Betrachtungen einer Reservatsbewohnerin
Als die Welt noch jünger war – wie lange ist das her? Dieses Gefühl der Unbefangenheit dem Leben gegenüber, erst recht im Bewusstsein. Im Willen, der sich, kaum gefasst, nicht sogleich bedroht fühlte von Platzangst oder Erstickungsempfindung. Vielleicht ist das erst rund 25 Jahre her. Das klingt kurz – oder ein Vierteljahrhundert, das scheint etwas länger, obwohl es sich um denselben Zeitraum handelt, nur die Bezugsgröße ist eine andere. Auf kosmische Zeitverläufe bezogen ein Tropfen im Meer, und doch zugleich wieder im menschlichen Maßstab: Aktuell liegt rund ein Drittel der fünften nachatlantischen Entwicklungsperiode hinter uns. Wie dringend müssten wir uns verjüngen im zwischenmenschlichen Leben? Wie könnte sie aussehen, die Jugendlichkeit der Weisheit? Denn das ist ja die kulturelle Zukünftigkeit. Was hereinkommt ins Leben mit der Geburt und der Gebürtlichkeit, an übersinnlichen Impulsen und Energien, ist das eine – das andere ist die Verfasstheit unserer Zivilisation.
Zwischentöne zum Zeitgeschehen
Vor über einem Jahr ist der Krieg mit aller Gewalt über die Ukraine hereingebrochen. Meine Verzweiflung darüber habe ich mir im Sommer 2022 von der Seele geschrieben. Das hat damals einige positive Resonanz bewirkt, da offensichtlich viele Menschen dieselben Fragen in sich bewegten: Wie kann ich für Frieden eintreten und gleichzeitig wollen, dass dieses Land ausreichend militärische Unterstützung bekommen, um nicht unterzugehen? Ein unauflösbares Dilemma, bis heute. Nach dem Artikel wurde ich eingeladen, im ›Forum 3‹ in Stuttgart meine Gedanken zum Thema darzulegen. Der Vortrag fand im Februar 2023 statt, ein halbes Jahr später – und die allgemeine Stimmung hatte sich verändert. Nun bekam ich im Vorfeld der Veranstaltung E-Mails, in denen mir Kriegstreiberei vorgeworfen wurde und ich als »Peinlichkeit« für die anthroposophische Bewegung apostrophiert wurde. Das hat mir zu denken gegeben, in zweierlei Hinsicht: Erstens wurde das Fragezeichen in der Ankündigung einfach ignoriert (»Dienen Waffen dem Frieden?«). Und zweitens hat man mich ziemlich beschimpft – im Namen des Friedens. Wie, so frage ich mich, sollen Kriegsparteien zu einer Lösung kommen, wenn wir uns schon unter Anthroposophen – also Menschen, die sich der Weisheit vom Menschen verpflichtet fühlen! – so unfriedlich begegnen?
Rudolf Steiner und Pazifismus
Während des Ersten Weltkriegs kritisierte Rudolf Steiner mit deutlichen Worten die Parolen mancher Friedensfreunde. Es gebe verblendete Menschen - »sie nennen sich oftmals auch Pazifisten« - die scheinbar höchste Ideale verkünden und »einen dauerhaften, ganz vollkommenen Frieden« anstrebten. Allerdings mit militärischen Mitteln. Wer sage, er »kämpfe für den Frieden und müsse deshalb Krieg führen, Krieg bis zur Vernichtung des Gegners, um Frieden zu haben«, der rede nicht nur Unsinn, sondern lüge. Bei anderer Gelegenheit wies Steiner auf einen Ausspruch des französischen Germanistikprofessors Henri Lichtenberger (1864-1941) hin, der meinte, es schade nichts, wenn der Krieg möglichst lange fortgesetzt werde, wenn nur am Ende ein dauerhafter Friede zustande komme. Die vielen Todesopfer hielt Lichtenberger für unwesentlich.Seit dem Ukrainekrieg 2022 scheint dieser »militante Pazifismus« wieder auf dem Vormarsch zu sein. Selbst die linksgrüne ›tageszeitung‹ (taz) schreibt: »Frieden gibt es erst, wenn Russland militärisch besiegt ist.« Die ehemals mächtige Friedensbewegung hat im Bundestag keine nennenswerte Lobby mehr, keine feste politische Heimat. Wer an diplomatische Konfliktlösungen glaubt, wird als naiv verspottet. Denn dem »Bösen« (in diesem Fall: dem russischen Aggressor) dürfe nicht tatenlos zugesehen werden. Auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung wird der Krieg kontrovers diskutiert.
