Liebe Leserin, lieber Leser,


»In der Dichtung eröffnet sich – wie in aller Kunst – die Möglichkeit,
Brücken und Wege bildhaft auszumalen, die über die Schwelle
des Alltagsbewusstseins hinüber führen und dem unvergänglichen
Ich im Menschen Schritt für Schritt Neuland eröffnen.« Mit
dieser Haltung »belauscht« Heinrich Schirmer den neuen Roman
des Amerikaners Cormac McCarthy »Die Straße«. Und auf einmal
erschließt sich ein apokalyptisches Weltuntergansszenario als ein
Weg, auf dem sich »das junge Ich des alten Körpers« (Schirmer)
enthüllt: ein Initiationserlebnis. Voraussetzung für diese Entdeckung
ist eine entsprechende »Landkarte« als Orientierungshilfe
(hier die Begrifflichkeit der anthroposophischen Geisteswissenschaft)
und ein hermeneutisches Verfahren, in dem sich das eine
in dem anderen aussprechen kann.
Ein solches Verfahren verweigert Helmut Zander in seinem monumentalen
Werk über die Anthroposophie und ihre Geschichte. So
kommt Günter Röschert in seiner ausführlichen Analyse zu dem
Ergebnis, dass Zander weder als Philosoph noch als Historiker
gegenüber der Anthroposophie (mit der sich dieser fast eineinhalb
Jahrzehnte akribisch auseinandergesetzt hat) einen ernst zu nehmenden
Zugang entwickelt.
Dass Bücher erst richtig zu leben beginnen, wenn sie eine dem
Inhalt entsprechende äußere Form erhalten, bewegt den Kasseler
Buchkünstler Gerald Aschenbrenner, der den in seiner AQUINarte
presse erscheinenden Büchern eine Sinnlichkeit verleiht, die durch
ihre schlichte Handwerklichkeit besticht und tatsächlich die Aufmerksamkeit
auf den Inhalt lenkt.
Das Belauschen von Büchern (auf unserem Titel das Exemplar
der Gutenberg-Bibel aus der Württembergischen Landesbibliothek)
und anderen Gegenständen gehört zu den Aktionen von
Edgar Harwardt, die er selbst unter dem Motto zusammenfasst:
»Kunst, wo man sie nicht vermutet«. Dabei geht es ihm ebenso
um das Aufspüren als auch das Setzen solcher Momente – um
»der Zerstörung unserer Welt, die sich durch Unaufmerksamkeit
vollzieht, entgegenzuwirken. – Wenn dieser Förderpreis seinem
Namen Ehre machen soll, dann hätte er in der Öffentlichkeit, welcher
der Künstler Edgar Harwardt seine unsichtbaren Gaben vor
die Füße gelegt hat, eine Aufmerksamkeit zu fördern, die begänne,
sich die Augen zu reiben, und zu sehen anfinge.« So endet Joachim
Kalka seine Laudatio anlässlich der Verleihung des Kulturpreises
Baden-Württemberg. – Um diese Aufmerksamkeit auf das was ist
und werden will, um das neue Sehen bzw. Hören, geht es in vielen
Beiträgen dieses Heftes.

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die Drei 10, 2007