Die Corona-Impfpflicht in der Diskussion

Wie in unserer Gesellschaft zunehmend materialistisch-utilitaristisches Denken bestimmend wird

Wer, wenn nicht die Liberalen, sollte in der deutschen Politik als Bollwerk gegen das gegenwärtige Abschleifen der Grundrechte und als Hüter der freiheitlichen Verfassungswerte betrachtet werden dürfen? Dies galt zumindest bis zur Verkündung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zur »Bundesnotbremse« am 30. November des vergangenen Jahres. Als Christian Lindner, Bundesvorsitzender der FDP, zwei Tage nach dessen Verkündung verlautbaren ließ: »Wir müssen uns öffnen für eine solche Impfpflicht. Es ist ein scharfes Schwert, aber ich glaube, es ist verhältnismäßig«, da beging er mit Blick auf die verfassungsmäßigen Freiheitsrechte den vielleicht schwerwiegendsten politischen Wortbruch in der deutschen Geschichte der letzten Jahrzehnte. Im Bundestagswahlkampf hatte sich Lindner noch in aller nur denkbaren Deutlichkeit gegen eine Corona-Impfpflicht ausgesprochen, sowohl gegen eine direkte als auch gegen eine indirekte: »[I]ch bin dennoch gegen eine Impfpflicht, auch gegen eine Impfpflicht, indem man den Menschen, die nicht geimpft sind, den Alltag so schwer wie möglich macht. Das wäre eine mittelbare Impfpflicht. Impfen muss eine Frage der Selbstbestimmung bleiben.« Lindners Argument gegen eine Corona-Impfpflicht war die Patientenautonomie, die unbedingt gewahrt bleiben müsse. Nach dieser unzweideutigen Positionierung durfte man die Liberalen in dem guten Glauben wählen, dass diese die Grundrechte standhaft gegenüber etwaigen Anfechtungen durch sich weiter zuspitzende äußere Verhältnisse oder Forderungen anderer Parteien verteidigen würden. Doch weit gefehlt: Schon im Dezember, kaum im Sessel der ersehnten Regierungsmacht, waren Lindner und Teile der FDP nicht nur bereit, im Bundestag einer einrichtungsbezogenen Impfpflicht zuzustimmen, sie haben zudem angekündigt, im neuen Jahr sogar für eine allgemeine Impfpflicht zu stimmen. Angesichts dieser 180-Grad-Kehrtwende in kürzester Zeit müssen sich nicht nur die Stammwähler der Liberalen vor den Kopf gestoßen fühlen, sondern auch jeder Bürger, für den das Versprechen eine moralische Institution darstellt.

Artikel teilen

Erschienen in



die Drei 1, 2022

Ein Virus fordert uns heraus