Jan Patočkas Tod vor 40 Jahren und seine Begegnung mit der Anthroposophie
Im Dezember 1976 stand der 75. Geburtstag des Physikers Werner Heisenberg bevor. Zu diesem Jubiläum hatte die Alexander von Humboldt-Stiftung, deren Präsident Heisenberg Jahrzehnte lang war, ihre ehemaligen ausländischen Stipendiaten gebeten, kleine Texte aus ihrem Wissensgebiet zu einer Festschrift beizutragen. Zu den Angefragten gehörte auch der damals fast 70-jährige tschechische Philosoph, Phänomenologe und Comeniologe Jan Patočka. In seiner Jugend durfte er dank dem Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung bei Edmund Husserl in Freiburg studieren, dessen Werk er sich lebenslang sehr verbunden fühlte. Patočka entschied sich, für Heisenberg über ›Ursprung und Sinn des Unsterblichkeitsgedankens bei Plato‹ zu schreiben. Dabei beschäftigte er sich anhand von Platons Dialogen intensiv mit den tiefen Rätseln des Todes, der Natur, der Seele und der Beziehung ihres ewig-unsterblichen Teils zum Leib, wie sie sich u.a. im Gesetz der Wiederverkörperung zeigt. Während er sich mit diesen Schwellenfragen befasste, überschritt er selbst die Schwelle und starb unter dramatischen Umständen am 13. März 1977. Sein Text erschien posthum. So haben wir es hier mit dem vermutlich letzten – erschütternd testamentarischen – Text Patočkas zu tun, der gerade aus dem platonischen Todesverständnis heraus ein besonnenes, engagiertes Stehen und Wirken im Leben folgert. »Es wäre ein Kurzschluss, [...] eine Weltflucht als Folge zu postulieren«, heißt es darin.
Ich und Europa IX
Als ich noch ein Kind war, wirkten Grenzen auf ambivalente Weise anziehend auf mich, sie waren Schwellen zu unbekannten Ländern, und wer eingelassen wurde, hatte den ersten Schritt der »Initiation« geschafft. Deshalb war das Warten vor dem Zoll immer mit der Spannung verbunden: Werden wir eingelassen oder nicht? Und wenn uns der Zöllner mit einer Handbewegung durchgewinkt hatte, war das ein kleiner Sieg – ein fröhlicher Triumph über das Prinzip der Ausgrenzung, das jeder Grenze innewohnt.
Zum 100. Todestag von Auguste Rodin (12. November 1840 in Paris - 17. November 1917 in Meudon)
Es ist ein extrem heißer Augusttag, als wir die kleine bergige Strasse in Meudon, einem Ort südlich von Paris, emporsteigen. Ein hohes Gitter begrenzt einen weitläufigen Garten. Die halbrunde Pforte ist einladend geöffnet, und eine schattige, leicht abwärts führende Kastanienallee empfängt uns. Im halb verdorrten Gras stehen einige Antiken. Da ist schon das Haus zu sehen: ein kleines Gartenhaus im Stil Louis-treize, aus roten Backsteinen, mit weißem Naturstein abgesetzt, und hohem Giebeldach aus Schiefer. Ab 1894 arbeitete Rodin vor allem hier. Ein paar Stufen führen zum Eingang des Hauses. Wir lösen die Eintrittskarten und sind bei Rodin daheim.
›Maria Sibylla Merian und die Tradition des Blumenbildes‹ – Eine Ausstellung im Frankfurter Städel-Museum
Betritt man den durch geschickte Untergliederung erstaunlich groß wirkenden Ausstellungsraum, so stößt man zuerst auf das kleine farbige Blatt ›Buschrose mit Miniermotte, Larve und Puppe‹ von Maria Sibylla Merian: eine rosafarbene »Große hundertblätterichte Rose«, deren geöffnete oberste Blüte sich an einem nach rechts ausschwingenden Stängel nach links neigt. Auf diese hat die sie eine echte getrocknete Raupe geklebt. Eine weitere – jetzt gezeichnete – grüne Raupe kriecht auf einer der noch knospigen Blüten, eine dritte schaut mit ihrem schwarzen Köpfchen aus einer Blütenknospe, durch sie sich gerade gefressen hat, heraus. Auf dem Stiel eines nach rechts herunterhängenden Fiederblattes ist die kleine bräunliche Puppe zu erkennen – wie ein fein segmentierter »Dattelkern«, während ein geschlüpftes »Mottenvögelein« (Merians Worte!) oben auf der grossen Blüte sitzt, deren gelbliche Flügel mit dem Gold, das am Grunde eines nach außen gebogenen Blütenblattes sichtbar wird, korrespondieren. Von links kommt eine weitere Motte, die Flügel ausbreitend, angeflogen.
