Zu Klaus Hartmann: ›Albert Steffen. Die jungen Jahre des Dichters‹
Lange wurde auf eine Biografie zu Albert Steffen (1884–1963) hingearbeitet. Der Gedanke daran ist – wie Herausgeberin Christine Engels und Autor Klaus Hartmann im Vorwort des nun vorliegenden 1. Bandes dieser Biografie berichten – fast so alt wie die Albert-Steffen-Stiftung selbst, die der Dichter kurz vor seinem Tod 1963 gegründet hatte. Um dies zu verwirklichen, waren u.a. unglaubliche Mengen an Tagebüchern zu bewältigen. Steffen hatte seit seinen Jugendjahren Tagebuch geschrieben, und seit 1906 sind diese Aufzeichnungen lückenlos erhalten. Die Übertragung derselben in Schreibmaschinenabschrift umfasst allein 23.000 Seiten. Neben dem umfangreichen dichterischen Schaffen mit seinen 70 veröffentlichten Werken aller Literaturgattungen befinden sich im Hintergrund zahlreiche unveröffentlichte Manuskriptentwürfe, Fragmente und Notizen sowieeine umfangreiche Korrespondenz.
Zu Rudolf Steiners Holzskulptur des ›Menschheitsrepräsentanten‹
Wer ist der »Menschheitsrepräsentant« – eine der vielen Begriffe, mit denen Rudolf Steiner die Mittelfigur seiner neun Meter hohen Holzplastik bezeichnete? Bin auch ich es? Ist es der durch Tod und Auferstehung gegangene Christus? Kann ich es werden, wenn ich mich mit ihm verbinde? Die Holzskulptur stellt diesen Menschheitsrepräsentanten in das Spannungsfeld zweier antagonistischer Kräfte, die zu Wesenheiten verdichtet sind: den sich ins Licht wie auflösenden Luzifer und den sich an die Erde bindenden Ahriman. Ersterer bleibt ganz im eigenen Innenraum von Kopf und Brust, ohne Verbindung zur äußeren Welt; mit ihm nimmt die schöpferische Phantasie ihren freien Lauf. Letzterer ergibt sich ganz den irdischen Kräften, die ihn zum Skelett erstarren lassen; seine fledermausartigen Flügel lassen keine geistigen Höhenflüge zu, wohl aber pragmatisches Denken und Handeln. Anders ausgedrückt: Folge ich allein Luzifer, gerate ich in eine Welt gefühlvoller Gedanken, die zur Illusion werden; folge ich ausschließlich Ahriman, schaffe ich eine automatenhafte Wirklichkeit, aus der das eigentlich Menschliche verschwindet.
Wie stehen wir heute in der Welt?
Ein kleiner Ausflug in die Sprache zu Beginn. Denn das Wort, das geteilte – an dem man miteinander Anteil nimmt – ist unsere In-Formation. Darin sind wir, wie die Zugvögel, auf Himmels- und Erdenreise. Wer fragt, nimmt Anteil am Leben des anderen. Wer dazu etwas sagt, spricht nicht über sich, sondern von sich aus – in den anderen hinüber. Darin sind beide eins im Gespräch. In der Formation, im Geist der Reise, im Unterwegssein des geistigen Lebens. Letzteres ist Begegnung: Intuition von Wesen, die einander durchdringend sich selbst erkennen, eins im anderen. Dieses große Du-Geschehen üben wir im Ich auf Erden, im Wort. Darum danke ich dir für deine Frage, die diesen Text entstehen lässt.Im Grunde sind es deine Worte, die – geistig ausgeflogen mit mir – nun wieder heimkehren zu dir. Aber es ist noch ein Dritter im Spiel, und wie wunderbar, dass du mit diesem ebenfalls in Kontakt stehst und so seinem Wort unmittelbar begegnen kannst: Rudolf Steiner, dem die zunächst folgenden Gedanken verdankt sind.