Alanus ab Insulis wurde um das Jahr 1120 geboren und hat fast das ganze zwölfte Jahrhundert gelebt. 1203 starb er in Citeaux - und derjenige, der folgende Worte als Grabinschrift verfasste, ahnte viellacht, dass ein solcher Geist wiederkehren würde: »Eng ist das Grab und kurz die Zeit, die Alanus hier festhält, / Ihn, der die Zwei und die Sieben, der alles Wissbare wusste.« Vielleicht wurde mit der »Zwei« das Alte und das Neue Testament gemeint, und mit der »Sieben« die Sieben Freien Künste. Dass das Wissbare ihm den Beinamen »Doctor Universalis« gab, war durch die Nachwelt gegeben. Alanus lebte in der Zeit der Kreuzzüge, in der für die politischkulturelle Entwicklung Europas folgenschweren Stauferzeit. Licht und Schatten wechselten damals auf der Bühne des historischen Geschehens dramatisch ab. In einigen Ländern blühte die Kunst der Troubadours, und der Minnesang bewirkte eine Veredelung der Sitten. Es war das Jahrhundert der Grals-Literatur. Wolfram von Eschenbach dichtete an seinem >Parzival<, dem tiefsinnigsten Epos des deutschen Mittelalters. Der Orden der Zisterzienser wirkte nach dem Prinzip des ora et labora, rodete Wälder, drainierte Felder, betätigte sich als Viehzüchter und Baumeister, als Lehrer und Führer unzähliger Seelen.
Zwei Findlinge in der deutschsprachigen Literatur und der Mysterienhintergrund ihrer Werke – Teil I
Heinrich von Kleist (1777-1811) und Georg Büchner (1813-1837) gehören wie Friedrich Hölderlin und Franz Kafka zu den seltenen Dichtern, deren Wirkung lange nach ihrem Tod größer ist als diejenige zu ihren Lebzeiten, und deren Sprache unübertrefflich den Kern des Gesagten trifft - bei Kleist sogar im auch schriftlichen Stottern und bei Büchner als jugendliche Leistung nebenher in einem auf wenige Jahre begrenzten Erwachsenenleben als Akademiker und politisch Verfolgter. Beide waren als Künstler ihrer Zeit weit voraus.Kleist und Büchner erlebten denselben Kulturraum, aber in vollständig voneinander getrennten, wenn auch dicht aufeinander folgenden Zeiträumen. Beide waren sie noch Zeitgenossen Goethes; Kleist gehörte zur Generation seines Sohnes, Büchner zu der seiner Enkel. Als Kleist starb, war Büchner noch nicht geboren; als Büchner starb, nur fünf Jahre nach Goethes Tod, wäre Kleist, hätte er sich nicht das Leben genommen, sechzig Jahre alt gewesen. Ihre Biografien zeigen als Gemeinsamkeit den Scharfsinn des Journalisten und die Ruhelosigkeit beider Persönlichkeiten; im Ganzen können wir jedoch an ihren Werken vor allem eine Polarität erleben: Kleist stellt den Menschen als Mittelpunkt ohne Peripherie dar; Büchner sieht die Menschen aus einer Peripherie, die keinen Mittelpunkt hat. Diese Polarität ist es, worauf im Folgenden die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll: bei Kleist im Wesentlichen aus der Perspektive seiner weiblichen Dramengestalten, bei Büchner in der Perspektive auf die männlichen.
