Sind die USA am Ende ihrer ökonomischen Macht?

Versuch einer Analyse der Finanzkrise

In den letzten Monaten konnte man staunend verfolgen, wie eine amerikanische Investmentbank nach der anderen entweder vom amerikanischen Staat gerettet werden oder Konkurs anmeldete musste. Auch immer mehr der berüchtigten Hedgefonds geraten ins Trudeln. Doch nicht nur die bisher weltweit führende amerikanische »Finanzindustrie« scheint ihre Vormachtstellung verloren zu haben. Viele US-amerikanische Industriezweige – allen voran die Autobauer – stehen kurz vor der Insolvenz. Hier warten auf das Team des designierten Präsidenten Obama noch gewaltige Aufgaben, die ebenfalls nur mit astronomischen Summen gestemmt werden können; schon jetzt sind Beträge von über 1 Billion Dollar im Gespräch. Dabei haftet im Zuge der Bankenrettungsmaßnahmen der amerikanische Staat schon jetzt für die unglaubliche Summe von 8.500 Milliarden Dollar (etwa ein Sechstel aller auf der Welt in einem Jahr erstellten Waren und Dienstleistungen). Auch wenn es sich bei dieser Zahl »nur« um eine Schätzung des Finanzinformationsdiensts Bloomberg handelt, die nicht stimmen muss, zeigen die Zahlen, dass die Dimension der Probleme noch viel größer ist als die Regierungen sie gerne darstellen. Freilich haben mittlerweile auch alle anderen Länder der Welt riesige Probleme. Die gegenwärtige Krise ist eine globale. Niemand kann sich ihr entziehen. Der Einbruch des chinesischen Exportwachstums von 26 % auf weit unter 9% zeigt, dass dieses Wachstum nur auf einer preisgünstigen »Verpachtung« von billigen Arbeitskräften und Land an ausländische Unternehmer beruhte, die immerhin für zwei Drittel aller Exporte verantwortlich sind.1 Die zwei Billionen Dollar Währungsreserven, die sich China auf diesem Wege verschafft haben, sind keine wirkliche Macht, da es China nicht gelingt, für diese attraktive Anlagen zu finden und sich gleichzeitig genötigt sieht zu verhindern, dass der Dollar zu stark abwertet.2 Und natürlich leckt man in Europa ebenfalls Wunden, weil die meisten Banken – allen voran die Landesbanken – so intelligent waren, ein Großteil der Risiken der amerikanischen Verschuldung verpackt in innovative, aber nicht mehr durchschaubare Finanzprodukte zu übernehmen. Und weil natürlich der amerikanische Nachfrageausfall die hiesige Realwirtschaft vor massive Probleme stellt. Verständlich, dass alle nun hoffen, dass die USA ihre Probleme lösen können. Schließlich wollen alle weitermachen wie bisher und selbstverständlich nebenbei auch noch die Klimakatastrophe in den Griff bekommen. Woher aber nimmt die US-amerikanische Regierung das Geld, um diese umfassenden Rettungsmaßnahmen zu finanzieren? Immerhin beträgt die Gesamtverschuldung des amerikanischen Staates schon jetzt ca. 10 Billionen Dollar. Ebenso leistet sich die USA seit nun fast 30 Jahren ein stetig wachsendes Leistungsbilanzdefizit. Einzig 1991 war die Leistungsbilanz durch die Transferleistungen anderer Staaten zur Unterstützung des Irakkrieges ausgeglichen. Die Verschuldung der privaten Haushalte war im Jahr 2006 mittlerweile so hoch wie die gesamte volkswirtschaftliche Jahresleistung der USA. Eigentlich haben besonnene Ökonomen schon seit Jahren gesehen, dass die USA überhaupt nicht mehr in der Lage sind, ihre Schulden jemals zurückzuzahlen. Aber das macht ja auch nichts, urteilten andere, denn nicht die Höhe der Schulden sei entscheidend, sondern die Fähigkeit, diese zu bedienen. Diese Fähigkeiten hätten die USA, zumal die US-Kapitalertragsbilanz weiterhin positiv sei. Solange das Auslandsvermögen der US-Amerikaner unterm Strich mehr einbringe als das Vermögen, das Ausländer in den USA anlegten, brauche man sich da gar keine großen Gedanken zu machen.3 Nur: Warum bringt denn das Auslandsvermögen der USA, obwohl es relativ immer weniger wird, mehr ein, als das in den USA angelegte Vermögen der Ausländer? Diese Frage kann nur beantwortet werden, wenn man den langfristigen gesamtwirtschaftlichen Trend der letzten 35 Jahre versteht.