Zu Andrej Belyj: ›Istorija stanovlenija samosoznajuščej duši‹ [= ›Geschichte des Werdens der Selbstbewusstseinsseele‹]
Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass das Erscheinen von Andrej Belyjs bislang nur fragmentarisch bekannter, monumentaler ›Geschichte des Werdens der Selbstbewusstseinsseele‹ an ein Wunder grenzt und in die Zuständigkeit nicht nur der Philologie, sondern auch der Archäologie fällt. Wie ein Skriptorium nimmt es sich aus, entdeckt bei einer Ausgrabung am Toten Meer, obgleich die Zeitspanne, die seine Niederschrift von unserer Gegenwart trennt, keine hundert Jahre beträgt. In seiner Heimat wie im Westen ist der Autor von ›Die silberne Taube‹ (1910) und ›Petersburg‹ (1913) vor allem als Dichter und Romancier bekannt. Man stellt ihn in eine Reihe mit James Joyce, Marcel Proust und John Dos Passos oder auch William Faulkner, zumal – schon ob seines zeitlichen Vorrangs – als primus inter pares. Weniger bekannt ist er als Kulturphilosoph und Zeitkritiker: als Autor der Studie ›Rudolf Steiner und Goethe in der Weltanschauung der Gegenwart‹ (1917) etwa, des meisterhaften Versuchs einer kritisch-philosophischen Letztbegründung der Anthroposophie, oder der drei zwischen 1916 und 1918 verfassten »Krisen« (›Die Krisis des Lebens‹, ›Die Krisis des Gedankens‹, ›Die Krisis der Kultur‹), die cum grano salis als Vorwegnahme von Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹ gelten dürfen.
Zu Sergej O. Prokofieff: ›Rudolf Steiner – Fragment einer spirituellen Biografie‹
Wie das vor zwei Jahren hier ebenfalls besprochene Buch ›Rudolf Steiner und die Meister des esoterischen Christentums‹1 erschien im vergangenen Jahr posthum ein weiterer Titel von der Hand Sergej O. Prokofieffs: ›Rudolf Steiner – Fragment einer spirituellen Biografie‹. Fragment blieb diese 1984 begonnene Arbeit über frühere Inkarnationen Rudolf Steiners, weil der Autor die geplanten Kapitel über Ephesos, Athen, die Gralszeit und das scholastische Hochmittelalter zu Lebzeiten nicht hatte ausführen können. Zu den erhaltenen drei Kapiteln über die Menschheitslehrer und die Mission Rudolf Steiners, über das Gilgamesch-Epos sowie über Enkidu und die nathanische Seele fügte er im Jahr 2014, kurz vor seinem Tod, ein viertes Kapitel hinzu, in dem er den karmischen Werdegang Rudolf Steiners zusammenfassend betrachtet – anstelle der ungeschriebenen Teile. Dieses letzte Kapitel verfasste er in deutscher Sprache, während die drei zuerst genannten Kapitel von Hans Hasler aus dem Russischen übersetzt wurden. Das ist erwähnenswert, weil die durch Hasler erreichte deutsche Sprachform dem Leser erfreulich entgegenkommt.
Zu Judith von Halle: ›Schwanenflügel – Eine spirituelle Autobiographie‹
Das Phänomen Judith von Halle erregte – und erregt vielleicht auch immer noch – die anthroposophischen Gemüter. Sie hatte im Jahre 2004, während ihrer Tätigkeit als Sekretärin im Berliner Arbeitszentrum der Anthroposophischen Gesellschaft, Stigmata bekommen. Fragen brachen auf: Ist es angemessen, derart starke übersinnliche Erlebnisse zu haben? Und dann noch Stigmata? Ist das auf dem anthroposophischen Schulungsweg überhaupt so vorgesehen? Ist es »sauber«? Vor allem in den Jahren 2004 bis 2006 haben sich viele Anthroposophen dazu positioniert. Judith von Halles eigenes Verhalten im Zusammenhang mit dem anderer Vertreter der Anthroposophischen Gesellschaft, oder auch einfach ihr So-Sein, führte zu einem tiefen Riss im Berliner Arbeitszentrum, ja zu einem Skandal, der es bis in die Schlagzeilen des ›Spiegel‹ schaffte. Seit 2006 lebt Judith von Halle in Dornach und hat dort, auf dem Fundament ihrer übersinnlichen Forschungen, zahlreiche Bücher publiziert. – Mit alledem im Hintergrund habe ich ihre Autobiografie ›Schwanenflügel‹ gelesen. Dabei war es mir wichtig, diese Kenntnisse auch tatsächlich im Hintergrund zu halten und sie nicht in mein Lese-Erlebnis hineinspuken zu lassen.