Dreigliederung: gemalt, geschrieben, gesprochen
Augenweide und Erkenntnisfreude
Krönung eines Lebenswerkes
Spätaufklärer und Romantikerfreund
Zu ›Identitäre Anthroposophie‹ von Claudius Weise in die Drei 10/2017
Während die politischen Entwicklungen unserer Zeit zunehmend von Unvorhersehbarkeit geprägt sind, scheint der technische Fortschritt unaufhaltsam seinen Gang zu gehen – hin zu künstlich erzeugten Welten, die das menschliche Bewusstsein immer mehr in Beschlag nehmen, während die Wirklichkeit zunehmend von Maschinen beherrscht wird. Inwiefern diese Zukunftsvision aber nicht nur höchst fragwürdig ist, sondern auch irreführend und illusionär, zeigen Ulrike Wendt und Roland Halfen in ihren einleitenden Essays – bevor erstere in einem weiteren Beitrag den eigentlichen Schwerpunkt dieses Heftes eröffnet, der alten und neuen Wegen zum Geist gewidmet ist.
Ein Samstag in Stuttgart
Ein freier Samstag in Stuttgart und die Möglichkeit, bei der ›VR Expo‹ in virtuellen Welten herumspazieren zu können – ein Fingerzeig, sich doch einmal mit einem verhältnismäßig unvertrauten Ambiente auseinanderzusetzen? Neugierig machten wir uns auf den Weg. Ein Einkaufszentrum – das ›Gerber‹ – als Ausstellungsort. Hinter bunten Turnschuhen befanden sich verschiedene Stände, ein paar Aufsteller mit bunten Bildern und spacig klingenden Namen – und Tische mit Computern. Ziemlich unspektakulär auf den ersten Blick.
Anthropomorphe und kryptoreligiöse Motive des Transhumanismus
»Die Wissenschaft denkt nicht«: Dieser starke Satz Martin Heideggers kam mir schon während meiner Studienzeit in München des Öfteren in den Sinn, wenn mein anfänglicher Respekt vor Mathematik- oder Physikstudenten bei gemeinsamen Verständnisbemühungen in Philosophie-Arbeitskreisen wie Butter in der Sonne dahinschmolz. Gerade neuerdings drängte sich mir der Satz erneut auf, diesmal aber nicht angesichts verzeihlicher studentischer Unreife, sondern angesichts eines Artikels mit dem Titel ›Unsere Nachfahren werden Maschinen sein‹, der am 23. Oktober in der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ erstmals in deutscher Übersetzung ganzseitig publiziert wurde. Bei seinem Autor, Martin Rees, handelt es sich jedoch nicht um einen wissenschaftlichen Anfänger, sondern um einen der renommiertesten Wissenschaftler der Gegenwart. Der 1942 in York geborene Astronom der Cambridge University wurde seit 1984 aufgrund seiner wissenschaftlichen Arbeit mit hochdotierten Auszeichnungen − vom Albert Einstein World Award of Science (2003) bis zur Isaac Newton Medaille (2012) − geradezu überhäuft, schliesslich sogar in den Adelsstand erhoben worden (Baron Rees of Ludlow) und war ein halbes Jahrzehnt, von 2005 bis 2010, Präsident der Royal Society (PRS), der bedeutendsten britischen Gelehrtengesellschaft.
Vom Suchen und Finden bei Rudolf Steiner und anderswo
Auch wenn Rudolf Steiner eine eigentliche Atemschulung deutlich ablehnt, gibt er eine reichliche Anzahl von Übungen dazu. Wie ist das zu verstehen? Was kann man dabei erfahren? Und in welchem Verhältnis stehen diese Übungen zu anderen Traditionen sowie zur Eurythmie und den ihr innewohnenden besonderen Möglichkeiten der Atembewegung und -gestaltung?
Atemübungen spielen in vielen Meditations- und Körperschulungen eine wichtige Rolle. Der kontrollierende Umgang mit der Atmung kann eine starke Wirkung auf die Körperlichkeit wie auf das seelische Befinden haben. Von Krankenkassenprogrammen gegen Rückenschmerzen oder erhöhten Blutdruck, zur Regeneration und zum Stressabbau bis zu diversen alternativen Atemtherapieverfahren sind Atemübungen deshalb heute integraler Bestandteil eines bewussten Umgangs mit der eigenen Leiblichkeit. Auch in so gut wie jeder Meditationsschule gibt es ein Kapitel zur Atmung.