als Wegbereiter freier geistiger Gemeinschaftsbildung
Als Wilhelm von Humboldt mit Goethe und Schiller in Beziehung trat, da hatte seine spätere Ehefrau Caroline von Dacheröden bereits mit beiden Bekanntschaft gemacht. Durch ihre Freundschaft mit Schillers späterer Ehefrau Caroline von Lengefeld war sie in deren Elternhaus bereits beiden Dichtem begegnet. Nach der Heirat wurde Humboldt in den Freundschaftskreis aufgenommen. So eröffnete ihm dies Schicksalsgefüge die Möglichkeit der Entfaltung des ihm ureigenen Vermögens: Vermittler zwischen den »Geistesantipoden«, Goethe und Schiller zu werden und damit die große Kulmination der »Weimarer Klassik« zu befördern. »Er - und kein anderer in diesem Grade -«, schreibt Humboldts erster Biograf Gustav Schlesier, »genoss die Freundschaft Schiller’s und Goethe’s zugleich; er nahm an ihrem Streben, gerade in der ersten Zeit ihrer folgenreichen Vereinigung, den vertrautesten und wirksamsten Anteil.« Und Schillers Biograf Karl Hoffmeister betont sogar: »In der Schule Humboldts wurde er [Schiller] erst für den Umgang Goethes reif.« Er war für Schiller in gewisser Weise, was Schiller für Goethe war: In ihm fand Schiller den »kongenialen Interpreten seiner selbst, den zeitgenössischen Deuter seiner geistigen und geschichtlichen Existenz«. Alle Worte, die Humboldt über Schiller aufzeichnet, zeugen von tiefer, liebevoller Ehrfurcht, wie es etwa aus den Worten klingt, die er drei Jahre nach Schillers Tod nach dem Studium alter Briefe, interessanterweise während eines Besuchs bei Goethe, an seine Frau schreibt: »Mit des armen Schillers nachgelassenen Papieren beschäftige ich mich des Morgens mit der Wolzogen. Es ist höchst merkwürdig zu sehn, wie, mit welcher Sorgfalt er gearbeitet hat. [...] Er bleibt der größte und schönste Mensch, den ich je gekannt; wenn Goethe noch dahingeht, dann ist eine schauerliche Öde in Deutschland.«
Neuere Studien zur ›Philosophie der Freiheit‹ Rudolf Steiners – und das Erwachen aus einer kulturoptimistischen Illusion
Dank ›YouTube‹ ist ein Filmdokument einer im Jahr 1970 stattfindenden Debattierveranstaltung zum Thema Kunst und Gesellschaft einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Das Podium ist mit Arnold Gehlen, dem konservativen Philosophen, und Joseph Beuys, dem Aktionskünstler und Denker der »Sozialen Plastik«, prominent besetzt. Beuys versucht den Zuhörern sein von der Anthroposophie inspiriertes Verständnis gesellschaftlicher Prozesse näherzubringen. Was auffällt: Wohl aufgrund der Schwierigkeit, dem Publikum einige seiner Einsichten nachvollziehbar zu machen, und der Befürchtung, die Zuhörerschaft mit einer allzu fremdartigen Weltsicht zu verprellen, flüchtet der Referent in das Wortaroma einzelner Begriffe, ohne diese näher zu charakterisieren. Verbale Provokationen und der für ihn typische Duktus charismatischer Selbstinszenierung kompensieren, was im Verkehr mit dem Auditorium nicht so recht gelingen mag. Beuys’ verzweifelter Zwischenruf »Wir brauchen eine neue Menschenkunde!« dürfte sich in den Ohren der meisten Teilnehmer, die dabei sicher nicht an Rudolf Steiners Werke zur Pädagogik, zu den Wesensgliedern oder zur Sinneslehre dachten, wie Wortgeklingel ausgenommen haben. Jedenfalls wirft Arnold Gehlen, selbst im Gebrauch präziser Begrifflichkeiten geschult und als Verfasser von Schriften zur .Philosophischen Anthropologie. mit den Menschenkunden eines Helmut Plessner oder Max Scheler bestens vertraut, nicht ganz zu Unrecht ein, dass das, was sein Kontrahent vorbringe, über das Niveau von Phrasen nicht viel hinauskomme.