Zu Mirela Faldey & David Hornemann von Laer: ›Im Spannungsfeld von Weltenkräften‹
Es hat lange gedauert, bis dieses Buch erscheinen konnte. Und nun ist es genau zum richtigen Zeitpunkt herausgekommen, inmitten der Corona-Krise, während der das »Spannungsfeld von Weltenkräften«, um das es hier geht – der Mensch zwischen Luzifer und Ahriman – deutlich erlebbar ist. Was jetzt vorliegt, hat Gewicht – zunächst im wörtlichen Sinne: Mit seinen 536 Seiten und einem Format von 30,5x28,3x5 cm bringt es 4,5 Kilogramm auf die Waage!
Zu Besuch im ersten Goetheanum (als Modell)
Ich kann es kaum glauben: Ich verlasse nach einer gefühlten Ewigkeit wieder mein Haus, sitze im Zug und fahre nach Dornach … Ich weiß noch, wie ich das erste Mal hinfuhr, mit 21 Jahren, als ahnungsloser Neuankömmling in der Anthroposophie, und völlig verblüfft vor dem Goetheanum stand. Niemand hatte mich auf diesen Betonbau vorbereitet. Ein Elefantenhaus, dachte ich, und das war keineswegs respektlos gemeint. Eher als hilfloser Versuch, das Große, das damit zusammenhing, zum Ausdruck zu bringen. Aber Beton? Der kam in der romantischen Flower-Power-Welt von damals nur als Inbegriff der Nüchternheit vor. Gehwege und Gesamtschulen gab es aus Waschbeton. Ich war ratlos.
Manfred Kyber und sein Rückzug aus der anthroposophischen Bewegung
In dieser Zeitschrift erscheinen regelmäßig Gedichte des baltendeutschen Schriftstellers Manfred Kyber (1880–1933), auch Würdigungen seines Lebenswerkes wurden hier immer wieder veröffentlicht. Bekannt ist er als Verfasser von Tiergeschichten und Märchen, denen eine esoterische Weltsicht zugrunde liegt. 1911 lernte Kyber in Berlin Rudolf Steiner kennen und wurde bald darauf Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. Weil er diese immer mehr als sektiererisch empfand, distanzierte er sich 1923 von ihr, trat aber nicht aus. Die Beweggründe seines Rückzugs gehen aus einem seiner Bücher hervor, und in krasser Deutlichkeit legte er sie in einem Brief an Steiner dar. Wenn im Folgenden aus diesem Brief zitiert wird, dann vor allem aus zwei Gründen: Erstens steht er exemplarisch für die Haltung einer ganzen Reihe unabhängiger Anthroposophen, die öffentlich bekannt und anerkannt waren, sich aber nach einer Zeit der Mitwirkung von der organisierten Anthroposophie fernhielten; und zweitens, weil manche von Kybers Kritikpunkten keineswegs überholt sind. Eine Antwort Steiners ist nicht bekannt. Hält man sich vor Augen, wie oft Steiner selbst manches Verhalten seiner »lieben Freunde« missbilligte, darf man aber annehmen, dass er Kyber in vielem Recht gegeben hätte.
