Artikel von Martin Kollewijn
Anmerkungen zur ›Straßenbahnhaltestelle‹
Die Menschheit wandert. Ihre Vorhut geht einem spirituellen Zeitalter entgegen. Hinter ihr liegt eine lange Epoche des Schweigens der geistigen Welt. In der oft entsagungsvollen Stille konnte das freie Selbstbewusstsein des Individuums heranreifen. Die allgemeinen Menschenrechte wurden schließlich proklamiert, aber sie sind längst nicht weltweit etabliert, geschweige denn gesichert und deshalb überall bedroht. Tatsächlich ist gegenwärtig das ganze Leben des Planeten und der Menschheit gefährdet. Eine Bewältigung dieser Gefahr kann von einem Erwachen zur nächsten an die Sinneswelt angrenzenden übersinnlichen Welt erhofft werden – doch das wird keinesfalls einfach sein.Mit neunzig Jahren hat der Sozialphilosoph Jürgen Habermas unlängst ein über anderthalbtausendseitiges zweites Hauptwerk veröffentlicht. Es behandelt das Verhältnis von Glauben und Wissen und repräsentiert das erwachte Selbstbewusstsein des Individuums. In jener Epoche, in der dieses Bewusstsein stark geworden ist, klaffte der Graben zwischen Glauben und Wissen immer weiter auseinander. Künftig wird er dadurch überwunden werden, dass anstelle des Glaubens zunehmend die spirituelleErfahrung treten wird. Die Geisteswissenschaft hat dazu die Grundlage geschaffen. Aber die Übergangszeit wird lange währen. Was Habermas immer noch in der Philosophie ist, war seinerzeit der acht Jahre ältere Beuys in der Kunst: Ein weltweit wirkender gebürtiger Deutscher. Beide stehen für die Aufgabe, jenes Denken und Tun voranzubringen, das einen Übergang zur nächsten Menschheits-Epoche in Freiheit ermöglicht.
Lebensbedingungen der Menschenwürde – I. Teil
»Würde des Menschen - Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. / Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.«1 Dieses Epigramm stammt nicht von Bertolt Brecht, sondern von Friedrich Schiller. Schiller hatte am eigenen Leibe erfahren, nie unwürdig es sein kann, sich das tägliche Brot nur mit Not verdienen zu können. Der Autor und Geschichtsprofessor tat alles, Frau und Kind zu ernähren, und erkrankte dabei lebensgefährlich. Zum Glück gewährten dänische Gönner dem wiedergenesenden Dichter ein großzügiges Stipendium, das ihm die Möglichkeit gab, sich ohne Hunger drei Jahre dem Kantstudium und der Ästhetik zu widmen. Zum Dank und als reife Frucht dieser Jahre schrieb er die -Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen-. Dass sich die Würde nicht von selbst ergibt, wenn durch das Stillen der täglichen Bedürfnisse des Menschen seine Blöße bedeckt ist, wusste auch Schiller. Die Proklamation der Menschenrechte durch die Französische Revolution begeisterte ihn. Als dieselbe Revolution mit den Menschen die Würde enthauptete, war er enttäuscht.
Zu ›Adam’s Passion‹ von Robert Wilson und Arvo Pärt
›Adam’s Passion‹ heißt ein Musiktheater von Robert Wilson nach Werken von Arvo Pärt. Es wurde während der Karwoche 2018 im Berliner Konzerthaus dreimal aufgeführt. Die Uraufführung hatte drei Jahre vorher in Tallinn stattgefunden. Die musikalische Leitung hatte jeweils der estnische Dirigent Tonu Kaljuste. Auch die Schauspieler waren, bis auf die Kinder, dieselben. Von der Weltpremiere existiert ein Film, in dem die Bilder des von Wilson inszenierten Licht- und Bewegungstheaters im Vordergrund stehen. In Berlin war hingegen das Musikerlebnis stärker, obwohl Orchester und Chor verborgen blieben. Schon im September 2015 war die Filmaufnahme von ›Adam’s Passion‹ zusammen mit ›The Lost Paradise‹, einer Dokumentationen von Pärts Zusammenarbeit mit Wilson, im Wolff-Saal der Berliner Philharmonie gezeigt worden. An den beiden aufeinanderfolgenden Abenden war Wilson selbst anwesend und erzählte viel. So beruht dieser Bericht neben der Berliner Aufführung auch auf den genannten Filmen und Wilsons Erzählungen.
Lebensbedingungen der Menschenwürde – II. Teil
Im ersten Teil dieser Betrachtung (vgl. die Drei 6/2019) wurde die Frage gestellt, was notwendig ist, um den goldenen Maßstab der Menschenwürde europäisch zu fassen. Dabei wurde an ein Bild des Philosophen Jürgen Habermas angeknüpft, der das Verhältnis von Wissenschaft, Kunst und Religion (bzw. Ethik) mit einem Mobile vergleicht, das sich ineinander verhakt hat. Wenn man dieses Bild auf das gesellschaftliche Ganze überträgt, stellt sich die Frage, wie Wirtschaft, Recht und Kultur in ein freies Spiel zueinander finden können – und ob zu diesem Zweck die Europäische Union neu verfasst werden muss.