Klosterinsel und Welterbe

Der Hl. Pirmin (* um 690; † 753) und die Gründung des Klosters Reichenau vor 1300 Jahren

Im Januar 1988 hatte ich Gelegenheit, trotz fest geschlossener Mauer von der DDR an den Bodensee zu reisen. Studienfreunde, die nach gelungener Ausreise in die Bundesrepublik jetzt in Radolfzell lebten, beherbergten mich für einige Tage. Mein erster Weg dort führte mich auf die Insel Reichenau.
Der Zug Richtung Konstanz hielt am Bahnhof Reichenau nahe dem Damm, der seit 1838 die Insel mit dem Festland verbindet. Es war ein kalter, nebliger Tag, an dem man nicht weit sehen konnte; gar nichts von der Kulisse der Alpen im Hintergrund, kaum die nahegelegenen Bäume der Pappelallee.
Was mich hierher zog, war das sichere Gefühl, einen alten, geweihten Ort zu betreten, den ich als Deutsche und Europäerin unbedingt gesehen haben musste. Ich ging die etwa zwei Kilometer allein, einmal überholte mich ein Auto, der Fahrer hielt und bot mir an, mich mitzunehmen. Doch ich lehnte ab, zu sehr hätten mich praktische Erwägungen vom eigentlichen Erleben der Reichenau abgehalten.
Am Eingang zur Insel verdichteten sich die Nebelschwaden noch mehr, und plötzlich trat mir rechterhand eine überhohe graue Gestalt entgegen. Ich erschrak, doch es war nur eine Skulptur, wie ein Wächter der Insel mit hoch erhobenem Kreuz in der Rechten, in der Linken den Krummstab des Bischofs. Darunter stand: »St. Pirmin. 724 Gründer der Abtei Reichenau. Mit Heito, Walahfrid Strabo, Berno und Hermann dem Lahmen Wegbereiter des christlichen Abendlandes.« – Den Namen Pirmin kannte ich bisher nicht.
An jenem Tag sah ich nur die Kirche St. Georg im nahen Oberzell; weiteres musste aus Zeitgründen entfallen. So betrachtete ich diese wunderbare Kirche aus dem 9. Jahrhundert mit ihren berühmten Wandfresken, die sich mit Christi Heilungen befassen. Eine erhebende Stunde. Jahre später konnte ich das Gesehene durch ein Buch von Michael Frensch über die Fresken vertiefen. Vielleicht würde sich später die Gelegenheit ergeben, die weiteren Kirchen in Mittelzell und Niederzell zu sehen und sich gründlicher mit dem geistigen Inhalt der Reichenau zu befassen.
Jetzt, 36 Jahre später, war es so weit. Ein bedeutendes Jubiläum stand an: Vor 1300 Jahren hatte der heilige Pirmin das Kloster Reichenau gegründet. Dies wurde von April bis Oktober unter dem Titel ›Welterbe des Mittelalters‹ mit einer großen Landesausstellung gefeiert, sowohl im Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg in Konstanz als auch auf der Insel Reichenau selbst.
Zu Pirmin sind nur wenige Daten gesichert. Eine erste Übersicht stammt von Gustav Schwab: »Die jetzt so liebliche Reichenau war ehemals (724 n. Chr.) noch ein von schädlichem Gewürme bewohntes, wildes Eiland, das in dem Gebiete eines Austrasischen Landvogtes namens Sintleoz (Sintlas) lag, welcher gegenüber, auf einer […] Burg […] oberhalb Bernang am Untersee, seßhaft war. Sie hieß schlechthin die Aue, auch die Sintlas-Au. Dorthin schickte der Austrasische Hausmajer Karl Martell den helvetischen Bischof Pirminius aus Winterthur, um eine christliche Pflanzstätte zu gründen. Der Bischof erhielt von Sintlas Wohnung, reinigte das Eiland von den Schlangen und gründete eine Abtei. […] Karl Martell stellte das Stift (Reichenau) unter den Schutz des Herzogs Luitfried von Alemannien.«

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die Drei 6, 2024

Bewusstsein der Seele