»Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete« war eine zentrale Forderung der Partei ›Bündnis 90/Die Grünen‹ im Bundestagswahlkampf 2021. Kaum war sie in der Regierungsverantwortung, konnten plötzlich gar nicht genug Waffen – zuerst in die Ukraine und dann auch nach Israel – geliefert werden. Dennoch finden sich weiterhin wohlklingende Aussagen zur Sicherheitspolitik auf der Webseite dieser Partei: »Jede Anwendung militärischer Gewalt ist ein Übel und ein Zeichen, dass friedliche Streitbeilegung versagt hat. Deshalb setzen wir Grüne im Bundestag vorrangig auf die Eindämmung der vielfältigen Konfliktursachen und den Primat friedlicher Streitbeilegung und Friedensförderung.« Das offensichtliche Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit mögen viele Kritiker als eine besonders dreiste Form des Lügens empfinden. Dennoch werden Vertreter dieser Partei ihre Politik im Brustton der Überzeugung als gerechtfertigt verteidigen. Sie glauben wirklich daran, sich für das Gute einzusetzen. Sie bemerken nur nicht, dass das, was sie sich als das Gute vorstellen und das, was sie willentlich anstreben, vollkommen auseinanderklaffen. Es ließen sich gegenwärtig unzählige Beispiele dafür finden, dass das, was Menschen sich vorstellen, nicht dem entspricht, was sie fühlen und tun. Woher kommt das?
Das Denken der Menschen der Gegenwart wurzelt nicht in der Wirklichkeit, so kann eine zentrale Erkenntnis Rudolf Steiners beschrieben werden. Und dieses realitätsfremde Denken ist die Ursache aller sozialen Krisen und Verfallserscheinungen. Für den modernen Menschen ist die Wirklichkeit dasjenige, was durch unsere Sinne vermittelt wird und das möglichst exakt erfasst werden sollte. Gerade das ist eben nicht die Wirklichkeit, lehrt hingegen die Geisteswissenschaft. Es sind nur Bilder derselben, die wir auf diesem Wege bekommen. Wir können diese Bilder mit unserem Denken ordnen oder fantasievoll umgestalten, und sind auch in der Lage, mit Hilfe mathematischer Erkenntnisse Modelle zu entwickeln und technisch umzusetzen. Gelingt dies, so scheint das ein Beweis dafür zu sein, dass wir der Wirklichkeit sehr nahe sind. Dennoch bewegen wir uns auch da noch in einer Schein-Wirklichkeit. Diese Schein-Wirklichkeit lässt uns frei; sie wirkt nicht auf unser Denken. Wir können in ihr die Erfahrung machen, dass wir selbst es sind, die durch innere Aktivität Gedanken bilden.
Der Preis dieser Freiheit ist, dass wir uns in unserem Denken zunächt immer mehr von der wahren Wirklichkeit entfernen. Wo aber ist diese zu finden, und wie können wir zu ihr gelangen? Die wahre Wirklichkeit liegt hinter einer Schwelle. Wirklichkeitsgemäße Gedanken können wir nur dann bilden, wenn es uns gelingt, diese zu überschreiten. Das ist nicht ungefährlich. Denn in der wahren Wirklichkeit wirken Kräfte auf uns, die überwältigend stark sein können. Es ist daher wichtig, dass wir lernen, diese Schwelle so zu überschreiten, dass wir frei Empfangende und nicht unfrei Überwältigte sind. Das Ziel der anthroposophischen Geisteswissenschaft ist es, hierfür einen sicheren Weg aufzuzeigen. Nur auf einem solchem Wege können die moralischen Impulse gefunden werden, die den Verfallserscheinungen des gegenwärtigen sozialen Lebens entgegenwirken können. Er kann zur Grundlage einer wirklichkeitsgemäßen Sozialwissenschaft werden.
Auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkrieges, am 14. November 1917, hielt Rudolf Steiner vor einem akademisch gebildeten Publikum in Zürich einen Vortrag mit dem Titel: ›Anthroposophie und Sozialwissenschaft‹. Es war der vierte öffentliche Vortrag in einer Reihe, die auf Initiative junger Akademiker ins Leben gerufen worden war. Die drei Bereiche des sozialen Organismus wurden dort erstmals öffentlich behandelt. Dazwischen hielt Rudolf Steiner vor anthroposophischem Publikum Vorträge zum gleichen Thema, welche die okkulten Hintergründe der Zeitereignisse stärker beleuchten. In den öffentlichen Vorträgen stellte er den methodischen Weg der Geisteswissenschaft in den Vordergrund, während er in denen für Mitglieder – aufbauend auf diesen methodischen Grundlagen – auch sehr bedrückende okkulte Zusammenhänge zum Zeitgeschehen beleuchtete. All dies geschah in einer Zeit, in der ein Weltkrieg tobte und die geistige Zusammenarbeit zwischen den Völkern auch durch die jeweilige Kriegspropaganda erschwert wurde.