Investmentbanken: Bewirtschaftung von Marktschwankungen

Mit dem endgültigen Zusammenbrechen des Systems der festen Wechselkurse im Jahre 1973 und der damit verbundenen Notwendigkeit, die Wechselkurse durch Interventionen der Notenbanken zu stabilisieren, beginnt die Herausbildung eines dominierenden Finanzsektors. Begleitet wird diese Expansion durch das Konzept des Monetarismus von Milton Friedman. Es basiert auf einer weitgehenden Zurückdrängung des Staates aus dem Wirtschaftsleben durch Privatisierung, Deregulierung usw. Durch die Vorgabe fester Geldmengenziele sollten größere Konjunkturschwankungen vermieden werden. Ebenso forderte dieses Konzept eine völlige Liberalisierung des außenwirtschaftlichen Verkehrs: den Abbau aller wettbewerbsverzerrenden Zölle und die Aufhebung aller Kapitalverkehrsbeschränkungen. Politisch umgesetzt wurde dieser Kurs ab 1979 von Margaret Thatcher in Großbritannien und ab 1981 von Ronald Reagan in den USA. Zusammen mit dem ungeheuren technologischen Fortschritt in der Datenverarbeitungs- und Kommunikationstechnologie wurde dafür die Grundlage geschaffen, dass der Kapitalverkehr sich explosionsartig entwickeln konnte. So stiegen zwischen 1975 und 2000 in den Industrieländern die Kapitalimporte für Direktinvestitionen auf das Dreißigfache. Die Kapitalanlagen, die lediglich aus Renditeerwägungen getätigt wurden – also ohne die Absicht, ein Unternehmen zu kontrollieren (sog. Portfolioinvestitionen) –, stiegen sogar auf das Fünfzigfache. In den Entwicklungsländern zeigten die Kapitalzuflüsse erst ab Anfang der 1990er Jahre eine stark ansteigende Tendenz.4 Die Liberalisierung des Kapitalverkehrs diente vor allem den Investmentbanken. Will man die Dimension erfassen, die die Erweiterung des Geschäftsfeldes dieser Banken erfahren hat, so müsste man nicht von Wasser auf deren Mühlen, sondern vielmehr von der Umlenkung ganzer Flüsse in die Turbinen dieser Banken sprechen. Ihre Aufgaben fasst K. H. Pitz wie folgt zusammen:

  1. Globales Vermögensmanagement für institutionelle Investoren (z. B. Pensionsfonds, Versicherungen, Investmentfonds, Wertpapierhäuser) und Großunternehmen (vor allem auch große Banken); dazu gehören vor allem Emissionen von Aktien (Derivaten) und Anleihen, das Management von Fusionen und Übernahmen; die Beratung von Unternehmen (z. B. bei Umstrukturierungen).
  2. Handel mit Wertpapieren, auf eigene und fremde Rechnung.
  3. Management der großen Finanzgeschäfte der öffentlichen Hand, wie Durchführung von Privatisierungen, Begebung von Anleihen, Teilprivatisierungen im Bereich der Sozialversicherung.