Warum der ideologische Antirassismus mit Waldorfpädagogik unvereinbar ist
Wer am Ende des 20. Jahrhunderts meinte, ethnische und kulturelle Konfliktlinien gehörten zumindest der Tendenz nach der Vergangenheit an, wird seit rund 10 Jahren eines Besseren belehrt. Hautfarbe, Kultur, Abstammung erfreuen sich als Un-terscheidungs- und Abgrenzungsmerkmale wachsender Beliebthat. Das ist nicht zynisch gemeint, denn Haltungen, die sich an ihnen orientieren, werden öffentlich weithin positiv bewertet. In der Tat pocht mancher darauf, dass erst ihre gezielte Berücksichtigung durch soziale Steuerung umfassende gesellschaftliche Gerechtigkeit ermöglicht. Dieser Trend hat jetzt auch die Waldorfpädagogik erreicht. In ihrer Ausgabe vom November 2022 skizziert die ›Erziehungskunst‹, Leitmedium des Bundes der Freien Waldorfschulen in Deutschland, ein Programm zur Bekämpfung einer »Bedrohung von rechts« und von Diskriminierung an Waldorfschulen, welches sie in mehreren Beiträgen entfaltet. Im Mittelpunkt steht die Forderung, »Antirassismus« solle Kembestandteil einer zukünftigen »Waldorfkultur« werden.
Ein Gesprächsbeitrag
Die aktuell aufflackernde Diskussion um den öffentlichen Umgang mit anthroposophischer Esoterik. ist Ausdruck von Fragen nach der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie sowie nach ihrer Bedeutung für die anthroposophischen Praxisfelder. Beide Fragen sind nicht neu, sondern waren schon zu Lebzeiten Rudolf Steiners virulent. Das Problem liegt vor allem darin, dass die Anthroposophie Inhalte liefert, die den Denkgewohnheiten und materialistischen Vorurteilen der Moderne widersprechen. Wie man sich zu diesen Fragen positioniert, ist davon abhängig, auf welchen Grundlagen die eigene Überzeugung von der Wahrheit der Anthroposophie ruht. Sie kann auf Ahnungen, Gefühlen, Glauben, biografischen Erfahrungen, aber auch auf klaren Einsichten aufgebaut sein. Rudolf Steiner hat die Anthroposophie als Geisteswissenschaft konzipiert, und der wissenschaftliche Zugang zu ihr soll hier betrachtet werden.
Zu Rudolf Steiner: ›Intellektuelle Biographien‹ (SKA 3)
Band 3 der Kritischen Ausgabe von Rudolf Steiners Schriften (SKA) mit dem Titel ›Intellektuelle Biographien‹ präsentiert drei frühe Texte des Autors: ›Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit‹ (1895), ›Goethes Weltanschauung‹ (1897) sowie ›Haeckel und seine Gegner‹ (1900). Der Band erschien 2019 zum 270. Geburtstag Goethes. Im selben Jahr beging man den 175. Geburtstag Friedrich Nietzsches und den 100. Todestag Ernst Haeckels.
