Wer an einer Universität studiert, muss lernen, logisch nachvollziehbar zu denken, und sich Methoden aneignen, die reproduzierbare Ergebnisse ermöglichen. Bei diesem Vorgehen bleiben aber weite Bereiche der menschlichen Fähigkeiten unberücksichtigt und ungenutzt. Alles Künstlerische, Imaginative, Bildhafte oder Erzählerische würde nur stören und muss deshalb, wie Rüdiger Sünner als Student empfand, »zusammen mit dem Mantel an der Garderobe abgegeben werden«. Im der Freien Universität Berlin in Dahlem benachbarten Ethnologischen Museum, das er zwischendurch aufsuchte, fand er eine andere Welt vor: Die Masken der nordwestamerikanischen Kwakiutl-Indianer, die steinernen, präkolumbianischen Götterbilder Südamerikas oder die hölzernen Statuen Westafrikas sind perfekt gearbeitete Kunstwerke. Sie scheinen von alten Mythen und Geschichten zu berichten und sind keinesfalls mit rein logisch-abstrakten Mitteln vollständig zu ergründen. Sünner erlebte beide Welten jahrelang als völlig voneinander getrennt. Erst das Buch ›Das wilde Denken‹ (1962) des berühmten französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss zeigte ihm eine Brücke, die diese Welten miteinander verbinden konnte. Lévi-Strauss rehabilitiert das den Mythen, Erzählungen und figürlichen Darstellungen solcher frühen Kulturen zugrunde liegende bildhafte, assoziative und vielschichtige Denken und beschreibt es nicht als primitiv und dem logischen Denken nur vorausgehend, sondern als in dem jeweiligen Kulturzusammenhang vollkommen berechtigt. Und es ist keineswegs vergangen: »Das Denken im wilden Zustand blüht in jedem menschlichen Geist – zeitgenössisch oder alt, nah oder fern.« (S. 227) In jahrzehntelanger Beschäftigung mit indigenen Kulturen auf mehreren Kontinenten vertiefte Sünner sich in den Prozess des »wilden Denkens«, den er in seinem neuen Buch und seinem gleichnamigen Film in großer Breite vorstellt.