4. Vermögensverwaltung für wohlhabende Personen. Der Boden für diese Geschäftsfelder sind die Schwankungen der Märkte. Je höher diese sind, desto schwerer sind die Risiken von Anlagen zu durchschauen und je mehr werden die Anleger professionelle Beratung suchen. Das natürliche Interesse dieses Finanzsektors ist daher, dass die Schwankungen der Märkte möglichst stark sind. Durch die Liberalisierung des Kapitalverkehrs können die Investmentbanken auf die Marktschwankungen selbst Einfluss nehmen. Nun sind die Schwankungen auf Warenmärkten so alt, wie das Wirtschaftsleben selbst. In früheren Zeiten hatten sie jedoch mit realen Bedingungen zu tun. Fielen die Ernten schlecht aus, stiegen die Weizenpreise an. Oder wenn vielerorts in den Ausbau gleichartiger Produktionskapazitäten investiert wurde, entstand ein Überangebot, das der Markt nicht aufnehmen konnte. Diese Schwankungen im operativen Bereich sind auch heute noch vorhanden, werden aber völlig von denen überdeckt, die durch den modernen Finanzsektor ausgelöst werden. Denn diese haben eine viel größere ökonomische Hebelkraft, wie z. B. die Asienkrise 1997/98 gezeigt hat.5 Da die Investmentbanken von dem Ausnutzen von Marktschwankungen leben, versuchen sie das Börsenklima, welches sie für ihre Geschäfte ausnutzen wollen, selbst zu gestalten. Für diesen »inoffiziellen« fünften Tätigkeitsbereich unterhalten sie ganze Stabsabteilungen, die die globalen Wirtschafts- und Finanzmärkte analysieren. Die Ergebnisse werden dann in allen einschlägigen Medien weltweit publiziert. Politiker und Beamte, Unternehmer und Finanzleute des operativen Finanzsektors und ebenso die einfachen Bürger werden durch deren Expertisen in ihrer Meinungsbildung einheitlich formiert. Besonders der Aktienboom der 1990er Jahre, der in der New Economy-Krise endete, war maßgeblich durch diese Analystenbotschaften angetrieben. Pitz entwickelt in seiner Studie anhand dieser Krise ein Vier-Phasenmodell, das das Vorgehen der Investmentbanken verdeutlicht:

  • In der ersten Phase kaufen diese Banken Erfolg versprechende Aktien in großem Volumen auf. Da sie auch beratend bei Fusionen und Übernahmen tätig sind, verfügen sie über Insiderwissen, welches sie nach deutschem Recht gar nicht verwerten dürfen.
  • In der zweiten Phase kommt es zum massenhaften Ankauf von Aktien durch die übrige Finanzwelt. Jetzt kommen die Expertisen der Analysten zum Zuge, die deutlich machen, dass gerade die Aktien, deren Kurs schon durch den Einstieg der Investmentbanken hochgetrieben wurde, noch weiter steigen werden. Dies sind natürlich sich selbst erfüllende Prognosen, weil nun die gesamte Finanzwelt nach diesen Werten giert. Der Trend wird von Expertenseite immer weiter mit Fakten und Analysen unterstützt, bis die ersten Amateure ebenfalls einsteigen.
  • Die hype machine wird aber erst in der dritten Phase richtig gestartet. Nun gilt es, ein noch viel größeres Anlagevolumen zu aktivieren. Ziel ist es, die Bürger, die attraktivere Anlagen für ihre Ersparnisse suchen (und von ihren Bankberatern entsprechend »bequatscht« werden), in Massen an die Börse zu holen. In den Medien werden nun fast ausnahmslos positive Wirtschafts-und Finanznachrichten publiziert, wodurch auch die Politik in den Sog dieses Hype gezogen wird. Gesetze werden so angepasst, dass sie der Finanzindustrie genehm sind. – Das Ende der dritten Phase bezeichnet Pitz als »Dienstmädchenhausse«. Nun wollen auch Anleger ohne jegliche Fachkenntnis die Chance eines scheinbar unaufhaltsam und allgemein um sich greifenden Reichtums nutzen. Genau dann beginnen die Investmentbanken aber aus dem Markt auszusteigen. Der dadurch bewirkte Druck auf die Kurse soll jedoch so lange wie möglich kompensiert werden, damit die Investmenthäuser ihre Papiere weiterhin zu Höchstkursen veräußern können.
  • Es beginnt die vierte Phase: Die Analysten raten nun den Marktteilnehmern nicht nur Nervenstärke zu bewahren und ihre Bestände zu »halten«, sondern versuchen sie sogar zum Nachkaufen zu bewegen.6 Auf diesem Wege werden riesige Vermögensbestände, die ursprünglich durch realwirtschaftliche Arbeitsleistungen entstanden sind, in die Hände derer gelenkt, die geschickt auf der Klaviatur der sog. Finanzdienstleistungen spielen können.