Zum Gedenken an Prof. Dr. rer. nat. Wolfgang Schad (27. Juli 1935 in Biberach – 15. Oktober 2022 in Witten)
Die Begeisterung für die Sache und den Anspruch des Forschers auf Genauigkeit hat Wolfgang Schad schon als Schulkind gezeigt. Sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Georg Schad berichtet, dass Wolfgang und er in immer weiteren Kreisen die heimatliche Umgebung ihrer Kindheit in Hildesheim erkundet hätten. »Wolfgang sammelte alles was sein Interesse fand«, und eigentlich habe »alles sein Interesse gefunden.« So wurden Eidechsen, Blindschleichen und Schmetterlinge nach Hause getragen. Dem Vater fiel es zu, die verklebten Hosentaschen zu reinigen. Wolfgang notierte in Listen, welche Vögel sie erkannt hatten und an welchem Ort diese angetroffen worden waren. Wolfgang erklärte Georg, warum das alles von entschiedener Bedeutung sei, leitete ihn zur Hilfe an, und der jüngere Bruder erhielt Zeugnisse für »Fleiß, Treue, Gehorsam etc.«
Zu ›Am See‹ von Kapka Kassabova
Kann ein einzelner Mensch eine Landschaft – und ihre Schicksale – erlösen? Ist das denkbar – oder sogar machbar? Um nichts weniger als diese Frage geht es im jüngsten Buch der bulgarisch-englischen Schriftstellerin Kapka Kassabova, das 2021 auf deutsch erschien und hier vorgestellt werden soll. (Das Original kam 2020 unter dem Titel ›To the Lake. A Balkan Journey of War und Peace‹ in London heraus) »Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, / ist eingeweiht«, sagt Goethe in ›Torquato Tasso‹ (V. 80f.). Wem träten dabei nicht die Landschaften Umbriens, die der heilige Franziskus durchwandelte, vor das innere Auge, um nicht gleich ans biblische Galiläa zu denken – oder, näher bei uns, die Thomaskirche in Leipzig, an der Johann Sebastian Bach wirkte?
Was für Mut braucht Frieden? Diese Frage bildet den Hintergrund des vorliegenden Essays; im Vordergrund ist der Blick zunächst auf Frauen gerichtet, die in der Wanderausstellung ›Friedensimpulse von Frauen‹ des Frauenrats in der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland erwähnt werden. Die Lebenswege der meisten hier genannten Frauen berührten sich mit dem Rudolf Steiners. Dessen nicht leicht zu nehmende Forderung, sich auf einen inneren Kampf einzulassen, der erst die Grundlage für äußeren Frieden bilden kann, greift die anfangs gestellte Frage auf.
Nizier Anthelme Philippe, genannt Maître Philippe de Lyon (25. April 1849 in Loisieuy – 2. August 1905 in L’Arbesle)
Nizier Anthelme Philippe, bekannt als Monsieur Philippe oder Maître Philippe, entdeckte ich in einem Buch von Roland Marthaler, das im Novalis Verlag erschienen ist. Zu dem Zeitpunkt war ich schon einmal in Lyon gewesen. Die Stadt ist sehr alt, von den Römern gegründet und seit dem 2. Jahrhundert bereits christlich. Sie ist das Tor zum Süden Frankreichs, einstige Königsresidenz der Burgunder von 461 bis 534. Eine gesegnete, fruchtbare Gegend am Zusammenfluss von Rhône und Saône. Lyon wird überragt von der 1896 geweihten Kirchenanlage der Notre-Dame de Fourvière, von wo aus man einen wunderbaren Blick über die Stadt mit ihren beiden Flüssen hat, die sich in ihrem Gebiet vereinigen. Linkerhand sieht man den zweiten bestimmenden Hügel der Stadt, die Croix-Rousse. Philippes Geburtsort Loisieux liegt weit dahinter, östlich von Lyon, in den Bergen zwischen Grenoble und Genf. Das Geburtshaus, ein Bauernhaus, stand zu jener Zeit noch außerhalb des Ortes, der auch heute nur 204 Einwohner hat. Damals gehörte Loisieux zum Herzogtum Savoyen, einem Teil des Königreichs Sardinien, heute zur Region Auvergne-Rhône-Alpes.