Andreas Heertsch hat in die Drei 11/2016 einen höchst willkommenen Beitrag ›Zur Skalierbarkeit von Imagination, Inspiration und Intuition‹ gegeben. Wie er überzeugend darstellt, können wir von unterschiedlichen Tiefen dieser Begriffe sprechen. Imagination, Inspiration und Intuition »fangen im alltäglichen Bewusstsein an und hören bei dem von Rudolf Steiner Beschriebenen nicht auf«. In einem früheren Aufsatz habe ich auf einen Bereich der höheren Erkenntnis hingewiesen, der sich zwischen dem Normalbewusstsein und den höheren Bewusstseinszuständen befindet. Neben den Stufen der höheren Erkenntnis können wir also drei Bereiche der höheren Erkenntnis unterscheiden. Im Weiteren werde ich meinen früheren Ansatz mit dem von Heertsch zusammenfügen: Imagination, Inspiration und Intuition können so skaliert werden, dass sie jeweils drei Arten von Tiefe haben, die den drei Bereichen entsprechen.
Zur Gnosis in Spätantike und Gegenwart
Das 20. Jahrhundert gab, bei all seinen abgründigen, schier endlosen Verfinsterungen, doch auch Aussichten frei auf Vergangenheiten, auf die nun – durch entsprechende Entdeckungen – ganz neues, helles Licht fallen kann. Die Existenz von Essenern oder Therapeuten, von Manichäern und eben auch frühchristlichen Gnostikern war immer schon, aus spätantiken Überlieferungen, leidlich bekannt. Dann aber kamen, durch Forschungsexpeditionen oder Zufallsfunde, zahlreiche Schriftrollen und Kodizes ans Licht, welche die Sprache jener religiösen Gruppen unverfälscht wiederzugeben versprachen: Manichäisches fand sich im zentralasiatischen Turfan und in Dunhuang (1902-1913) wie auch im ägyptischen Terenouthis nahe Medinet Madi (Ende der 1920er Jahre); Essenisches im heute israelisch-palästinensischen Qumran am Toten Meer (1947-1956); Zeugnisse dann auch der christlichen Gnosis in der Nähe des ebenfalls ägyptischen Nag Hammadi (1945/46).
Wer war der unbekannte Dionysius?
Welche Stellung haben die Schriften des Dionysius Areopagita innerhalb der Anthroposophie? Gab es eine historisch nicht nachweisbare Mysterienschule, durch die die Hierarchienlehre des Dionysius Hunderte von Jahren mündlich weitergegeben wurde, bevor sie ein Schüler schriftlich niedergelegt hat? Michiel ter Horst, der Übersetzer dieser Schriften ins Niederländische, geht im vorliegenden Beitrag diesen Fragen nach und kommt zu einer interessanten Lösung.
Im 6. Jahrhundert n. Chr. wurde ein Schriftwerkveröffentlicht, dessen Verfasser den Namen ›Dionysius Areopagita‹ verwendete. Der tatsächliche Autor der Werke ist trotz zahlreicher Untersuchungen unbekannt geblieben. Ihr Verfasser identifizierte sich intensiv mit dem biblischen Dionysius – jenem Dionysius also, der laut der Apostelgeschichte mit großer Hingabe der berühmten Rede des Paulus über den unbekannten Gott zuhörte, sich durch ihn taufen ließ und ihm nachfolgte. Er identifizierte sich sogar so sehr mit der Zeit des Paulus, dass er behauptete, die Sonnenfinsternis zur Zeit von Christi Kreuzigungstod gesehen zu haben und mit Paulus und den anderen Aposteln bei der »Entschlafung Mariens« anwesend gewesen zu sein. Und in Anlehnung an die vierzehn Paulusbriefe verfasste der Autor Dionysius seine Abhandlungen ebenfalls in Form von vierzehn an die Zeitgenossen des Paulus gerichtete Briefen.
Herzeloyde in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ – Erzählende Dichtung als Biografie
Parzivals Mutter Herzeloyde gilt allgemein als fiktive Gestalt des Dichters Wolfram von Eschenbach (* 1170; † 1220). Die geisteswissenschaftlichen Forschungen Rudolf Steiners weisen sie hingegen als historische Persönlichkeit aus, die im 9. Jahrhundert gelebt hat und die Reinkarnation von Julian Apostata ist. Ich gehe in meinen folgenden Überlegungen davon aus, Wolfram habe den von ihm gestalteten Ausschnitt aus Herzeloydes Biographie so erzählt, dass wir bei genauem Zusehen etwas von dem historischen Hintergrund und den karmischen Zusammenhängen wahrnehmen können.