Zu Andreas Neider: ›»Bodhisattva-Weg« und »Imitatio Christi« im Lebensgang Rudolf Steiners‹
Ausgangspunkt und roter Faden dieser kleinen Schrift ist das geistige Erlebnis, das der Einweihungsschüler mit dem großen Hüter der Schwelle haben kann. Dieses spielt sowohl in Rudolf Steiners ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ als auch in seiner ›Geheimwissenschaft im Umriß‹ eine zentrale Rolle. Wesentlicher Bestandteil dieses Erlebnisses ist, dass der Schüler durch den Hüter vor die Entscheidung gestellt wird, ob er bereit ist, sein gesamtes Leben in den Dienst des Vorankommens der anderen Menschen zu stellen, ja sogar, wenn er sich nicht mehr aus eigener karmischer Notwendigkeit wiederverkörpern muss, trotzdem wieder zur Erde zu kommen, um der Befreiung der Menschheit zu dienen.
Zu Rudolf Steiner: ›Zur Geschichte der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft 1902-1913‹ (GA 250)*
Kaum eine weltanschauliche Organisation war so häufig von Skandalen und Abspaltungen betroffen wie die 1875 gegründete ›Theosophical Society‹, deren Hauptquartier sich im indischen Adyar bei Madras befindet. Gleichwohl übte die Lehre ihrer Gründerin Helena P. Blavatsky, besonders durch ihr Hauptwerk ›The Secret Doctrine‹ (1888), einen tiefen Einfluss auf die europäische Literatur- und Kunstszene des frühen 20. Jahrhunderts aus. Asiatische Weisheitslehren und zahlreiche Begriffe, die bis heute den Esoterik-Markt beherrschen, wie Aura, Chakren, Karma oder Reinkarnation, fanden durch die Theosophie Eingang in westliche Länder. Die ›Theosophical Society‹ gliedert sich in Landesgesellschaften (Sektionen), deren deutsche 1902 in Berlin gegründet wurde. Ihr erster Generalsekretär war bis 1913 Rudolf Steiner.
Zu Frank Hörtreiter: ›Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus‹
Zu einer Selbstbesinnung, wie sie einer Unternehmung wie der Christengemeinschaft angesichts ihres bevorstehenden 100. Gründungstages verstärkt ein Anliegen sein kann, gehört unbedingt eine nüchterne und schonungslose Auseinandersetzung mit früheren Epochen, die sich naturgemäß mit Abstand und sicherer Quellenlage gründlich und umsichtig aufarbeiten lassen. So liegt seit wenigen Wochen die Studie ›Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus‹ von Frank Hörtreiter vor.
In der Christengemeinschaft gibt es eine Nachfolge-Regelung für den »Erzoberlenker«, die wohl einzigartig ist. Sie wäre niemals so eingerichtet worden, hätte sie nicht Rudolf Steiner selber angeraten. Er brauchte ohnehin einen langen Atem, bis sich Friedrich Rittelmeyer dazu verstand, eine derart herausgehobene Stellung anzunehmen. Mit dem Ritual verband Steiner den Rat, der Erzoberlenker solle schon am Tage nach seiner Erhebung seinen Nachfolger benennen. So wusste Emil Bock und auch die gesamte Priesterschaft, dass er Rittelmeyer beerben würde; nur der Zeitpunkt war ungewiss. Ebenso hat Bock 1938 Rudolf Frieling benannt, der dann – samt der Priesterschaft – zweiundzwanzig Jahre auf seine Erhebung hinzuleben hatte. Es war sicherlich klug, dass Frieling nicht öffentlich den Nimbus eines Nachfolgers tragen musste; so konnte er unbefangen in seinen Gemeinden (z.B. 1949 bis 1955 in New York) Seelsorger sein. Auch war die Nachfolge nicht absolut sicher, denn es hätte ja sein können, dass der ungefähr gleichaltrige Frieling früher als Bock stürbe.
