Artikel von Hans Paul Fiechter
An der Schwelle des 100. Todesjahres von Franz Kafka (1883–1924)
Der Jahrhundertdichter Franz Kafka, dessen 100. Todestag im kommenden Jahr wieder zu einer breiteren Vergegenwärtigung des Vergangenen führen wird, hat eine deutliche Spur im kollektiven Bewusstsein des 20. Jahrhunderts hinterlassen, die sich zu dem weltweit in den allgemeinen Wortschatz eingegangenen Adjektiv »kafkaesk« verdichtet hat. Max Brod, sein engster Freund und der erste Herausgeber seines Nachlasses, war über den »Kafka-Boom« der 50er-Jahre entsetzt und sprach von der ›Ermordung einer Puppe namens Franz Kafka‹. Dora Diamant, die in seiner letzten Lebenszeit an Kafkas Seite war und ihm in Berlin beim Verbrennen von Manuskripten half, wehrte sich dagegen, dass man aus dem geliebten Menschen nach seinem Tod Literatur machen wollte. Allerdings hat Kafka, obwohl er testamentarisch die Vernichtung seiner Manuskripte forderte, nicht sie, sondern Brod als Nachlassverwalter eingesetzt, von dem er wusste, dass er sich nicht daran halten würde.
Biografische Spuren Georg Trakls
Georg Trakl (1887-1914), der von vielen als der größte deutschsprachige Lyriker seiner Generation angesehen wird, ging be täubt durch sein kurzes Erdenleben. Er sei nur halb geboren. In der Kindheit und Jugend habe von seiner Umgebung nur das Wasser einen Eindruck auf ihn gemacht Solche Äußerungen von ihm sind überliefert. Die Welt und vor allem sich selbst ertrug er nur betäubt durch starke Rauschmittel. Heruntergedämpft war sein Denken, gelähmt sein Wollen. Sein Fühlen entfaltete sich wie eine große, dunkle Blüte. Eine blaue Blume.
Zwei Findlinge in der deutschsprachigen Literatur und der Mysterienhintergrund ihrer Werke – Teil II
Georg Büchner war Revolutionär, Naturwissenschaftler und Dichter. Sein öffentliches Wirken dauerte drei Jahre. Der zwanzigjährige frischverlobte Medizinstudent stellt 1834 mit der revolutionären Flugschrift ›Der hessische Landbote‹ der damaligen Gesellschaft die Diagnose und will gleich zur Notoperation schreiten, wird aber umgehend von den Autoritäten aus dem politischen Operationssaal verjagt. Er lässt allerdings ohne Bedauern »die Gießener Winkelpolitik und revolutionären Kinderstreiche« hinter sich.
Zwei Findlinge in der deutschsprachigen Literatur und der Mysterienhintergrund ihrer Werke – Teil III
Kleist und Büchner sind Solitäre in ihrer Zeit und ihrer kulturellen Umgebung, zwei Unangepasste, zu früh Inkarnierte. Beide sind intelligente, wortgewandte Genies, sind 1,72 m groß und haben – wenn man der Schwester Büchners glaubt und nicht der Polizei – kastanienbraune Haare, beide sind im Oktober geboren, sind ungewöhnlich jung verlobt mit einer Wilhelmine, die sie nicht heiraten werden, und beide sterben früh. Aber damit ist es mit den Gemeinsamkeiten auch schon ziemlich am Ende. Bleiben die Gegensätze.
Zwei Findlinge in der deutschsprachigen Literatur und der Mysterienhintergrund ihrer Werke – Teil I
Heinrich von Kleist (1777-1811) und Georg Büchner (1813-1837) gehören wie Friedrich Hölderlin und Franz Kafka zu den seltenen Dichtern, deren Wirkung lange nach ihrem Tod größer ist als diejenige zu ihren Lebzeiten, und deren Sprache unübertrefflich den Kern des Gesagten trifft - bei Kleist sogar im auch schriftlichen Stottern und bei Büchner als jugendliche Leistung nebenher in einem auf wenige Jahre begrenzten Erwachsenenleben als Akademiker und politisch Verfolgter. Beide waren als Künstler ihrer Zeit weit voraus.Kleist und Büchner erlebten denselben Kulturraum, aber in vollständig voneinander getrennten, wenn auch dicht aufeinander folgenden Zeiträumen. Beide waren sie noch Zeitgenossen Goethes; Kleist gehörte zur Generation seines Sohnes, Büchner zu der seiner Enkel. Als Kleist starb, war Büchner noch nicht geboren; als Büchner starb, nur fünf Jahre nach Goethes Tod, wäre Kleist, hätte er sich nicht das Leben genommen, sechzig Jahre alt gewesen. Ihre Biografien zeigen als Gemeinsamkeit den Scharfsinn des Journalisten und die Ruhelosigkeit beider Persönlichkeiten; im Ganzen können wir jedoch an ihren Werken vor allem eine Polarität erleben: Kleist stellt den Menschen als Mittelpunkt ohne Peripherie dar; Büchner sieht die Menschen aus einer Peripherie, die keinen Mittelpunkt hat. Diese Polarität ist es, worauf im Folgenden die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll: bei Kleist im Wesentlichen aus der Perspektive seiner weiblichen Dramengestalten, bei Büchner in der Perspektive auf die männlichen.
Rudolf Steiners Karmavorträge von 1924 als Denkkunstwerk
Erkenntnis, in alten Zeiten als Offenbarung eine Gottesgabe, ist immer mehr individuelle menschliche Leistung geworden. Am Beginn dieser Entwicklung steht Sokrates mit seinem schockierend radikalen Zurückweisen aller überlieferten Weisheit: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Sein Erkenntnisinstrument ist die Frage, als Einladung an den einzelnen Menschen, selbst zu denken. Dies führt zu der Einsicht und Grundregel der Philosophie, dass Weisheiten sekundär sind und nicht zu Dogmen erstarren sollten, dass Gedanken nicht das Denken ersetzen können. Das Denken selbst ist das Primäre, das lebendige Huhn, das immer neue Eier legt. In der Konsequenz entscheidet sich Lessing, wenn Gott ihm in der einen Hand die Wahrheit, in der anderen die Suche nach der Wahrheit zur Wahl bieten würde, für die Suche; nicht für die Produkte, die Erkenntnisse, sondern für die Erkenntnisfähigkeit als menschliche Produktionskraft. Und wenig spater stellt Hölderlin diese Umwendung im menschlichen Erkennen in einen großen Zusammenhang: »Denn nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen / Die Sterblichen eh' an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo, / Mit diesen. Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.«