Erfahrungen mit Schiller
Wie es dazu kam, dass Schiller, ausgerechnet Schiller und dazu auch noch das zeitferne und nur schwer zugängliche Gedicht ›Das Ideal und das Leben‹1 (15 Strophen zu je 10 Versen) meine Widerstandskraft stärkte, soll hier erzählt werden als Beispiel für die oft beschworene, aber auch bezweifelte Kraft der Dichtung.
Zum Film ›Heilige Spiele – Eine Filmwanderung zu Johann Sebastian Bach‹ von Rüdiger Sünner
Zwei Hände entnehmen einem Instrumentenkoffer die Teile einer Querflöte. Umsichtig werden sie zusammengefügt. Im dunkel abgehängten Raum – jede Ablenkung vom Wunder des Klangs als Resultat einer intimen Begegnung zwischen Mensch und Instrument unterbindend – setzt ein Mann in schwarzem Hemd die Flöte an die Lippen. Es ist der Regisseur selbst, den wir am Werk sehen, dem wir zuschauen, wie er ein Geheimnis zum Leben erweckt: das Geheimnis, wie eine uns geschichtlich und hinsichtlich der Umstände, unter denen sie entstanden ist, so ferne Komposition zutiefst bewegen kann – während uns vieles andere und scheinbar Zeitgemäßere kalt lässt.
Nein, besonders elegant und wendig kommt es nicht daher, dieses Wort. Es wirkt eher träge und schwerfällig, ja, ein wenig plump. Mit geneigtem Kopf gewissermaßen, obwohl nicht ohne Kraft. Für das trottende, sich auf den Boden niederlassende, das ruhende oder schlafende Tier scheint der Name ganz gut geeignet. Für den unaufgeregten Hofhund vielleicht, für das Tier in einer bestimmten Lage, Verfassung und Funktion. Im .brigen fühlt sich der Oberbegriff nur für einen kleinen Teil der domestizierten Tiere richtig stimmig an. Für die schlanken Sprinter oder die feingliedrigen kleinen Sorten ist das Wort mehr ein Behelf.
Archivmagazin. Beiträge aus dem Rudolf Steiner Archiv, Nr. 12 / Oktober 2021
Im Unscheinbaren tüchtig sein
Nicht um Geometrie geht es in diesem Heft – aber wenn man ein durchgehendes Motiv feststellen möchte, dann ist dieses nicht inhaltlicher Natur. Viele, zum Teil sehr verschiedene Themen werden in den hier versammelten Beiträgen behandelt. Doch gehen oft zwei Artikel in dieselbe Richtung – wie Parallelen. Zu allen anderen zeichnen sie sich hingegen nur durch eine mehr oder weniger große Nähe aus – wie Parabeln. Die folgenden Zeilen können deshalb auch als Wegweisung verstanden werden, wie man das Heft am besten kreuz und quer liest.
Erscheinungsformen des Materialismus heute und vor 100 Jahren
Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags stehen zwei Vorträge aus dem Zyklus ›Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha‹ (GA 175). Rudolf Steiner hat diese Vorträge am 27. Februar 1917 und am 6. März 1917 in Berlin gehalten. In dem Vortrag vom 27. Februar spricht Steiner am Schluss über den Kinematographen (was wir heute Film nennen). Da heißt es: »Ein besonders hervorragendes Mittel, den Menschen in den Materialismus hinein zu jagen, ist das, was von diesem Gesichtspunkte aus kaum bemerkt wird: der Kinematograph. Es gibt kein besseres Erziehungsmittel zum Materialismus als den Kinematographen.«
Zu Philip Kovce & Birger P. Priddat (Hrsg.): › Selbstverwandlung‹*
Seit einem Vierteljahrhundert wird von Kennern der technischen Entwicklung immer wieder die Sorge geäußert, dass die von uns erschaffenen Technologien uns Menschen abschaffen. Im Frühjahr des Jahres 2000 veröffentlichte Bill Joy, der Mitgründer von Sun-Microsystems, im US-Magazin ›Wired‹ seinen berühmten Aufsatz ›Why The Future Doesn’t Need Us‹, der weltweites Aufsehen erregte. Darin beschrieb er die Entwicklung der verschiedenen neuen Technologien, vor allem der intelligenten Maschinen, und stellte am Ende die Frage, wie groß das Risiko sei, dass wir uns selbst durch diese Technologien ausrotten – es ist sehr hoch.