Wie Weltanschauungen Familienbande trennen können
Vater und Sohn von Gleich: Damit sind Gerold (1869–1938) und Sigismund von Gleich (1896–1953) gemeint. Mit den Namen des Sohnes können anthroposophische Leser viel anfangen. Doch Gerold von Gleich? An ihn, der zu den vielen zeitgenössischen Gegnern Rudolf Steiners zählte, zu erinnern, könnte als verschwendete Schreib- und Lesezeit erscheinen. Uns geht es hier aber um eine doppelte, ja vielleicht dreifache Tragik. Zum einen sehen wir, dass ein hochgebildeter früherer Offizier in eine peinlich-platte Gegnerschaft geraten kann. Zum anderen, dass er dadurch seinen ebenfalls hochgebildeten, genialen Sohn, der zu den frühen Schülern und Interpreten Rudolf Steiners gehörte, geistig wie familiär verliert. Und dreifach, weil wir auch Ehefrau und Mutter Helene von Gleich dankbar gedenken wollen.
Zu David Marc Hoffmann u.a. (Hrsg.): ›Rudolf Steiner 1861–1925‹*
Ein buchstäblich gewichtiges Werk – Großformat, rund 500 Seiten, kiloschwer – ist der neue Bildband aus dem Rudolf Steiner Verlag: ›1861 –1925 Rudolf Steiner. Eine Bildbiografie‹, herausgegeben von David Marc Hoffmann, Albert Vinzens, Nana Badenberg und Stephan Widmer. Sie haben in langjähriger Recherche-, Kompositions- und Redaktionstätigkeit die über 800 Abbildungen (hauptsächlich aus dem Archiv in Dornach) zusammengestellt. Diese Zusammenstellung folgt einem Motto von Goethe aus dem Vorwort zur Farbenlehre: »Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.«
Zu Erdmut-M. W. Hoerner: ›Vom Urbeginn christlicher Esoterik‹
Im Februar dieses Jahres erschien in den Schneider Editionen eine ambitionierte Studie, die sich dem ›Urbeginn christlicher Esoterik‹ widmet. Der Autor Erdmut-Michael Hoerner, Pfarrer der Christengemeinschaft, verweist bereits im Untertitel darauf, dass er »Johannes und Maria« an diesem Urbeginn gemeinsam unter dem Kreuz stehen sieht. Während bisher eine ganze Reihe anthroposophischer Autoren Johannes den Evangelisten und seine Bedeutung für die christliche Spiritualität behandelt haben, wird die vorliegende Studie als die erste anthroposophische Untersuchung nach Rudolf Steiner herausgestellt, in der die Mutter Jesu, Maria, in das Zentrum der Betrachtung mit einbezogen werden soll. Das lässt aufhorchen.
Zu Rudolf Steiner: ›Organisches Denken‹
Der Tag, an dem ich dies geschrieben habe, war besonders merkwürdig. Mein täglicher Gang führt mich in ein kleines Landschaftsschutzgebiet mitten in der Stadt, mit Fließgewässer, See, Büschen, Bäumen und wenigen offenen Flächen. Wenig attraktiv für Kolkraben, welche die Weite brauchen; vereinzelt ruft einer das Jahr über. An diesem Tag aber riefen gleich zwei im Wechselgesang, ließen sich von mir durch Nachahmung des Rufes anlocken und kreisten über mir. Nach einer Weile bemerkte ich, dass sogar vier Raben rufend über mich hinwegflogen. Warum gerade an diesem Tag? Das Wetter war zunehmend windig; für die Küste war Sturm vorausgesagt. Durch meine Freude an dem Schauspiel der Raben war meine melancholische Stimmung wie fortgeblasen. Haben sie mir wirklich geantwortet? Ist es organisch gedacht, wenn ich mich frage, was ein Naturereignis wie dieses für einen kosmischen Zusammenhang hat, und darüber, was es mit mir zu tun hat? Gewiss, ein einfaches Beispiel.
