Artikel von Jörg Ewertowski
Immanuel Kant zum 300. Geburtstag
Immanuel Kant wurde am 26. April 1724 geboren. Seine Bedeutung nach 300 Jahren gründet in seinem dreiteiligen Hauptwerk, dessen erster Teil, die »Kritik der reinen Vernunft 1781 veröffentlicht wurde. Kant war damals im 57. Lebensjahr, d.h. im dritten Mondknoten. Bis zu seinem Tod 1804 erschienen rund 2.000 Schriften zu dem philosophischen Neuansatz, den er vorgelegt hatte. Deshalb schreibt Friedrich Schiller unter dem Titel ›Kant und seine Ausleger‹ passend: »Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung / setztl Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun.« Zwischen dem Erscheinen der ›Kritik der reinen Vernunft‹ und uns hegen rund 240 Jahre, in denen sich eine weitere große Wirkungsgeschichte entfaltet hat. Dabei ist es der Philosophie Kants einigermaßen erspart gebheben, zu einer tradierten Lehre zu werden, wie der Aristo-teh'smus in der Scholastik oder der Thomismus in der Neuzeit. Es gab wohl keinen Philosophen unter denen, die sich an Kant orientiert hatten, der nicht wiederum produktive Kritik an ihm geübt oder ihn selbstständig interpretiert hätte.
Zur Bedeutung von Bibliotheken für das Geistesleben
Kurz vor 19 Uhr kam noch Herr B., ein Lehrer aus der benachbarten Waldorfschule, durch die Bibliothekstür und brachte »fällige« Bücher zurück. Dann fragte er, ob ich einen knappen, handlichen Text wüsste, der erläutert, was es mit dem »Gang der Menschheit« über die Schwelle auf sich habe. Warum vollzieht sich der unbewusst, und was heisst das eigentlich? Natürlich wusste er das – genauso wie ich – »irgendwie«. Augustin sagt über die »Zeit«, dass er wisse was Zeit ist, solange man ihn nicht danach frage, aber sobald er gefragt werde, wisse er es nicht mehr. Ähnlich ging es mir und vielleicht auch Herrn B. jetzt mit dem menschheitlichen Überschreiten der Schwelle. Das Thema »Schwelle« führt unmittelbar ins Herz der Anthroposophie und gehört doch sonst ganz und gar nicht zur Allgemeinbildung. Und deshalb ist es dann auch eine besondere Aufgabe, es einem andern zu erläutern, der nicht so tief in der Anthroposophie drinnen steckt. Da reicht es nicht, Inhalte des Informationsgedächtnisses auf dem Tisch auszubreiten wie: die Schwelle als die Grenze zwischen geistiger Welt und irdischer Welt, Trennung von Denken, Fühlen und Wollen, unbewusste Überschreiten im Unterschied zum bewussten Überschreiten etc. Es gilt das Thema zu greifen, es darzustellen. Die Wiederholung von Aussagen Steiners, herausgelöst aus deren besonderem Zusammenhang ist unbefriedigend. Gleichwohl aber bleiben diese Aussagen wichtige Bezugspunkte und Quellen. Im Bibliothekskatalog fand ich unter Eingabe der Sachwortkombination »Schwelle: unbewusst« schnell den Hinweis auf ein vielversprechendes Buch, aber Herr B. wollte etwas Kurzes. Mit dem zweiten Versuch, der Kombination »Schwelle: Menschheit« stellten sich dann auch mehrere Ergebnisse in Form von Zeitschriften-Aufsätzen ein, darunter ein Beitrag von Walter Johannes Stein mit dem Titel ›Die Menschheit geht über die Schwelle‹ aus dem ›Österreichischen Boten‹ von 1922. Aber auch Steiners Vortrag vom 11. April 1919 aus ›Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen‹ (GA 190) und weitere Bücher wurden von der Suchmaschine angeboten. Herr B. notierte sich den Vortrag, kopierte sich den Zeitschriften-Artikel von W. J. Stein und ging damit hinaus. Ich blieb etwas unbefriedigt zurück, da ich erwartet hatte, mehr zu finden, und wiederholte die Suche am nächsten Tag nochmal, aber nun mit etwas mehr Ruhe in der Titel-Stichwort Zeile des Katalogs.
Seelenverständnis und Todesüberwindung
Obwohl Rudolf Steiner die Anthroposophie anfangs mit Bezug auf die Naturwissenschaften begründet hat, begegnen wir in ihr doch einer besonders großen Reihe von Inhalten, die in der Wissenschaftswelt nicht in den Bereichen der Natur-, sondern ausschließlich in denen der Geisteswissenschaften zu finden sind. Dort wiederum sind die thematischen Berührungen im Feld der Theologie besonders groß. In der Theologie bahnen sich deshalb Gespräche über die Grenzen der unterschiedlichen Sprachräume von anthroposophischer und universitärer Wissenschaft hinaus eher an als anderswo. Im Werk Steiners finden wir die Rede von der Seele in Abgrenzung und im Vergleich mit dem Leiblichen und dem Geistigen des Menschen. Der Leib vermittelt die Sinneswahrnehmung, durch die Seele treten wir in ein persönliches Verhältnis zur Welt, und mit unserem Geist erkennen wir die zeitlosen und überpersönlichen Gesetzmäßigkeiten der von unseren Bedürfnissen unabhängigen Wahrheit. Das ist Steiners Ansatz im Grundlagenwerk Theosophie von 1904. Ganz anders begegnet uns der Begriff der Seele im Raum der Geistesgeschichte. Hier geht es im Gespräch über die Seele primär um die Fragen des nachtodlichen Lebens. Von hier aus sind deshalb die Versuche zur »Abschaffung« des Seelenbegriffs in der Theologie des 20. Jahrhunderts zu betrachten und auch die beiden aktuellen theologischen Vorstöße zur Rehabilitierung des Seelenbegriffs, mit denen ich mich auseinandergesetzt habe: Christof Gestrich: Die Seele des Menschen und die Hoffnung der Christen. Evangelische Eschatologie vor der Erneuerung (Frankfurt/Main 2009) und Helmut Feld: Das Ende des Seelenglaubens (Berlin, Münster 2013).