Die Venus von Lespugue

Der Mensch als dualgebautes Wesen

Die »Venus von Lespugue« ist eine aus Elfenbein geschnitzte Figur von knapp 15 cm Höhe, die in einer Höhle bei Rideaux (Département Haute-Garonne) am Fuße der Pyrenäen gefunden wurde. Sie wird auf ein Alter von etwa 25.000 Jahren geschätzt und gehört damit in die Kultur des Gravettien (Jungpaläolithikum). Sie gehört in einen Formenkreis von Figuren, die wie die »Venus von Willendorf« als Darstellungen einer Muttergottheit, als Symbol der Fruchtbarkeit usw. gedeutet werden. Ich bin der Auffassung, dass diese – vordergründig weiblichen – Figuren nicht physisch zu interpretieren sind, obwohl sie naturalistische Details enthalten, etwa die geflochtene Kopfbedeckung und Frisur der Venus von Willendorf (Alter 30.000 Jahre) oder bei unserem Beispiel eine als Fransenrock gedeutete Applikation auf der Rückseite. Denn dies würde einerseits bedeuten, dass man in der Steinzeit eine in ihrer Übertriebenheit als pathologisch adipös zu bezeichnende Gestalt als Urbild der Gottheit verehrt hätte, und dass man andererseits die menschliche Anatomie nur sehr dilettantisch darstellen konnte, was mangerade dieser Figur aus dem Gravettien vorwerfen müsste: die Proportionen und Maße stimmen nicht. Nach meiner Überzeugung handelt es sich vielmehr um die Darstellung einer Kräftedynamik, und dies in einer menschenkundlich wahren Weise. Ich will im Folgenden versuchen, dies zu erläutern.

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