Die gegenwärtige Finanzkrise unterscheidet sich von der New Economy-Krise zum einen dadurch, dass neben den Investmentbanken verstärkt Hedgefonds zum Motor des neuen globalen Umverteilungszyklus geworden sind, zum anderen, dass neue »Produkte« mit einer neuen Gestaltung eingesetzt wurden, um die Spekulationswelle in Gang zu setzen. Ausgangspunkt waren ähnlich wie bei der Asienkrise Kredite für Immobilien. Aber auch für weniger langlebige Konsumgüter wurden bereitwillig – insbesondere über Kreditkarten – Kreditlinien eingeräumt. Die hohe, politisch auch gewollte Konsumneigung der amerikanischen Privathaushalte, die laxe Geldpolitik des Fed und die Bereitschaft des Auslandes, kritiklos immer mehr Kapital der amerikanischen Wirtschaft zur Verfügung zu stellen, sorgten dafür, dass eine große Menge an Krediten in den Markt gedrückt und dadurch ein großes Umverteilungsvolumen aufgebaut werden konnte. Dieses Vorgehen erforderte Techniken, die es erlaubten, auf die Bonität der Schuldner keine Rücksichten mehr nehmen zu müssen. Die Kredite wurden sofort weiterverkauft, allerdings nicht als Einzelkredite, sondern in Bündel verpackt, die so komplex gestaltet waren, dass selbst professionelle Marktteilnehmer bei der Qualitätsbeurteilung überfordert waren. Diese wurde dann Rating-Agenturen überlassen. So könnten, behauptete man, die Risiken von Krediten auf eine möglichst breite Basis verteilt werden. Einzelne Kreditausfälle würden durch Erträge der andern Kredite im Bündel kompensiert, so dass sie im Ganzen eine sehr sichere Anlage darstellten. Verschwiegen wurde dabei, dass dieses alles nur funktioniert, solange die Kreditblase wächst. Verschwiegen wurde auch, dass auf diesem Wege jegliches Vertrauensverhältnis zwischen Bank und Schuldner zerstört wird. Nach dem Platzen der Blase wussten selbst die professionellen Marktteilnehmer wie die Geschäftsbanken zunächst nicht, welche Leichen sie eigentlich im Keller liegen hatten.