Über drei Bücher zur Corona-Pandemie
Im Folgenden sollen drei Bücher besprochen werden, die 2020 und 2021 zur Coronathematik im anthroposophischen Kontext publiziert wurden. Judith von Halle veröffentlichte bereits im Frühjahr 2020 ›Die Coronavirus-Pandemie. Anthroposophische Gesichtspunkte‹ und legte im September 2021 mit dem zweiten Band ›Die Coronavirus-Pandemie II. Weitere anthroposophische Gesichtspunkte‹ nach. Von Thomas Mayer erschien im Herbst 2021 ein Buch zu ›Corona-Impfungen aus spiritueller Sicht. Auswirkungen auf Seele und Geist und das nachtodliche Leben‹.
Anmerkungen zu einer Diskussion
Das Dezemberheft 2021 der ›Sozialimpulse‹ bringt mehrere Debattenbeiträge zur Corona-Thematik, von denen einige hier kurz betrachtet werden sollen.
Zu Lorenzo Ravagli: ›Selbsterkenntnis in der Geschichte – Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung im 20. Jahrhundert. Band 2‹
Um zu verstehen, wie der Gründungsmythos der Anthroposophischen Gesellschaft entstanden ist und fortwirkte, muss einleitend kurz an den ersten Band des Gesamtwerks, der die Zeit ›Von den Anfängen bis zur zweiten Sezession 1875–1952‹ darstellt, angeknüpft werden. Die Anthroposophische Gesellschaft verselbstständigte sich zunächst aus der ›Theosophischen Gesellschaft‹ (Adyar) im Februar 1913. Die elf Jahre von 1913 bis 1923 erscheinen in der Rückschau – abgesehen von der Geistesforschung Rudolf Steiners – wie eine Vorgeschichte der später entstandenen ›Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft‹.
Zu Mathias Wais: ›Ach Du liebe Anthroposophie‹
Lieber Mathias Wais,
ich traue mich, Sie so direkt anzusprechen, weil Sie das in Ihrem Buch mit der Anthroposophie ja auch tun. Und außerdem halte ich große Stücke auf Sie. Ihre Bücher über Biografiearbeit sind längst Klassiker geworden, und Ihre Botschaft, dass Entwicklung entsteht, indem ich mir in labilen Situationen etwas Neues ausdenken, meinen sicheren Boden verlassen muss, und dass mein Höheres Ich schützend und leitend über diesen Vorgängen steht, verbindet Psychologie und Spiritualität auf eine einleuchtende Weise. Ihren ›Diskurs über die moderne Biographie‹, das Buch über Marilyn Monroe, das liebe ich. Vor allem die süffisant-sarkastischen Stellen, die in der Hölle und im Himmel spielen, in denen Nagelbrettzurichter und auszubildende Engel auf Probe auftreten und Michael eine kleine Echse streichelt, die auf seinem Arm sitzt. Wo schließlich der liebe Gott eine Kommission einsetzt, um herauszufinden, was es mit dem Lebenslauf des modernen Menschen auf sich hat, der häufig zerrissen und fragmentarisch erscheint.
Im Andenken an Benediktus Hardorp (1928–2014) und Götz Werner (1944–2022)
Am 8. Februar dieses Jahres ist Götz Werner seinem 2014 verstorbenen Mentor Benediktus Hardorp in die geistige Welt gefolgt. Beide Persönlichkeiten haben sich intensiv für die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) eingesetzt, der eine als erfolgreicher Unternehmer, der andere als wirtschaftlicher Berater und »Sozialarchitekt«. Benediktus Hardorp war es auch, der Götz Werner zu seiner 2005 gestarteten Initiative für das BGE inspirierte. Anstelle eines Nachrufes möchte ich mich hier mit dem geistigen Ringen dieser beiden Persönlichkeiten beschäftigen. Unsere Wege haben sich immer wieder gekreuzt, da wir an ganz zentralen Punkten der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners unterschiedliche Positionen einnehmen mussten. Genau aus diesem Grunde habe ich beide Persönlichkeiten sehr geschätzt. Denn nicht das ist das wirklich Verbindende zwischen Menschen, dass man die gleichen Gedankeninhalte vertritt, sondern dass man an den Gegensätzen wach füreinander wird und lernt, die Gründe einzusehen, warum diese Gegensätze notwendig sind.
