Renatus Derbidge wirft »unseren Journalen« –
womit wohl die anthroposophischen gemeint
sind – vor, dass sie die Gesprächskultur überbewerten.
Zu Unrecht. Jedenfalls im Hinblick auf
diese Zeitschrift, die seinen »Erlebnisbericht«
gebracht hat. Denn hätte sie in dieser Sache
auch nur ein wenig Wert auf Gesprächskultur
gelegt, so wäre der Artikel dort nicht erschienen.
Pflege der Gesprächskultur besteht ja
wohl nicht in jener »Positivität«, welche bloße
Provokationen, die alle Vorgaben ignorieren,
als wirklichen Diskussionsbeitrag umwertet.
Derbidge erklärt Charlotte Roches Feuchtgebiete
und verwandte »Megabestseller« zu Mysteriendramen
des 21. Jahrhunderts, weil sie
»ein Miterleben ermöglichen an dem Umgang
mit der Ohnmachtsstruktur, der Unmöglichkeit
des Seins«, »eine Preisgabe ohne Erklärung und
Vorbild, wie damit zurechtzukommen sei«. Er
stellt zwar die naheliegende Frage: »Was soll es,
»nur zu zeigen, wie es ist?«, »antwortet« aber,
das moderne Theater komme ohne moralinen
Peitschenhieb, ohne Ausweg aus. Wer es anders
macht, bekommt damit einen – moralinen Peitschenhieb.
Rudolf Steiner lässt gleich im Vorspiel seines
ersten Mysteriendramas die Estella schwärmen
von einem Theaterstück mit dem Titel »Die
Enterbten des Leibes und der Seele«, das sie »in
die tiefen Untergründe unseres gegenwärtigen
Lebens schauen«, »den Pulsschlag der Zeit spüren
« lasse. Ihr graue es vor der Vorstellung, ihre
Freundin Sophia ziehe mit dem folgenden Mysteriendrama
diesem Interesse an »lebensvoller
Kunst« etwas vor, was Estella »doch nichts anderes
zu sein scheint als die abgetane lehrhaftallegorische
Art, welche puppenhafte Schemen
statt lebendiger Menschen betrachtet und sinnbildliche
Vorgänge bewundert, die fern stehen
allem, was im Leben täglich an unser Mitleid,
an unsere tätige Anteilnahme sich wendet.«
Gesprächskultur bestünde doch wohl darin,
dass man solch künstlerisches Eingehen auf
Einwände gegen die Art der Mysteriendramen
nicht einfach ignoriert, um etwas, was Steiner
schon vor mehr als 100 Jahren als unfruchtbar
charakterisiert hat, heute wieder als den wahren
Fortschritt hinstellen zu können.
Derbidge erzählt, ihn habe die Frage geplagt,
wie Steiner heute schreiben oder inszenieren
würde. Derbidge liebt die Plagen – oder
jedenfalls das Schreiben über den »seelischen
Ausdruck der Ohnmacht im Beziehungsgeflimmer
«. Sonst hätte er wohl schon im inneren
Gespräch mit dem Vorspiel ein gutes Stück
Antwort auf seine Frage gefunden: Der Gehalt
der Mysteriendramen ist heute noch deutlich
aktueller geworden, als er vor 100 Jahren war.
Manfrid Gädeke