Zwischen den Jahren – Zeitbild

Heute hat Ahmed Dienst, mein Lieblingskellner im türkischen Café. Es wird betrieben von einem großen Clan. Alle sind miteinander verwandt, unzählige Brüder, Onkel, Cousins – nur Männer bedienen hier. Ich kenne die meisten seit Jahrzehnten, hart arbeitende Menschen in ihrem Alltag, alles andere als kriminell. Aber das ist nur die eine Ansicht eines Vexierbildes. Wenn man es kippt, erscheint eine andere Figur: die Clanstruktur. Dieses Cafe ist, neben anderen Gastronomiebetrieben der Kleinstadt, Teil einer Geldwäschemaschinerie. Zu Beginn wurden die wirklichen Verhältnisse gelegentlich sichtbar. Es kamen drei graue Männer – das ist nicht metaphorisch gemeint, sie sahen tatsächlich so aus, irgendwie identisch, hochgewachsene Gestalten in grauen Anzügen. Wenn sie auftauchten, gingen die Jungs in die Knie und küssten ihnen die Hände mit den dicken Ringen. Szenen wie aus einem Mafia-Spielfilm. Inzwischen lassen sich die Geschäfte aus der Ferne steuern, der Hintergrund bleibt unsichtbar. Ich höre nur gelegentlich, dass wieder ein Onkel aus Istanbul einen Betrieb zugekauft hat. Dann wandert ein Teil der Kellner dorthin und eine neue Besetzung erscheint in meinem Café. Ich arbeite hier, ebenso wie die Jungs. Alle kennen die sonderbare Frau, die im Wintergarten für Raucher sitzt und schreibt.

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die Drei 1/2, 2020

»Zur Freiheit sind wir berufen ...«