Sehen wir uns morgen?

Geistige Perspektiven auf eine menschliche Moralität

Im Herbst gab ich an meiner Waldorfschule eine Deutschepoche zu ›Parzival‹. Ich konnte die maskierten Schüler nicht im Ganzen »sehen« und war auf Spekulationen oder Nachfragen angewiesen. Fehlendes sich vorstellen und das Wahrgenommene deuten muss man freilich auch sonst. Auf der Grundlage einer Beobachtung bilde ich mir einen Begriff, um zu verstehen, was wirklich ist. Aber die Wirklichkeit ist vielschichtig. Menschen können auch ohne Mund-Nase-Bedeckung ihre wahren Gefühle, Motive oder Gedanken verbergen. Man kann sich auch so »bedeckt halten«: weil man ein Geheimnis behütet; weil man den Anderen nicht verletzen will; weil man ihn nicht beeinflussen, sondern frei lassen will; weil man Angst hat zu sagen, was man denkt oder fühlt; weil man nicht genau weiß, was man will oder was man darf; weil man dem Anderen keinen Einblick in die eigene Unbildung gewähren oder ihn nicht mit etwas Unausgegorenem behelligen, gar mit einer eigenen Unpässlichkeit bedrängen möchte. Dieses Spannungsfeld von Sich-Verbergen und -Offenbaren, von Abstand und Nähe hat zunächst noch nichts mit einer allgemeinen Moral oder Wertediskursen zu tun, sondern eher mit Qualitäten wie Vertrauen, Selbsteinschätzung und Takt. Es geht um persönliche Abwägungen. Und doch entscheidet gerade bei Parzival die konkrete individuelle Begegnungsfähigkeit im Augenblick auch über die moralische Reife des Helden. Mit dem Grad seiner Selbstfindung wächst auch das Heil im Umkreis. Erst durch Schuld wird Parzival sehend. Indem er sich selbst erlöst, erlöst er auch den kranken Anderen.

Artikel teilen

Erschienen in



die Drei 12, 2020

Menschsein in Zeiten der Pandemie