Goldene Zukunft für Superreiche

In Anbetracht der beschriebenen Techniken, kann man daher eine Ahnung bekommen, warum die USA trotz ihres »Triple-Defizits« (Staatsverschuldung, Privatverschuldung u. Leistungsbilanzdefizit) in der Vergangenheit immer eine positive Kapitalertragsbilanz hatten. Dieses hat nicht nur den Grund darin, dass China und die OPEC-Staaten ihre Devisenreserven in niedrigverzinsten US-Staatsanleihen anlegten. Es hat auch nicht nur damit zu tun, dass amerikanische Firmen mit Niederlassungen im Ausland etwa höhere Erträge erwirtschaften als ausländische Niederlassungen in den USA. Es hat zu einem guten Teil auch damit zu tun, dass die US-Finanzindustrie es bisher erfolgreich verstanden hatte, weltweit Vermögensbestände zu ihren Gunsten umzuverteilen. Stutzig macht, dass diesmal die meisten US-Investmentbanken und Hedgefonds scheinbar selbst Opfer der Krise geworden sind und, wie Eingangs erwähnt, mit Billionen-Dollar-Programmen gerettet werden müssen. Sogar Goldman Sachs, einer der einflussreichsten Investmentbanken der Welt, schreibt mittlerweile Milliarden-Verluste. Hatten diese Institutionen nun etwa ein Rad gedreht, das sie selbst nicht mehr beherrschen konnten? Oder wird nun ein ganz ausgebuffter Schachzug gespielt? Diese Frage könnte selbstverständlich verschwörungstheoretisch gedeutet werden. Etwa so, als ob die Regierung der USA mit den Spitzen der amerikanischen Finanzindustrie einen riesigen Coup ausgeheckt hätten, mit dem sie nun den Rest der Welt übers Ohr hauen. Langfristige Strategien gehören zum selbstverständlichen Handwerkszeug großer Konzerne. Es wäre doch merkwürdig, wenn die Führungsspitzen des globalen Finanzkapitals da eine Ausnahme machen würden. Pitz zeigt in seiner Studie auf, dass die wichtigsten politischen Entscheidungen vom globalen Finanzkapital unter dem Deckmantel der »global governance« durchgesetzt werden. Das heißt, das globale Finanzkapital benutzt durch geschickte Umgehung der demokratischen Legitimierung die Regierungen zur Durchsetzung seiner Interessen. Sein wichtigstes Instrument ist dabei die Regierung der mit Abstand größten Volkswirtschaft der Erde. Das heißt nicht unbedingt, dass die Interessen deshalb identisch sein müssen. Da seit Mitte 2006 der ehemalige Chef von Goldman Sachs, Henry Paulson, das US-Finanzministerium führt, ist jedoch derzeit von einer starken Interessenidentität auszugehen. Die Frage, ob mit dem Niedergang der Investmentbanken eine langfristige Strategie verbunden ist, in dem Sinne, dass vielleicht nur das Werkzeug gewechselt wird, ist somit nicht unberechtigt. Investmentfonds und Hedgefonds7 arbeiten nicht bloß mit eigenem Kapital, sondern vor allem mit den Einlagen von Anlegern. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein amerikanischer Hedgefonds mit in Europa entstandenen Überschüssen ein europäisches Unternehmen aufkaufen und gewinnbringend ausnehmen konnte, weil den europäischen Anlegern die Renditen dieses Hedgefonds sehr interessant erschienen. Der größte Teil der Gewinne wird bei Hedgefonds und Investmentbanken jedoch nicht an die Teilhaber ausgeschüttet, sondern geht in Form exorbitanter Boni an deren Management. Weil die Gewinne im internen Kern schon längst privat entnommen wurden, ist es somit möglich, hochriskante Strategien zu fahren, die zuletzt im Totalverlust enden. Die Führungskräfte sind dann nur scheinbar betroffen, weil sie sich finanziell schon längst abgefunden haben.8 Kann man schon jetzt voraussehen, wie ein neuer Umverteilungszyklus eingeleitet wird und welche Zukunftsstrategien das globale Finanzkapital nun anstrebt? Schon beginnen die Vertreter des Neoliberalismus wieder zu trommeln: Nicht Investmentbanken und Hedgefonds hätten Schuld an der Krise, sondern einzig der Staat, der die Bedingungen für diese »Überschuldungskrise« geschaffen habe. 9 Die Frage, ob Anhänger des Neoliberalismus nicht selbst im Vorfeld dafür sorgten, dass sich der Staat genau so verhält, wird schlichtweg ausgeblendet. Manchmal findet sich aber gerade in solchen neoliberalen Kommentaren ein Hinweis darauf, wie eine der angesprochenen Zukunftsstrategien aussehen könnte.10 Denn sie zeigen eine bestimmte Denkstruktur.