Zu ›Zwischen Himmel und Erde: Die Finanzkrise‹ von Jose Martinez
Es gibt Themen, die sind gefährlich. Zu den gefährlichsten Themen in Mitteleuropa gehören sicherlich das Schicksal des deutschen Volkes und die Wirksamkeit der westlich geprägten Finanzwelt. Wer sich in diesem Themenbereich mit kritischen Fragen bewegt, läuft Gefahr, in die rechte Ecke gestellt zu werden. Dafür gibt es durchaus Gründe, denn zum einen stützen sich Ideologen aus dem rechten Spektrum zum Teil auf ähnliche Beobachtungen, die schon Rudolf Steiner am Anfang des 20. Jahrhunderts gemacht hat, und zum andern gibt es im anthroposophischen Umfeld Menschen, die dazu neigen, geisteswissenschaftliche Beobachtungen und rechte Ideologie zu einer kruden, vitalistischen Welt- und Lebensauffassung zu verbinden. Das ruft Gegenreaktion hervor, die wiederum ebenso radikal ausfallen können wie das, was Claudius Weise in dieser Zeitschrift als »identitäre Anthroposophie« bezeichnet hat. So gibt es auch Vertreter einer Art »linksliberaler Anthroposophie« die auf ihrem Feldzug gegen die Vereinnahmung der Anthroposophie durch rechte Gesinnungen gleich alle zeitgeschichtlichen Aussagen Rudolf Steiners mitentsorgen wollen und jeden, der deren Sinn nachspürt, der rechtspopulistischen Hetze bezichtigen, dabei jedoch in der Plumpheit der Argumentation ihren rechten Antagonisten in nichts nachstehen. Das Buch ›Zwischen Himmel und Erde: Die Finanzkrise‹ dürfte diesen Wächtern einer »reinen Anthroposophie«, also einer Anthroposophie, die von allem gereinigt ist, was ihrem linksliberalen Weltbild widerspricht, genug Material für neue Feldzüge geben.
Zu Peter Handkes 75. Geburtstag
Peter Handke wird 75 Jahre alt. Wie kann das sein? Ist jemand mit 75 nicht schon sehr alt? Nicht Peter Handke. Er bleibt jung in seinen Werken, und wenn man ab und zu ein Bild von ihm sieht, in immer vorgeschritteneren Jahren, darf einen das nicht stören.
Dass er jung bleibt, bedeutet nicht, dass er etwa immer derselbe bleibt. Nein, er ist immer ein anderer, und keines seiner Werke gleicht einem vorherigen. Mit jedem Werk betritt er ein Gebiet, das er noch nicht kennt. Sein Alter zeigt sich höchstens als Zunahme an Weisheit.
Er hat viel veröffentlicht, und kaum jemand wird alles gelesen haben. Das erste, was ich vor vielen Jahren von ihm entdeckte, war ›Die Geschichte des Bleistifts‹ (1982). Ich empfand sie wie eine Offenbarung aus der Literatur, die einerseits real zur Erde gehört, aber als Kunst sich ins Übersinnliche schwingt – eine bezaubernde Welt zwischen Himmel und Erde, aus der man jedes Mal reich beschenkt zurückkehrt.
Zum Erscheinen einer korankritischen Streitschrift des deutsch-ägyptischen Politologen Hamed Abdel-Samad
Hamed Abdel-Samad ist einem breiteren Publikum durch seine zahlreichen Bücher und Auftritte in TV-Diskussionsrunden bekannt, in denen er seine kritische Haltung zum politischen Islam verteidigt. Als Sohn eines streng gläubigen sunnitischen Imams in Ägypten aufgewachsen, kam er Mitte der 1990er Jahre zum Studium nach Deutschland und absolvierte hier innerhalb weniger Jahre eine Konversion vom überzeugten Muslim, den die Freizügigkeit westlicher Gesellschaften zutiefst verunsicherte und in schwere Sinnkrisen stürzte, zu einem der profundesten Kritiker der islamischen Religion.
Was ist noch heilig an diesem zerrissenen Land? Warum ist all das Heilige gerade hier geschehen, in einer Erdgegend, die auch damals nicht ein Hort des Friedens war? Sogar die Vorbereitung dessen, was die Zeitenwende bewirkt hat, hervorgehend aus dem auserwählten Volk, war verbunden mit heftigen Auseinandersetzungen, Eroberungen, Vertreibungen und anderen Brüchen. Zudem sind Hass, Aufhetzung des Volkes, Gefangennahme, Geißelung und gewaltsamer Tod Bestandteil des Heilsgeschehens selbst: von paradiesischen Zuständen im menschlichen Zusammenleben keine Spur!