Zu Gerd Koenen: ›Im Widerschein des Krieges‹*
Jeder Mensch, der heute nicht nur bloß dahinlebt, ist betroffen und belastet durch den Krieg in der Ukraine; als verheerendes Unwetter, als Entsetzen, als dunkles Rätsel hängt er über Europa und der Welt. Dieser Krieg hat inzwischen eine Flut von Büchern hervorgebracht, die ihn erklären, Thesen vertreten, Emotionen und Hass schüren, Friedensappelle an die Welt richten und kluge Diskurse darüber führen, wie es dazu kommen konnte. Kein Buch aber – soweit ich das überblicke – gibt Kunde von einem »Nachdenken über Russland« angesichts eines Krieges, dessen mörderischen Schein uns die Medien zeitnah und unmittelbar ins Haus bringen. Als Widerschein im menschlichen Denken, Betrachten und Beurteilen sich spiegelnd, wird dieser Krieg zwar nicht weniger höllisch, ist aber kein lähmendes Fatum mehr.
Der Staat als Gefährder des individuellen Selbstbestimmungsrechtes des Menschen
Jeder Krieg führt zu eklatanten Verletzungen der Menschenrechte. Der vorliegende Artikel zeigt anhand der gegenwärtigen Konfliktsituation, dass der Staat seinem Wesen nach nicht in der Lage ist, die Menschenrechte wirksam zu schützen, sondern dass es darauf ankommt, diese gegenüber dem Staat behaupten zu können. Dazu bedarf es einer Kraft, die nur in einem vom Staat unabhängigen Gebiet aufgefunden werden kann. Gelingt es, dieses Gebiet neu zu erschließen, so können auch die moralischen Kräfte aufgefunden werden, die es ermöglichen, Konflikte der Völker wirksam zu befrieden.
Erklärungsansätze für die Stille der Hochschulen in den Corona-Jahren – Teil I
Kurz nach Ende des Wintersemesters 2021 lief ich über den leeren Campus einer westdeutschen Universität. Eilte im kalten Wind über einen offenen Platz, der wohl einmal als Agora angelegt worden war, ein weiträumiger Treffpunkt im Freien. Anfang der Siebziger Jahre, als die Reformen der Bundesregierung unter Willy Brandt es begabten jungen Menschen aus allen Schichten ermöglichen sollten, ein Studium aufzunehmen. »Mehr Demokratie wagen« – das war der Slogan damals.
Rudolf Steiners Ringen um ein »richtiges Anschauen des Anthroposophischen«
Können wir das Weltgeschehen beeinflussen, oder sind wir zum tatenlosen Zuschauen verdammt? Die Antwort Rudolf Steiners darauf ist ebenso radikal wie den gängigen Vorstellungen zuwiderlaufend: Der Einfluss, den wir nehmen können, ist kein politisch-sozialer oder ökonomischer, wie man heute meistens glaubt, sondern unser Einfluss liegt in unserem Denken. Nicht aber in dem, was wir denken, sondern in dem, wie wir es tun: Die zusammen mit unserer Geburt in die Erde hineingestorbenen Gedanken müssen dieser als ein Lebendiges wieder entrungen werden. – Angesichts des Erdengrabes, in das das Goetheanum in der Silvesternacht 1922/23 hineingesunken war, rang RudolfSteiner darum, dass dieses Alles-Entscheidende verstanden werde. Der vorliegende Artikel gilt der Darstellung dieses Ringens, dessen Notwendigkeit bis heute ungebrochen fortbesteht.