Artikel von Karen Swassjan
Zu Andrej Belyj: ›Istorija stanovlenija samosoznajuščej duši‹ [= ›Geschichte des Werdens der Selbstbewusstseinsseele‹]
Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass das Erscheinen von Andrej Belyjs bislang nur fragmentarisch bekannter, monumentaler ›Geschichte des Werdens der Selbstbewusstseinsseele‹ an ein Wunder grenzt und in die Zuständigkeit nicht nur der Philologie, sondern auch der Archäologie fällt. Wie ein Skriptorium nimmt es sich aus, entdeckt bei einer Ausgrabung am Toten Meer, obgleich die Zeitspanne, die seine Niederschrift von unserer Gegenwart trennt, keine hundert Jahre beträgt. In seiner Heimat wie im Westen ist der Autor von ›Die silberne Taube‹ (1910) und ›Petersburg‹ (1913) vor allem als Dichter und Romancier bekannt. Man stellt ihn in eine Reihe mit James Joyce, Marcel Proust und John Dos Passos oder auch William Faulkner, zumal – schon ob seines zeitlichen Vorrangs – als primus inter pares. Weniger bekannt ist er als Kulturphilosoph und Zeitkritiker: als Autor der Studie ›Rudolf Steiner und Goethe in der Weltanschauung der Gegenwart‹ (1917) etwa, des meisterhaften Versuchs einer kritisch-philosophischen Letztbegründung der Anthroposophie, oder der drei zwischen 1916 und 1918 verfassten »Krisen« (›Die Krisis des Lebens‹, ›Die Krisis des Gedankens‹, ›Die Krisis der Kultur‹), die cum grano salis als Vorwegnahme von Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹ gelten dürfen.
Eine Antwort auf Marcus Andries’ »Korrektur«
»Die Philosophie der Gegenwart leidet an einem ungesunden Kant-Glauben.« Dieser 1892 niedergeschriebene Satz scheint seine Brisanz auch heute noch nicht ganz eingebüßt zu haben. Dabei gilt er inzwischen nicht mehr nur von der Philosophie und dem Denken einiger spezialisierter Fachleute, sondern – was ungleich wichtiger ist – vom Empfinden vieler Menschen, die nie auch nur eine Zeile von Kant gelesen haben. Er gilt darüber hinaus heute auch von der Anthroposophie (unter deren Vertretern freilich auch Bekenner einer ganzen Palette weiterer »ungesunder« Glaubensrichtungen angetroffen werden können – ganz nach dem Vorbild des unvergesslichen Mementos von Charles Maurras: »Ich bin Atheist, aber ich bin Katholik.«)