Auch Neoliberale stellen sich die Frage, woher die USA denn nun das viele Geld nehmen, um ihre Banken zu stützen und ob dieses den Steuerzahler nicht ungebührlich hoch belaste? Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler und Sozialpädagoge Gunnar Heinsohn, der sich auch viel mit der Frage der demographischen Entwicklung von Völkern befasst, gibt darauf eine interessante Antwort: der Ex-Investmentbanker Paulson könnte die 700 Milliarden Dollar, über die er zur Rettung der Banken verfügen darf, sehr sinnvoll investieren. Denn mit diesem Geld würde er für den amerikanischen Staat die scheinbar wertlosen Hypotheken der Banken ankaufen. Damit hätte er aber auch das Recht auf deren spätere Verwertung. Nun müsse man wissen, dass in Europa und Japan die Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten stark abnehmen, in den USA aber stark zunehmen wird. Heimsohn zieht hierzu eine Studie des US Census Bureau vom August 2008 heran. Danach wachse die Bevölkerung der USA von jetzt 310 Millionen bis ins Jahr 2050 um mindestens 130, wenn nicht gar um 210 Millionen Menschen. Über ein Drittel davon sollen ausgesuchte Einwanderer sein, die Mittel für den Hauserwerb schon mitbringen. Das schaffe eine ungeheure Nachfrage nach Immobilien. Die knappe Billionen Dollar, die die USA in dieser Weise für die Rettung der Banken anlegt, könnten schon in einigen Jahren viele Billionen Dollar an Ertrag bringen.11 Zum einen ist doch merkwürdig, dass dieser Anhänger des neoliberalen Denkens plötzlich keine Probleme mehr damit hat, dass sich in diesem Szenario plötzlich der Staat selbst als Investmentbank geriert. Im Gegenteil, das Erfolg versprechende Investment wird sogar gelobt. Zum anderen kommt ein sehr eigentümliches Verständnis des Wirtschaftens zum Vorschein. Nicht das Erstellen und Austauschen von Leistungen steht hier im Vordergrund, sondern einzig die Frage, wie der Einzelne seine Vermögenswerte geschickt einsetzen kann, um bei minimalem Aufwand den größtmöglichen Ertrag zu erzielen. Hat man günstig die Verfügungsgewalt über Vermögenswerte erlangt, so muss man nur für die Bedingungen sorgen, die den Wert dieser Vermögen steigen lässt. Das ist aber genau das Denken der Investmentbanker. Versteht man Wirtschaften als »Aktivieren von Eigentumsrechten« (Heinsohn), dann sind die USA noch lange nicht am Ende ihrer ökonomischen Macht. Zwar haben sie seit Jahren mit einem Nettoabfluss von Vermögenswerten zu kämpfen. Sollte aber tatsächlich daran gearbeitet werden, dass in Zukunft die Reichen dieser Welt – und hier wird vermutlich auf die Erben geschielt, die weniger Bindung an ihre alte Heimat haben, weil sie mit der Entstehung der Vermögenswerte nichts zu tun haben – in die USA abwandern, dann wird in der Tat der amerikanische Staat profitieren, auch, wenn viele der jetzt leer stehenden Häuser in ein paar Jahren verfallen sind und wieder neu erstellt werden müssen. Es müssten dazu nur besonders gute Bedingungen für Reiche geschaffen werden. Die weltgrößte Militärmacht hat dafür die denkbar besten Vorrausetzungen. Die Entwicklung in Europa könnte hingegen darauf hinauslaufen, dass sich die Bedingungen für Reiche eher verschlechtern als verbessern, was deren Abwanderung begünstigen würde. Denn die in Europa favorisierte Strategie ist, die Probleme durch bessere und koordiniertere staatliche Aufsicht in den Griff zu bekommen. Die Menschen mögen es aber nicht, wenn ihnen ständig bei ihren Geschäften ein staatlicher Kontrolleur über die Schulter guckt. Deswegen werden sie Strategien entwickeln, sich diesem zu entziehen. »Mehr Staat« ist daher in der Tat überhaupt keine Lösung für diese Problematik. Wenn Europa sich wirklich vor solchen Umverteilungsstrategien schützen will, dann müsste endlich die Eigentumsfrage neu gestellt werden. Denn solange Vermögenswerte wie Grund und Boden und Produktionsmittel frei handelbar sind, werden sie Grundlage für das Wirtschaftsleben schädigende Spekulationen. Gelänge es, ein Eigentumsrecht zu entwickeln, welches zum einen dem Unternehmer die volle individuelle Verfügbarkeit über die Produktionsmittel garantiert, insofern diese sich auf die Erstellung wirtschaftlicher Leistungen bezieht, zum anderen aber den Übergang an einen neuen Eigentümer anders als durch einen Kaufakt organisiert, dann würde von Europa wirklich etwas Neues ausgehen. Der Osten würde eine solche Entwicklung sicherlich mit dankbarem Interesse verfolgen. Eine solche Änderung des Eigentumsrechtes müsste dabei gar nicht auf einen Schlag erfolgen. Man könnte ebenso gut, wie Ramon Brüll es vorschlägt, neben den bestehenden Rechtsformen für Unternehmen zunächst die Form einer »Gesellschaft mit unveräußerlichem Kapital (GmuK)« einrichten und diese in besonderer Weise steuerlich begünstigen.12 Rettungsmaßnahmen von Unternehmen, vor allem solche, die sich durch Fehlspekulationen ruiniert haben, könnten dann dahin gehen, dass sie in »GmuKs« umgewandelt werden.

