Die Bedeutung der Beziehungsfähigkeit für die menschliche Evolution ist ein zentrales Thema, das Rudolf Steiner aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet hat. In seinem Vortrag ›Was tut der Engel in unserem Astralleib?‹ beschreibt er beispielsweise, wie die menschliche Begegnung in Zukunft zu einem Sakrament werden und das Ende der Notwendigkeit einer formellen Religion einläuten wird. Interessanterweise stellt er außerdem fest, dass, wenn wir uns nicht mit den Engeln in Richtung menschlicher Gemeinschaft entwickeln, das Ergebnis eine instinktive Fähigkeit sein wird, Medikamente einer »schädlichen« Art zu entwickeln. Dies deutet auf die wichtige Verbindung zwischen wahrhaft menschlichen Beziehungen und karmischen Lösungen sowie auf das Mysterium der Transsubstantiation und der Transformation von Substanzen hin – und auf die tiefe und unverzichtbare Verbindung zwischen unserer Fähigkeit, wirklich miteinander in Beziehung zu treten, sowie der Fähigkeit, die Impulse der spirituellen Wissenschaft für die Entwicklung der Welt zu entwickeln.
Man könnte sagen, dass die Anthroposophie bereits den Keim einer umfassenden spirituellen Psychologie in sich trägt, die als Grundlage für die Entwicklung menschlicher Beziehungen dienen kann. Der Untertitel von Steiners ›Philosophie der Freiheit‹ von 1918 lautet ›Seelische Beobachtungen nach naturwissenschaftlicher Methode‹, und Steiners ›Von Seelenrätseln‹ enthält im Kern eine intensive Auseinandersetzung mit dem Philosophen und Psychologen Franz Brentano. Hinzu kommen die einzigartigen Beiträge der Anthroposophie zur Psychologie. Dazu gehören die Realität geistiger Erfahrungen, die Bedeutung von Karma und Reinkarnation, das Verständnis des Zusammenwirkens geistiger Wesen, die Durchdringung von Geist und materieller Wirklichkeit und die zentrale Bedeutung des Ich.
Ich habe bei vielen psychoanalytischen Denkern des 20. Jahrhunderts Anklänge an Steiner gefunden und halte es für möglich, dass Steiner viele dieser Persönlichkeiten von jenseits der Schwelle inspiriert hat. Die Begegnung von Menschen zu verstehen, war ein durchgehendes Bestreben des 20. Jahrhunderts. Dabei ging es um Begegnungen zwischen Therapeuten und Patienten, Müttern und Kindern und so weiter. Es entstand eine Art psychologischer Arbeit, die goetheanistische Züge trug und sogar mit Nuancen der Geisteswissenschaft durchdrungen schien. Die vielen spirituellen Wahrheiten, die dort verborgen liegen, werden von äußerlich intellektuellen und materialistischen Worten und Beschreibungen zugedeckt. Sie warten nur darauf, entdeckt zu werden. Wenn wir uns die Entwicklung der Psychoanalyse im letzten Jahrhundert ansehen, können wir feststellen, dass sich die Sichtweise von Freuds Ein-Personen-Psychologie, die von einem physischen Körper mit bestialischen Instinkten ausgeht, bis hin zur intersubjektiven Psychologie gewandelt hat. Am Ende des 20. Jahrhunderts erkennen wir eine Psychologie, die oft in einer Christus-ähnlichen Sprache beschrieben wird. Dabei geht es darum, dass die menschliche Begegnung die Schaffung eines »Dritten« ermöglicht, der größer ist als die beiden Individuen, die einander begegnen.