Zu Wilburg Keller Roth: ›System und Methode der Heil-Eurythmie‹
»Es werden noch mancherlei Zeitepochen hinunterfließen müssen[ ... ], bis eine vollbewußte Vorstellung [ ... ] auflebt, wenn das Wort >Ich< oder [. .. ] >Selbst<a usgesprochen wird. Aber in der Form kann die Selbstheit, die Ichheit empfunden werden, und zwar, wenn man vom rein mathematischen Formwissen zum Formfühlen übergeht, dann wird man stets empfinden bei dem völligen Kreis die Ichheit, die Selbstheit. Kreis fühlen würde heißen Selbstheit fühlen. Kreis fühlen in der Ebene, Kugel fühlen im Raum, ist Selbstheit fühlen, Ich fühlen. [ ... ] Wenn man den Kreis so anschaut, so sieht man, er ist ein ganz banaler Wicht [ ... ]; aber es liegt doch etwas Geheimnisvolles im Kreis. Er kann auch dadurch verstanden werden, daß man zwei Punkte nimmt und dividiert, und indem man überall dasselbe Resultat bekommt [ ... ], ergibt sich der Kreis. Der Kreis ist also etwas ganz Merkwürdiges: der gewöhnlichste Wicht [ ... ] und zugleich das Ergebnis einer okkulten Division, das sich der Mensch zum Bewußtsein bringt. Geradeso ist es bei dem menschlichen Selbst: das gewöhnliche Selbst [ ... ], und das höhere Selbst [ ... ], das in den Tiefen unserer Seele ruht und das erst gesucht werden muß dadurch, daß man aus ihm herausgeht und die Welt in Betracht zieht, mit der es in Beziehung steht.«
Zu Michael Debus: ›Maria-Sophia. Das Element des Weiblichen im Werden der Menschheit‹
Das vom Rezensenten in dieser Zeitschrift zuletzt besprochene Buch handelte vom ›Urbeginn christlicher Esoterik‹. Darin wird ausführlich das einzigartige Verhältnis ausgeleuchtet, das zur Zeitenwende durch das Kreuzeswort »Siehe, dein Sohn! Siehe, deine Mutter!« gestiftet wurde: das Verhältnis zwischen der Mutter Jesu und dem Jünger, den der Herr liebhatte. In jenem Buch wird dieses mehr von Johannes her untersucht; in der vorliegenden Arbeit erfolgt dies stärker von Maria bzw. von Maria Sophia ausgehend. Bei den Autoren handelt es sich jeweils um Priester der Christengemeinschaft, das erstgenannte Buch erschien 2021, die hier besprochene Schrift bereits im Jahr 2000, in der durchgesehenen Neuausgabe 2020.
Zu Caroline Chanter: ›Ein Leben mit Farbe‹
In der mit Fotos und Kunstdrucken reich bebilderten, in englischer und deutscher Sprache erschienenen Biografie des englisch-deutschen Malers Gerard Wagner wird mehr als die Darstellung von Leben und Werk eines Künstlers geboten. Sie beschreibt zugleich einen Schulungs- und Forschungsweg, der zu einer inneren Durchdringung des künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeitens führen will. Teilweise kommentierend soll im Folgenden der Aufbau des Buches dargestellt werden.
