude an dem Schauspiel der Raben war meine melancholische Stimmung wie fortgeblasen. Haben sie mir wirklich geantwortet? Ist es organisch gedacht, wenn ich mich frage, was ein Naturereignis wie dieses für einen kosmischen Zusammenhang hat, und darüber, was es mit mir zu tun hat? Gewiss, ein einfaches Beispiel.
Zu Lorenzo Ravagli: ›Selbsterkenntnis in der Geschichte – Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung im 20. Jahrhundert. Band 1‹
Ende 2020 ist der erste Band von Lorenzo Ravaglis auf drei Bände angelegtem Werk über die Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft erschienen. Der erste Band trägt einen zweiteiligen Titel: ›Selbsterkenntnis in der Geschichte – Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung im 20. Jahrhundert‹. Daraus ergeben sich erste Fragen: Wessen Selbsterkenntnis ist gemeint? Geht es um die kollektive, wissenssoziologisch definierbare Selbsterkenntnis der Anthroposophischen Gesellschaft oder um individuelle Erreichnisse der Mitglieder? Gibt es einen stabilen Begriff der »anthroposophischen Bewegung«? Handelt es sich dabei um Gemeinschaftsintentionen der lebenden Gesellschaftsmitglieder, oder sind Verstorbene und andere Geistwesen einzubeziehen? Beabsichtigt der Verfasser, seine Darstellung nur bis zum letzten Jahrhundertende zu führen, oder wird er in den beiden nächsten Bänden auch die Gesellschaftsentwicklung danach berücksichtigen? (Durchlitt die anthroposophische Gesellschaft doch in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrtausends und bis in die Gegenwart hinein neue krisenhafte Veränderungen.)
Annäherungen an Karl König
Der Arzt und Heilpädagoge Karl König war eine herausragende Figur des vergangenen Jahrhunderts und der anthroposophischen Bewegung. Lange Jahre war er auch ein Flüchtling in Europa. Zwei Neuerscheinungen zu Königs 50. Todestag geben Anlass, diese besondere Persönlichkeit neu ins Bewusstsein zu rücken.
Zu ›Zwischen Himmel und Erde: Die Finanzkrise‹ von Jose Martinez
Es gibt Themen, die sind gefährlich. Zu den gefährlichsten Themen in Mitteleuropa gehören sicherlich das Schicksal des deutschen Volkes und die Wirksamkeit der westlich geprägten Finanzwelt. Wer sich in diesem Themenbereich mit kritischen Fragen bewegt, läuft Gefahr, in die rechte Ecke gestellt zu werden. Dafür gibt es durchaus Gründe, denn zum einen stützen sich Ideologen aus dem rechten Spektrum zum Teil auf ähnliche Beobachtungen, die schon Rudolf Steiner am Anfang des 20. Jahrhunderts gemacht hat, und zum andern gibt es im anthroposophischen Umfeld Menschen, die dazu neigen, geisteswissenschaftliche Beobachtungen und rechte Ideologie zu einer kruden, vitalistischen Welt- und Lebensauffassung zu verbinden. Das ruft Gegenreaktion hervor, die wiederum ebenso radikal ausfallen können wie das, was Claudius Weise in dieser Zeitschrift als »identitäre Anthroposophie« bezeichnet hat. So gibt es auch Vertreter einer Art »linksliberaler Anthroposophie« die auf ihrem Feldzug gegen die Vereinnahmung der Anthroposophie durch rechte Gesinnungen gleich alle zeitgeschichtlichen Aussagen Rudolf Steiners mitentsorgen wollen und jeden, der deren Sinn nachspürt, der rechtspopulistischen Hetze bezichtigen, dabei jedoch in der Plumpheit der Argumentation ihren rechten Antagonisten in nichts nachstehen. Das Buch ›Zwischen Himmel und Erde: Die Finanzkrise‹ dürfte diesen Wächtern einer »reinen Anthroposophie«, also einer Anthroposophie, die von allem gereinigt ist, was ihrem linksliberalen Weltbild widerspricht, genug Material für neue Feldzüge geben.
Zu Sergej O. Prokofieff: ›Rudolf Steiner und die Meister des esoterischen Christentums‹
Einundzwanzig Jahre vergingen von den ersten Anfängen des hier zu besprechenden Buches bis zu seiner Veröffentlichung zu Weihnachten 2018. In der Zwischenzeit verstarben 2005 die sehr mit Sergej O. Prokofieffs Werk verbundene Übersetzerin Ursula Preuß und 2014 auch der Autor selbst. Es kam immer wieder zum Stillstand und zu Verzögerungen in der Arbeit an dem Buch, bis Ute E. Fischer sich Ende 2017 an die Übersetzung der von Preuß noch nicht übertragenen Teile machte. Dass Prokofieff selbst das Ganze der deutschen Fassung nicht mehr einer Endredaktion unterziehen konnte, möge der Leser bei der Lektüre berücksichtigen.
Von Verschwörungstheorien, dem »Kampf gegen Rechts« und anderen Unschärfen
Im Juli/August 2018 veröffentlichte das Magazin ›Info3‹ eine von acht prominenten Repräsentanten der Anthroposophie in Deutschland unterzeichnete und wenig später von den Zeitschriften ›Anthroposophie‹ und ›Anthroposophie weltweit‹ nachgedruckte Erklärung, wonach Verschwörungstheorien mit liberalem respektive anthroposophischem Denken unvereinbar seien. Im Umfeld der Anthroposophie, so die Initiatoren, begegne man immer häufiger »Vertretern der krudesten Ideologien«: angefangen bei der »Holocaustleugnung« über »Theorien der Verschwörung durch Juden, Jesuiten, Bilderberger oder Freimaurer, spirituell verbrämte Deutschtümelei und Bekämpfung des längst überholten Vorwurfs der deutschen Alleinschuld für den Ersten Weltkrieg« bis hin zu »Mutmaßungen über von Geheimdiensten inszenierte Terroranschläge und Annahmen über die Manipulation des politischen Lebens sowie der Medien durch geheime Zirkel«. Der »gemeinsame Nenner« dieser auf den ersten Blick so unterschiedlichen Verschwörungsfabulate sei »die Fixierung auf ›das Böse‹ und sein Wirken in der Welt sowie die Auffassung des Weltgeschehens als einem von einer kleinen Gruppe manipulierten Marionettentheater.« Der Rekurs »auf das Wirken unheilvoller Mächte« und vermeintlicher Konspirationen, so die Erklärung weiter, bewirke eine »passive Zuschauerhaltung, die dem Entwicklungsimpuls der Anthroposophie« zuwiderlaufe.
Zu Rudolf Steiner: ›Intellektuelle Biographien‹ (SKA 3)
Band 3 der Kritischen Ausgabe von Rudolf Steiners Schriften (SKA) mit dem Titel ›Intellektuelle Biographien‹ präsentiert drei frühe Texte des Autors: ›Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit‹ (1895), ›Goethes Weltanschauung‹ (1897) sowie ›Haeckel und seine Gegner‹ (1900). Der Band erschien 2019 zum 270. Geburtstag Goethes. Im selben Jahr beging man den 175. Geburtstag Friedrich Nietzsches und den 100. Todestag Ernst Haeckels.
Reflexionen zur Weltkonferenz am Goetheanum 2023
Es gab da »Keynotes«, »Foren«, »Workshops«, »Panels«, »Groups« – im überdimensionalen A2-Format entfaltete sich das Programm vor meinen Augen. Mit dieser Fülle der Möglichkeiten kam selbst der sehr nahbar wirkende Johannes Kronenberg in seinen Ansagen durcheinander. Es waren Möglichkeiten des Hörens, denn dazu hatte das Goetheanum schließlich in die Welt gerufen und eingeladen: um zu hören. Also hörte ich mit: Am Morgen lauschte ich den üblichen Verdächtigen, im Themenforum den Impulsreferaten, in der Arbeitsgruppe den anderen Teilnehmenden, bei den Panels den Berichten der Willenskräftigen aus aller Welt. Nun ist es kaum verwunderlich, dass bei 1.000 Teilnehmenden eben doch meist die anderen reden. Mich wunderte jedoch die Zahl der jungen Menschen bei dieser Konferenz, die kaum zu Wort kamen oder sich fast nicht zu Wort meldeten. Außerhalb der Kaffeepausen, meine ich. Gerade von den Jüngeren – »nach 1980 geboren«, so eine Orientierungshilfe vor Ort – waren erstaunlich viele in jenen Tagen am Goetheanum erschienen. Das mag an der großzügigen und sinnvollen Förderung durch die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland und der regionalen Arbeitszentren liegen, für die herzlich gedankt sei.
am Beispiel der Eurythmie
Im Artikel Steiners Denkweg und die Fähigkeiten des Fühlens (die Drei 2/2014) schreibt Ralf Matti Jäger über die Bedeutung des Fühlens für den künstlerisch arbeitenden Menschen. Er erlebt den Schulungsweg Rudolf Steiners als vorwiegend im konzentrierenden Denken gründet und sieht das künstlerische Schaffen mehr mit einem Weg verbunden, den er inspirativ nennt. Allerdings verwendet er den Begriff, anders als Steiner, in einem herkömmlichen Sinne. Damit wird dem künstlerischen Prozess aber die Möglichkeit abgesprochen, dass er vollbewusst durchlebt werden kann. Aus meiner Erfahrung als Eurythmistin möchte ich dem eine andere Gewichtung der Seelenfähigkeiten und ihrer Schulung sowie der Bedeutung einer solchen Schulung für eine künstlerische Tätigkeit entgegenstellen.
Ein Zwischenruf
Die Anthroposophie ist die einzige spirituelle Geistesrichtung, die eine konkrete Praxis in verschiedenen Lebensbereichen hervorgebracht hat. Gerade darin liegt ihre Bedeutung, aber auch ihr Problem. Wieder einmal sind Kritiker unterwegs, die Anthroposophen vorwerfen, eine esoterische und unwissenschaftliche Weltanschauung zu vertreten (wobei »Wissenschaft« natürlich nur im materialistischen Sinne verstanden wird). Im Zuge der Corona-Krise hat die Kritik eine neue Stufe erreicht. Während man bisher zwar die Anthroposophie für Humbug hielt, ihre Praxis aber durchaus schätzte und anerkannte, wird inzwischen gefragt, ob nicht auch die Praxis gefährlich und sogar menschenverachtend sei.Jost Schieren, Professor für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule in Alfter, hat im April 2022 einen ausführlichen Aufsatz zur Kritik an der Waldorfpädagogik verfasst. Darin geht er auch auf das sogenannte »Esoterikproblem« der Waldorfpädagogik ein, mit dem er sich seit Jahren auseinandersetzt. Um die Kritiker zu befrieden, fordert er einen »Anthroposophieverzicht« und eine »Esoterikabstinenz in der Waldorfpädagogik«. Ein solcher Verzicht sei für die Waldorfpädagogik nicht problematisch, denn Rudolf Steiner habe »in seinen pädagogischen Vorträgen, (den grünen Bänden der Gesamtausgabe) die weiten Themen- und Denkhorizonte der allgemeinen Anthroposophie gar nicht auftreten« lassen. Schieren möchte offensichtlich der Waldorfbewegung Argumente zur Selbstverteidigung liefern: Schaut her, wir sind gar nicht so schmuddelig, wie uns vorgeworfen wird. Im Gegenteil, wir sind sogar clean!
Versuch einer Antwort auf Martin Basfeld
Wie Weltanschauungen Familienbande trennen können
Vater und Sohn von Gleich: Damit sind Gerold (1869–1938) und Sigismund von Gleich (1896–1953) gemeint. Mit den Namen des Sohnes können anthroposophische Leser viel anfangen. Doch Gerold von Gleich? An ihn, der zu den vielen zeitgenössischen Gegnern Rudolf Steiners zählte, zu erinnern, könnte als verschwendete Schreib- und Lesezeit erscheinen. Uns geht es hier aber um eine doppelte, ja vielleicht dreifache Tragik. Zum einen sehen wir, dass ein hochgebildeter früherer Offizier in eine peinlich-platte Gegnerschaft geraten kann. Zum anderen, dass er dadurch seinen ebenfalls hochgebildeten, genialen Sohn, der zu den frühen Schülern und Interpreten Rudolf Steiners gehörte, geistig wie familiär verliert. Und dreifach, weil wir auch Ehefrau und Mutter Helene von Gleich dankbar gedenken wollen.
Zu einer Weiterbildung in Sprachgestaltung und Schauspiel am Goetheanum
Eine Reise nach Dornach ist immer ein Abenteuer. Man weiß nie, was einen erwartet. Das liegt daran, dass man so viel Sehnsucht an diesen Ort trägt. Heimlich die Hoffnung, es könnte sich ereignen, dass ein äußeres Geschehen sich genauso zuträgt, wie es sich anfühlt im eigenen Gemüt. Das ist natürlich eine Illusion. Im Grunde erwartet man ja, sich selbst zu begegnen – in der Liebe zur Anthroposophie. Damit hängt das bekannte Dilemma zusammen, wie leicht diese Liebe, die doch alle Anthroposophen eint, umschlagen kann in ihr Gegenteil. Eifersüchtig die Geliebte verteidigend, wird der andere als Nebenbuhler plötzlich zum Feind. Schon sind wir mitten drin im Drama. Was wir aus Herzen gründen und aus Häuptern zielvoll führen wollen – damit kann ja nur das Herz und das Haupt jedes Einzelnen gemeint sein. So ist es auch, ganz im Sinne der ›Philosophie der Freiheit‹. Dennoch kann keine Rede davon sein, dass der ethische Individualismus ein liebevolles anthroposophischen Gemein(schafts)wesen hervorgebracht hätte. Das wissen wir alle. Und doch könnte angesichts dieser Tatsache auf der Stelle ein Streit entbrennen und zur übersinnlichen Schlägerei führen. Wie sonderbar!
Was in der Anthroposophischen Gesellschaft leider vorgeht (Forts.)
Es war ein starkes Symbol: Während die zur Frage der Mandatsverlängerung für Paul Mackay und Bodo von Plato abgegebenen Stimmen gezählt wurden, fand auf der diesjährigen Generalversammlung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft ein weiterer Wahlgang statt. Dieses Mal ging es um die offizielle Rehabilitation Ita Wegmans und Elisabeth Vreedes. Der entsprechende Antrag wurde nahezu einmütig verabschiedet. Kurz darauf wurde bekanntgegeben, dass Mackay und von Plato mit jeweils nur knapp über 40% Ja-Stimmen die Bestätigung verfehlt hatten. Hatte sich etwa die Geschichte wiederholt – und sei es nur, wie Marx einst höhnte, erst als Tragödie und dann als Farce?
Zu János Darvas: ›Auf allen deinen Wegen, erkenne Ihn!‹*
Was das Judentum genau ist, kann ich nicht definieren. Diese Definition hängt tendenziell von der Person ab, die sie vorzunehmen versucht. Kein einzelner Begriff, keine Beschreibung eines derartigen Versuchs würde ausreichen, um es umfassend zu beschreiben: Religion, Volk, Glaube, Philosophie, Lebenspraxis, Mentalität … Mehr? Weniger? Das Christentum hat manches an sich, was ursprünglich aus dem Judentum stammt, nicht zuletzt seinen Religionsstifter. Doch das Judentum geht weit darüber hinaus: Es gibt im Judentum noch mehr – geradezu unzählige – Strömungen, Nebenströmungen und Zersplitterungen als im Christentum (ich habe allerdings nicht gegoogelt, um diese Behauptung zu erhärten). Denn im Judentum gab es eigentlich nie eine institutionalisierte, gewissermaßen staatliche Oberhoheit wie beispielsweise den Vatikan. So konnte jede Gruppierung ihre Version des Judentums leben. Jeglicher Versuch, über das Judentum abschließend etwas zu sagen, muss daher als unvollständig angesehen werden. Nicht ohne Grund heißt es (jedenfalls unter Juden): »Wo es zwei Juden gibt – gibt es drei Meinungen.«
Zu Mario Betti: ›Das Rosenkreuz – Von der Einwohnung des Christus im Menschen‹
Zu Andrej Belyj: ›Istorija stanovlenija samosoznajuščej duši‹ [= ›Geschichte des Werdens der Selbstbewusstseinsseele‹]
Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass das Erscheinen von Andrej Belyjs bislang nur fragmentarisch bekannter, monumentaler ›Geschichte des Werdens der Selbstbewusstseinsseele‹ an ein Wunder grenzt und in die Zuständigkeit nicht nur der Philologie, sondern auch der Archäologie fällt. Wie ein Skriptorium nimmt es sich aus, entdeckt bei einer Ausgrabung am Toten Meer, obgleich die Zeitspanne, die seine Niederschrift von unserer Gegenwart trennt, keine hundert Jahre beträgt. In seiner Heimat wie im Westen ist der Autor von ›Die silberne Taube‹ (1910) und ›Petersburg‹ (1913) vor allem als Dichter und Romancier bekannt. Man stellt ihn in eine Reihe mit James Joyce, Marcel Proust und John Dos Passos oder auch William Faulkner, zumal – schon ob seines zeitlichen Vorrangs – als primus inter pares. Weniger bekannt ist er als Kulturphilosoph und Zeitkritiker: als Autor der Studie ›Rudolf Steiner und Goethe in der Weltanschauung der Gegenwart‹ (1917) etwa, des meisterhaften Versuchs einer kritisch-philosophischen Letztbegründung der Anthroposophie, oder der drei zwischen 1916 und 1918 verfassten »Krisen« (›Die Krisis des Lebens‹, ›Die Krisis des Gedankens‹, ›Die Krisis der Kultur‹), die cum grano salis als Vorwegnahme von Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹ gelten dürfen.
Zum Buch »Rudolf Steiner. Seine Bedeutung für Wissenschaft und Leben heute«
Zu Judith von Halle: ›Das Wort‹
Seit Ende vergangenen Jahres gibt es eine bemerkenswerte Novität auf dem anthroposophischen Büchermarkt: ›Das Wort in den sieben Reichen der Menschwerdung – Eine Rosenkreuz-Meditation‹. Es handelt sich um ein fünfbändiges, 2.777 Seiten umfassendes Werk der Autorin Judith von Halle – man kann es durchaus ihr Opus Magnum nennen.
Zu Wilburg Keller Roth: ›System und Methode der Heil-Eurythmie‹
»Es werden noch mancherlei Zeitepochen hinunterfließen müssen[ ... ], bis eine vollbewußte Vorstellung [ ... ] auflebt, wenn das Wort >Ich< oder [. .. ] >Selbst<a usgesprochen wird. Aber in der Form kann die Selbstheit, die Ichheit empfunden werden, und zwar, wenn man vom rein mathematischen Formwissen zum Formfühlen übergeht, dann wird man stets empfinden bei dem völligen Kreis die Ichheit, die Selbstheit. Kreis fühlen würde heißen Selbstheit fühlen. Kreis fühlen in der Ebene, Kugel fühlen im Raum, ist Selbstheit fühlen, Ich fühlen. [ ... ] Wenn man den Kreis so anschaut, so sieht man, er ist ein ganz banaler Wicht [ ... ]; aber es liegt doch etwas Geheimnisvolles im Kreis. Er kann auch dadurch verstanden werden, daß man zwei Punkte nimmt und dividiert, und indem man überall dasselbe Resultat bekommt [ ... ], ergibt sich der Kreis. Der Kreis ist also etwas ganz Merkwürdiges: der gewöhnlichste Wicht [ ... ] und zugleich das Ergebnis einer okkulten Division, das sich der Mensch zum Bewußtsein bringt. Geradeso ist es bei dem menschlichen Selbst: das gewöhnliche Selbst [ ... ], und das höhere Selbst [ ... ], das in den Tiefen unserer Seele ruht und das erst gesucht werden muß dadurch, daß man aus ihm herausgeht und die Welt in Betracht zieht, mit der es in Beziehung steht.«