Eine weihnachtliche Bildbetrachtung
In einer mittelalterlichen Miniatur gibt es ein Bild der Begegnung von Maria und Elisabeth, die beide ihr Kind unter dem Herzen tragen. Der Maler hat das Herz der Frauen jedoch geöffnet, so dass die Kinder selbst sichtbar werden. Was er gemalt hat, ist nicht nur die Geschichte von Maria und Elisabeth, die sich begegnen und deren Kinder sich – in Wirklichkeit – im Bauch bewegen, sondern er hat ein eigentliches Herzbild gemalt. Er zeigt uns die Kraft und Fähigkeit des Herzens, und er führt uns mit diesem Bild in jenen Bereich, der einst in der Begegnung der beiden Frauen und ihrer Kinder sich öffnete und der (in der Zeit vor Weihnachten) immer wieder neu aufgesucht werden kann.
Zweite Betrachtung zu den Fenstermotiven im Großen Saal des Goetheanums
Wir lassen den Bereich der grünen Fenster hinter uns und öffnen uns dem Blau. Würde man sich mit dieser Farbe identifizieren, sagt Rudolf Steiner, »so würde man durch die Welt gehen, indem man das Bedürfnis empfindet, mit dem Blau immer weiter und weiter fortzuschreiten, den Egoismus in sich zu überwinden, gleichsam makrokosmisch zu werden, Hingabe zu entwickeln. [...] Wie begnadet von göttlicher Barmherzigkeit würde man sich fühlen, wenn man also durch die Welt geht.« Derart gestimmt können wir in das innige, schöne und ausgewogene Blau – das durch Kobalt und Kupferoyxyde gefärbt wurde – eintauchen.
Zur Ausstellung ›Tintoretto – A Star Was Born‹ im Wallraf-Richartz-Museum Köln
Venedig war eine der bevölkerungsreichsten Großstädte Europas, als Jacopo Robusti 1518 oder 1519 geboren wurde – als Sohn eines Färbers, daher sein Künstlername »Tintoretto« (»Färberlein«). Bereits 1538, also mit etwa 20 Jahren, war er ein ausgewiesener Meister mit eigener Werkstatt. Das war auch nötig, um sich gegen die allgegenwärtige Konkurrenz durchzusetzen, denn Venedig war ebenso eine der europäischen Hauptstädte der Kunst.
Zur Ausstellung ›revonnaH. Kunst der Avantgarde in Hannover 1912-1933‹ im Sprengel Museum Hannover
Nach meiner ersten Besichtigung der Ausstellung habe ich mich gefragt: Welche Art der Darstellung war für dich am eindrücklichsten, welches Werk wirst du als Besonderheit in Erinnerung behalten? Das dunkle Ölgemälde mit den ausdrucksstarken Gesichtern oder die archetypisch wirkende Maske? Die in Öl auf Sperrholz gemalte alte Frau im Bett oder der Frauenkopf aus rotem Stein? Die völlig abstrakte Komposition mit Holzrahmenfragment und Holzkugelsegment oder das Foto von einem dürren Bäumchen in karger Winterlandschaft? Das realitätsnahe Bild einer Menschenschlange vor dem Arbeitsamt oder das stark vereinfachte, von Farbflächen geprägte Plakat? Was muss das für eine gärende Zeit in Hannover gewesen sein, in der all diese unterschiedlichen Werke geschaffen oder ausgestellt wurden!
Ich und Europa X
Wachsamkeit west als Gegenwart des Ich. In dieser Gegenwart knospet das Ich in jedem Augenblick als Freiheit von sich selbst und von anderem, jenseits von innen und außen: generative Leere eines bewussten Wollens, das in der empfindsamen Begegnung mit jedem Augenblick, Ereignis oder Wesen zu einer konkreten Form der Freiheit blühen kann; empfindsame, wache und freie Begegnung, die – durch ein denkendes Tätigsein entstehend – den uneingeschränkt dialogischen Charakter der authentischen Natur des Denkens offenbart. Die Bildung und Pflege dieses wachsamen, warmen Wollens, dieses dialogischen, lichtvollen Denkens, d.h. eine Kultur der denkenden Wachsamkeit im Ich, will ich als eigenen Klang von Europas Schicksal wahrnehmen.