Anmerkungen

1 Vgl. Josef Joffe: Abendland ade? Keinesfalls. Die Krise zeigt gnadenlos die Schwäche Asiens, in: Die Zeit Nr. 49, 7.11.2008 (http://www.zeit.de/2008/49/ Zeitgeist-49). Mittlerweile wird das chinesische Exportwachstum noch wesentlich niedriger geschätzt. 2 Vgl. meinen Beitrag Der Oberegoist und seine Gefolgschaft in: die drei 3/2008, S. 8-13. 3 So in etwa ist der Tenor einer Studie des Deutsche Bank Research aus dem Jahre 2007: US-Leistungsbilanzdefizit: Keine Panik! (http://www. dbresearch.de/PROD/DBR_INTERNET_DE-PROD/ PROD0000000000212024.pdf). 4 Vgl. Karl H. Pitz: Investmentbanking übernimmt die Führung von Global Governance. Frankfurt/Main 2005, S. 20 (www.macroanalyst.de). 5 Vgl. Pitz, a.a.O., S. 38. 6 Vgl. ebd., S. 45ff. 7 Qualitativ besteht kein großer Unterschied zwischen einer Investmentbank und einem Hedgefonds. Auch wenn es autonome Hedgefonds gibt, sind die meisten doch nur besondere Instrumente der Investmentbanken, die von diesen gemanagt werden. 8 Vgl. auch Karl H. Pitz: Global Financial Capital in der Krise. Zur Zukunft der systemischen Entwicklung, Frankfurt/Main, 1. November 2008 (www. macroanalyst.de). 9 Constantin Magnis/Gunnar Heinsohn: Fünf Trugschlüsse der Finanzkrise, in: Cicero 11/2008 (http:// www.cicero.de/97.php?ress_id=6&item=3054). 10 Man kann davon ausgehen, dass in solchen Kreisen immer mehrere Strategien gleichzeitig verfolgt werden. 11 Vgl. Constantin Magnis/Gunnar Heinsohn, a.a.O. 12 Vgl. Ramon Brüll: Treuhandwirtschaft und unveräußerliches Kapital, in: Info3 11/2008, S. 81-86.

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