Zu Martina Maria Sam: ›Rudolf Steiner. Die Wiener Jahre 1884-1890‹*
In Fortsetzung ihrer 2018 erschienenen dokumentarischen Biografie über Rudolf Steiners Kindheit und Jugend hat Martina Maria Sam – Eurythmistin, promovierte Geisteswissenschaftlerin, Vortragende und Publizistin sowie Herausgeberin im Rudolf Steiner Archiv – nun einen Band über Steiners Wiener Jahre vorgelegt. Ihm stellt sie einen Ausschnitt aus den Erinnerungen des Jugendfreundes Fritz Lemmermayer voran, der die Dramatik »jene[r] denkwürdige[n] Zeit, als Rudolf Steiner seine Schwingen zu entfalten begann«, treffend charakterisiert: als eine Zeit »erfüllt von geistigen Kämpfen, geistigen und sozialen Umstürzen, fest aneinander stoßenden Kontrasten. Altes brach zusammen, Neues rang leidenschaftlich nach Gestaltung. Ein krasser Materialismus wurde Mode in Wissenschaft und Leben. […] Die Naturwissenschaft […] griff, von ihren Erfolgen berauscht, über in das Gebiet von Philosophie und Religion. […] Ein Maschinenzeitalter von umwälzender Kraft hatte weit die Pforten geöffnet. In Verbindung damit war der sogenannte ›wirtschaftliche Aufschwung‹ in die Erscheinung getreten. […] Dem gegenüber eine idealistische Hochflut und ein immer hoffnungslos einsetzender Pessimismus. […] Materialismus, Pessimismus, Atheismus – so hießen die drei grauen Gestalten und Gewalten, welche Ketten für die Menschen schmiedeten. Es wirkte, was ›Aufklärung‹ genannt wurde – eine Aufklärung der Verdunkelung« (S. 11).
Zu Laszlo Böszörmenyi: ›Georg Kühlewind‹*
Es wird eine Kühlewind-Biografie geben! Die Nachricht rief Freude bei mir hervor, begleitet von der leisen Frage: Was würde er selbst dazu sagen? Er, der sich selbst nicht wichtig nahm und sich mit detaillierteren Informationen über sein Leben deutlich zurückhielt. Würde nun vielleicht wider seinen Willen zu viel öffentlich gemacht werden? Aber natürlich ist es dem Autor, Laszlo Böszörmenyi, der Georg Kühlewind immerhin 28 Jahre gekannt hat, sein Schüler war und sein Freund, nicht entgangen, dass dieser .selten und ungern über sich selbst sprach. (S. 33). Und er hat sich, wie er eingangs bemerkt, während des Schreibens zur Orientierung immer wieder Kühlewinds intensiven, forschenden und vor allem im Alter gütigen Blick vergegenwärtigt.
Oder: Wie eine »Klare Kante« zum Bumerang werden kann
Seit der Corona-Krise sehen sich anthroposophische Institutionen einem ungeheuren Druck von mehreren Seiten ausgesetzt. Die staatlich verordneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie waren das eine, das andere waren die Reaktionen des eigenen sozialen Umfeldes. Insbesondere in Einrichtungen, bei denen das konkrete Verhältnis zum anderen Menschen im Zentrum steht, wie Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime usw., sorgten die Verordnungen für heftige Auseinandersetzungen und brachten auch viele ältere Konflikte mit neuer Wucht zur Erscheinung.
Zur Darstellung der Anthroposophie in der aktuellen Literatur
Anthroposophinnen und Anthroposophen stehen seit der Corona-Pandemie verschärft im Fokus von Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Es wird ein Bild von ihnen verbreitet, das festsitzt und wirkt. Erstaunt war ich, als ich neben diesen schnelllebigen Medien nun auch in Büchern, die eine l.ngere Lebenszeit haben, etwas fand. Das kann förderlich oder schädlich sein. Je ein Beispiel ist mir begegnet.
Zu Jost Schieren (Hrsg.): ›Die philosophischen Quellen der Anthroposophie‹
Hervorgegangen aus einer Ringvorlesung im Wintersemester 2017/18 mit demselben Titel an der Alanus Hochschule in Alfter liegen nun die Resultate dieser Veranstaltung in schriftlicher Form vor. Nach einigen einleitenden Bemerkungen gehe ich im Folgenden die einzelnen Beiträge durch und schließe ab mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen.