Wie sind sie zu verstehen?
Aus der Zeit vor der Jahrhundertwende gibt es mehrere Äußerungen Rudolf Steiners, die - in zum Teil recht heftiger Weise - gegen das Christentum gerichtet zu sein scheinen. In seiner Autobiografie erklärt er, was für ihn der Anlass dazu war: »Im Widerspruch mit den Darstellungen, die ich später vom Christentum gegeben habe, scheinen einzelne Behauptungen zu stehen, die ich damals niedergeschrieben und in Vorträgen ausgesprochen habe. Dabei kommt das Folgende in Betracht. Ich hatte, wenn ich in dieser Zeit das Wort »Christentum« schrieb, die Jenseitslehre im Sinne, die in den christlichen Bekenntnissen wirkte. Aller Inhalt des religiösen Lebens verwies auf eine Geistwelt, die für den Menschen in der Entfaltung seiner Geisteskräfte nicht zu erreichen sein soll. Was Religion zu sagen habe, was sie als sittliche Gebote zu geben habe, stammt aus Offenbarungen, die von außen zum Menschen kommen. Dagegen wendete sich meine Geistesanschauung, die die Geistwelt genau wie die sinnenfällige im Wahrnehmbaren am Menschen und in der Natur erleben wollte.« Es gibt Autoren, die diese Erklärung Rudolf Steiners nicht für alle seine Aussagen gelten lassen wollen: Einzelne Formulierungen, so wird behauptet, ließen sich nicht anders verstehen, als dass er doch das Christentum als solches damals gemeint habe.
Die Kunst und das Übersinnliche
Das Verhältnis von Joseph Beuys zu Rudolf Steiner und zur Anthroposophie ist bis heute ein heikles Thema. Auch in diesem Jahr, wo man den 100. Geburtstag des Künstlers zum Anlass nimmt, ihn noch einmal zu würdigen, wird es eher verschwiegen oder zur Polemik benutzt als differenziert ausgelotet. Kunsthistoriker und ehemalige Mitarbeiter von Beuys halten sich in diesem Punkt auffällig zurück und spielen dessen starke Verbindung zur Anthroposophie gern herunter. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die esoterische Weltsicht Steiners bis heute von einem Schatten umwölkt ist, dem viele lieber aus dem Weg gehen möchten. Waldorfschulen oder ›Demeter‹-und ›Weleda‹-Produkte werden zwar in der Öffentlichkeit durchaus geachtet, aber die Anthroposophie gilt vielen immer noch als dubiose Okkult-Lehre mit rassistischen Untertönen, die im Widerspruch zu unserer aufgeklärten Welt steht. Dazu hat auch die Beuys-Biographie des Schweizer Autors Hans-Peter Riegel beigetragen, der 2013 versuchte, Beuys als »braun« angehauchten Künstler zu entlarven, der seine Inspirationen dem »völkisch-nationalistischen Wertekanon« von Rudolf Steiner zu verdanken habe. Jüngst hat auch ›Der Spiegel‹ diese Vorwürfe wieder aufgegriffen und Steiner sogar in die Nähe zu dubiosen »Querdenkern« unserer Tage gestellt, die etwa als Verschwörungstheoretiker oder QAnon-Anhänger die Corona-Maßnahmen der Regierung bekämpfen. In dem Artikel wird behauptet, dass Beuys »seine Weltanschauung beim Großesoteriker Rudolf Steiner regelrecht abgeschrieben« und dessen völkischen »Geisterglauben ans Deutsche« mit seinem Werk fortgesetzt habe. Solche plakativen Anschuldigungen wie auch das Herunterspielen des anthroposophischen Hintergrundes des Künstlers an anderer Stelle zeigen nur die große Verlegenheit gegenüber dem komplexen Thema »Beuys und Steiner«, was ich zum Anlass nehmen möchte, einmal genauer hinzuschauen.
Eine Korrektur
Rudolf Steiner gibt im II. Teil seiner ›Philosophie der Freiheit‹ – auf der Grundlage der vor allem erkenntnistheoretischen Überlegungen des I. Teils, die zur Einsicht in den universellen Charakter des reinen Denkens1 und zum zentralen Begriff der Intuition führen – eine Beschreibung dessen, was ihm als menschen- und zeitgemäße Ethik vorschwebt. Er nennt sie den »Ethischen Individualismus«. Steiner hielt seine ›Philosophie der Freiheit‹ für so grundlegend und bedeutsam, nicht zuletzt als Fundament der Anthroposophie, dass er sein Leben lang an ihr festhielt. Deshalb ließ er 25 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen auch eine zweite Auflage folgen und bereits 1921 noch eine dritte. Und deshalb hat Steiner in seinem Gesamtwerk auch mehr als 200-mal auf die ›Philosophie der Freiheit‹ verwiesen, was die Bedeutung, die er ihr beimaß, eindrücklich unterstreicht.
Aus der Akasha-Chronik erzählen
Der Ausdruck »Akasha-Chronik« (engl. akashic records) erscheint bei Rudolf Steiner als terminologischer Import aus der anglo-indischen Theosophie des 19. Jahrhunderts im Sinne eines überpersönlichen Weltgedächtnisses, als »das Geistig-Bleibende des Weltgeschehens«. Die geläufige Bezeichnung für den Zugang zu diesem Gedächtnis lautet »Lesen in der Akasha-Chronik«. Der Ausdruck selbst und das entsprechende »Lesen« werden von Steiner nicht systematisch begrifflich entwickelt, und oft ist dies »Lesen« mit anderen Weisen der spirituellen Erkenntnis austauschbar und wird auch schon einmal »Lesen im Chaos« genannt. In seinen Vorträgen erzählte Steiner vielfach darüber, im schriftlichen Werk taucht der Ausdruck zentral nur in der frühen Aufsatzreihe ›Aus der Akasha-Chronik‹ (1904 bis 1908) auf, in der ›Geheimwissenschaft im Umriss‹ (1910) wird er lediglich noch beiläufig – und dies nur in Anführungsstrichen – erwähnt. Da diese Aufsatzreihe von der Darstellungsweise her die erzählerischste Schrift Steiners ist, liegt es nahe, sie unter dem Gesichtspunkt der Narrativität auch eigens zu betrachten. Als Rezipienten seiner Schriften sind wir überdies nicht eigentlich Zeugen seines Zugangs zur Akasha-Chronik. Vielmehr sind es seine Mitteilungen, ist es sein Erzählen, sind es die »Ausdrucksformen«, wovon wir Kenntnis nehmen, weshalb es naheliegt, weniger von einem Lesen, als vielmehr von einem »Erzählen aus (oder von) der Akasha-Chronik« zu sprechen.
Im Vorhof der Esoterik: Goethes Rätselmärchen
Befassen wir uns mit dem Erzähler Rudolf Steiner, dann sollten wir uns auch in das Thema der »Esoterik der Erzählung« vertiefen. Genau dafür treffen wir im Werk Steiners auf einen Schlüsseltext. Es ist ›Das Märchen‹ aus Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹, einer Sammlung von sechs Novellen und dem Märchen im Zusammenhang einer Rahmenhandlung. Was lässt sich daraus über die Esoterik der Erzählung lernen? Inwiefern konstituiert diese Schrift Goethes in ihrem Kontext eine Erzählung über die Art, wie wir »höhere Erkenntnisse« erlangen könnten? Wie hat Steiner sie aufgegriffen? Und warum hat sie für ihn einen so hohen Stellenwert?
Perspektiven einer allgemeinen Erzähltheorie
Traditionell verstehen wir unter Erzählungen Geschichten, die in Form von Mythen, Märchen oder Romanen kulturell überliefert sind oder von Schriftstellern verfasst werden. Sie gelten als Produkte der Phantasie. Auch wenn sie für unsere Lebensorientierung Bedeutung haben und das Fiktive sowie das Imaginäre so etwas wie eine anthropologische Disposition darstellen, sind Erzählungen als eine Art Feierabendprodukte doch von der nüchternen Tagesarbeit und dem klaren Tatsachenwissen geschieden. Ein Roman ist eben, nach traditionellem Verständnis, keine Biografie und eine historische Erzählung kein Roman. Doch die selbstverständliche Unterscheidung zwischen dem Faktischen, die für den wissenschaftlichen, und dem Fiktiven, die für den künstlerischen Text gilt, ist fragwürdig geworden. Erzählen können wir nämlich immer schon beides: erfundene Geschichten und tatsächlich erlebte. Die Erzählung als produktive Schöpfung kann sich so eng wie möglich an die erlebten Tatsachen halten oder vor Erfindungslust übersprudeln, immer ist sie Erzählung, erzählende Tätigkeit.
Brief aus Brüssel
Aus belgischer Perspektive ist beim Thema Katalonien vorab zu denken an den Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Niederlande gegen Spanien im 16. Jahrhundert, an Herzog Alba vor allem und die Hinrichtungen der Grafen Egmond und Hoorn. All diese Schrecken sind tief eingegraben ins kollektive Bewusstsein, nicht nur in Belgien. Ebenso wichtig ist es, an die Ausrufung der Spanischen Republik im Jahre 1931 durch Lluís Companys, den Ministerpräsidenten der katalanischen Landesregierung (Generalitat de Catalunya), seine Flucht nach Frankreich im Jahre 1939, die spätere Auslieferung durch die Nazis an Spanien sowie seine Hinrichtung durch das Franco-Regime zu erinnern. All die Grauen des Spanischen Bürgerkrieges, dieses Kreises der Hölle, werden wieder wach.
Über das Werden einer neuen Menschheit
Die Vorträge, die Rudolf Steiner über karmische Zusammenhänge im Jahre 1924 gehalten hat, stehen in einem besonderen Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nicht nur werden darin einzelne schicksalhafte Beziehungen von der Vergangenheit her bis zum ersten Viertel des 20. Jahrhundert aufgerollt, sondern wir werden auch mit Fragen konfrontiert, die unsere Gegenwart und Zukunft betreffen. Das ist vor allem der Fall, wenn wir an das gegenwärtig verstärkte, evolutionswidrige Erwachen von Rasseninstinkten und Nationalismen denken oder an die angestrebten, technisch veränderten biologischen Lebensformen wie den Cyborg oder an den viel diskutierten Transhumanismus. Denn in diesen Vorträgen geht es auch um die Stellung des Sonnenerzengels Michael bei der Frage der Bildung einer neuen Menschheit, jenseits des luziferisch inspirierten Rassismus oder Nationalismus und ahrimanischer Zukunftsvisionen. Ersterer ist Erbe einer vorindividuellen Seelenentwicklung und letzteres die Vorschau einer entindividualisierten Menschheit.
Eine kurze Begegnung mit Rudolf Steiner
Je länger man lebt, desto mehr denkt man über seine Vergangenheit nach; immer mehr hat man das Bedürfnis, seine Erinnerungen, seine Erfahrungen mit anderen zu teilen. Eric Kandel, Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger für Medizin, schreibt: »Die Persönlichkeit ist die Erinnerung. Wir sind, was wir sind, auf Grund unserer Erinnerungen«. Und Erinnerungen müssen – das sollte man nicht vergessen – an kommende Generationen weitergegeben werden. Dies ist wichtig für die Kultur und Entwicklung der ganzen Menschheit, der einzelnen Nationen und des einzelnen Menschen.
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Eine Gegenbewegung – Erster Teil
Ich ging aus dem Haus und merkte es nicht. Plötzlich stand ich unten auf der Straße. Wo war ich gewesen, als ich die Stufen hinunterstieg? In Gedanken in Gedanken. Die Jungmannova lag nicht weit. Frühlingsluft. Ewig dieses Gehen. Durch die Vaterstadt spazieren. Die Augen deprimiert auf den Boden gerichtet. Immerhin habe ich diesmal ein Ziel. Habe ich ein Ziel? Man muss schon sehr verzweifelt sein, wenn man von etwas überhaupt nicht überzeugt ist und sich trotzdem Hilfe davon erhofft.
Ideologie und Fakten - Teil I
In einem Artikel der ›Erziehungskunst‹ vom November 2022 forderten Albert Schmelzer und Martyn Rawson einen Umbau des Waldorflehrplans mit postkolonialen Anteilen. Dies betrifft auch den Geschichtsunterricht. Dort werden bisher die großen historischen Entwicklungen von den »Ältesten Zeiten« über Antike, Mittelalter und Neuzeit bis zur Gegenwart in Überblicksepochen behandelt. Dabei liegt der Fokus im Wesentlichen aut Europa. Die deutschen Waldorfschulen, so Schmelzer und Rawson weiter, seien »strukturell rassistisch« und spiegelten in ihren Lehrplänen nicht eine durch Migration veränderte Bevölkerung. Bijan Kafi reagierte daraufhin mit einem Artikel in die Drei (3/2023), in dem er darlegte, dass der von Schmelzer und Rawson geforderte (ideologische) Antirassismus mit einer treiheitsorientierten Waldorlpädagogik unvereinbar sei. Daraut antwortete Frank Steinwachs (4/2023), der u.a. darlegte, dass sich die neue und diversere Demografie in den Klassenzimmern zeige, weshalb Bijan Kafis Kritik nicht die Realität des schulischen Alltags treffe. Beiträge von Johannes Kiersch, Ralf Sonnenbeig, Michael Debus und Salvatore Lavecchia ergänzten die Debatte, mit der Tendenz, an pädagogisch wirksamen Elementen der Waldorfpädagogik festzuhalten. Mein Beitrag versteht sich vor diesem Hintergrund als Nachfrage. Denn im 21. Jahrhundert hat der Postkolonialismus - vorsichtig formuliert - doch viel von seinem emanzipatorischen Impuls eingebüßt. Wir leben in einer veränderten Welt, in der auch ein aufstrebender »Globaler Süden« von Rassismus und Rechtsextremismus heimgesucht wird; teilweise in politischen Bewegungen, die mit dem Postkolonialismus verbunden sind. Der Angriff der Hamas auf Israel wäre hier nur ein Beispiel.
Laut Novalis hängt die poetische Kraft von dem Erkenntnisbewusstsein ab, von dem sie getragen wird: »Je größer der Dichter, desto weniger Freyheit erlaubt er sich, desto philosophischer ist er.« Die poetische Konstruktion soll zwar nicht Erkenntnisse begrifflich darstellen, eine abstrakte Gedankenbewegung nach sich ziehen, jedoch in dem poetischen Werk ein Instrument erzeugen, das wie die Werke echter Wissenschaft das seelische Leben stärkt, konkretisiert. Dem Poeten (für Novalis ist der Poet der sprachlich Schöpferische, der Dichter schlechthin) wird dies insofern gelingen, als er Erfahrungen des seelischen Lebens angesammelt hat und in der Erkenntnis seiner selbst vorgedrungen ist. Das Erkennen bildet den untergründig das poetische Schaffen belebenden Gegenstrom. Es ist geistiges Einatmen der Zusammenhänge, die – verwandelt durch individuelles Erleben – im Kunstschaffen ausgeatmet werden. Der Poet wählt und entwickelt seinen Stoff, die sprachlich gebundene Vorstellung, so, dass dieser sein Erkennen aufzunehmen vermag.
Einige grundsätzliche Überlegungen
Jedes einzelne (endliche, begrenzte und in diesem Sinne kontingente) Seiende tritt aus dem Seinsganzen hervor (emanatio), währt seine Zeit und sinkt in das Seinsganze zurück (regressus) Das Seinsganze ist der Seinsgrund des Seienden. Das Seinsganze »existiert« nur in dem Sinne, dass seine Teile existieren (exsistere = sich abheben, hervortreten, zum Vorschein kommen) und somit als einzelne Seiende durch Abgrenzung vom Grunde (differentia) definiert sind. Das Seinsganze selbst existiert in diesem Sinne nicht, da es, wie der Begriff »Seinsganzes« sagt, außerhalb seiner selbst, neben oder über ihm, kein weiteres Sein gibt, an das es angrenzen, von dem es sich unterscheiden oder aus dem es hervortreten könnte. (Mehr als alles gibt es nicht.) Es ist nicht definierbar, ist räumlich und zeitlich ohne Anfang und Ende, also unbegrenzt und somit unendlich. Es kann zu keinem genus proximum gehören (da es selbst der oberste Gattungsbegriff ist, der sich denken lässt) und verfügt über keine spezifische Eigenschaft, durch die es sich von anderem unterscheiden könnte (da es anderes als es selbst nicht gibt).
Rudolf Steiners Karmavorträge von 1924 als Denkkunstwerk
Erkenntnis, in alten Zeiten als Offenbarung eine Gottesgabe, ist immer mehr individuelle menschliche Leistung geworden. Am Beginn dieser Entwicklung steht Sokrates mit seinem schockierend radikalen Zurückweisen aller überlieferten Weisheit: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Sein Erkenntnisinstrument ist die Frage, als Einladung an den einzelnen Menschen, selbst zu denken. Dies führt zu der Einsicht und Grundregel der Philosophie, dass Weisheiten sekundär sind und nicht zu Dogmen erstarren sollten, dass Gedanken nicht das Denken ersetzen können. Das Denken selbst ist das Primäre, das lebendige Huhn, das immer neue Eier legt. In der Konsequenz entscheidet sich Lessing, wenn Gott ihm in der einen Hand die Wahrheit, in der anderen die Suche nach der Wahrheit zur Wahl bieten würde, für die Suche; nicht für die Produkte, die Erkenntnisse, sondern für die Erkenntnisfähigkeit als menschliche Produktionskraft. Und wenig spater stellt Hölderlin diese Umwendung im menschlichen Erkennen in einen großen Zusammenhang: »Denn nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen / Die Sterblichen eh' an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo, / Mit diesen. Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.«
Franz Brentanos ›Lehre Jesu‹ und die Anthroposophie
Franz Brentano hat über seine Schüler auf viele Richtungen in Philosophie und Psychologie des 20. Jahrhunderts (z.B. Phänomenologie, Existenzphilosophie, analytische Philosophie, experimentelle Psychologie) großen Einfluss ausgeübt. Weniger bekannt ist, dass er mit seinem Philosophieren ein tiefes religiöses Anliegen verband. Darin liegt aber meines Erachtens der Grund für die innere geistige Beziehung seines Erkenntnisstrebens zur Anthroposophie. Der vorliegende Text möchte auf diese Beziehung hinweisen, ohne dabei alle geäußerten Gedanken ausführlich erläutern zu können. Die geschilderten Zusammenhänge sind so komplex, dass ihre Darstellung den zur Verfügung stehenden Rahmen weit überschreiten würde. Ich hoffe dennoch, auch ohne tiefer gehende Begründung der Sachverhalte die Leserinnen und Leser gerade durch die offen bleibenden Fragen zum Nachdenken über die rätselhafte Verbindung Brentanos zur Anthroposophie und zu Rudolf Steiner anregen zu können.
Aufgabe und Anspruch der transdisziplinären Gender Studies (Geschlechterforschung) ist es, Geschlechterverhältnisse wissenschaftlich zu erfassen und ein differenziertes Geschlechterwissen als Beitrag für Vielfalt und Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Zusammenleben zu gewinnen. Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Geschlechtlichkeit ist vielleicht gerade für Institutionen schwierig, die sich vor allem auf das Seelisch-Geistige des Menschen konzentrieren wollen. Aber diesen zentral irdischen Bereich von Sex und Gender zu ignorieren oder zu verdrängen, rächt sich letztlich, wie sich etwa an den Missbrauchsskandalen in der Katholischen Kirche gezeigt hat. Für das menschliche Leben und Erleben hat die Geschlechtlichkeit nach wie vor eine existenzielle Bedeutung, zumal damit bei näherem Hinsehen sowohl die Soziale Frage als auch die Forderung des »Erkenne dich selbst« innig verknüpft sind – Fragen, die nach einer tieferen Welt- und Selbsterkenntnis verlangen, und die sich nicht von selbst lösen werden. Deshalb könnten die diversen Hinweise und Erklärungen, die uns Rudolf Steiner zum Thema der Geschlechtlichkeit hinterlassen hat und die bisher nur wenig bearbeitet wurden, durchaus die Basis bilden für einen eigenen Ansatz, für eine anthroposophischgeisteswissenschaftliche Geschlechterforschung.
Versuch einer Gegenüberstellung
Innerhalb der Anthroposophie bildet der sogenannte »Schulungsweg« ein zentrales und identitätsstiftendes Element der persönlichen Weiterentwicklung. In den anthroposophischen Grundschriften ›Theosophie‹, ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten‹ oder auch der ›Geheimwissenschaft im Umriss‹ werden wichtige und grundlegende Aspekte des »Pfads der Erkenntnis« bzw. der »Geheimschulung« dargestellt. In zahlreichen weiterführenden Schriften und Vortraägen hat Rudolf Steiner – und haben in seiner Nachfolge eine Vielzahl von Autoren aus dem Umfeld der Anthroposophie – diese Aspekte weiter ausgeführt und vertieft. – Bei dem in der heutigen Gesellschaftsstruktur dominierenden Wirtschaftsleben wird wiederum große Bedeutung auf die Gewinnung und Weiterentwicklung geeigneten Personals gelegt. Assessment Centers zur Identifikation geeigneter Mitarbeiter, »Head Hunting« auf dem Personalmarkt, um im »War for Talents« die besten Kandidaten für die eigene Firma zu gewinnen und viele interne Programme zur Entwicklung und Förderung von Mitarbeitern und Führungskräften stehen im Hintergrund jeder Biografie innerhalb großer Industrieunternehmen.
oder: die Würde des Menschen
Dieses Jahr jährt sich zum 1600sten Mal ein Ereignis, das die Geschichte des westlichen Christentums noch tiefer geprägt hat als der 2017 gefeierte Reformimpuls Martin Luthers. Dessen Spiritualität und Theologie, die stark von Augustinus (*354; †430) beeinflusst waren – Luther war anfänglich ein Augustinermönch –, hätten nämlich ohne jenes Ereignis eine ganz andere Gestalt gehabt. Vor 1.600 Jahren tagte, am 1. Mai 418, das Regionalkonzil von Karthago, das – einen langen Streit bezüglich des Wesens der Gnade sowie des menschlichen Willens beendend – die definitive Verurteilung und die Exkommunikation des keltischen, aus Irland oder Britannien stammenden Asketen Pelagius (*um 350; †420) aussprach. Damit siegte die Position des Augustinus, die fortan das westliche Christentum prägte und noch bis heute prägt.
Versuch einer Rekonstruktion und zugleich ein Beitrag zum »Lesen« Rudolf Steiners – Teil II
Im ersten Teil dieses Beitrags wurde skizzert, wie Rudolf Steiners rätselhafte, zum Teil auch widersprüchliche Schilderungen der Hybernischen Mysterien zu lesen sein könnten. Versucht man, wie dort angedeutet, Steiner so zu lesen, dass nicht das geschilderte Bild selbst die Wirklichkeit ist, sondern die dahinterstehenden Erlebnisse dasjenige sind, um das es in den Einweihungen ging, so kann man mit diesem imaginativen Blick Zeugnisse dieser Kultur in Hybernia, d.h. im fernen Westen und Nordwesten Europas finden. Einer dieser Orte sind die Orkney-Inseln im Norden Großbritanniens.
Zur Gnosis in Spätantike und Gegenwart
Das 20. Jahrhundert gab, bei all seinen abgründigen, schier endlosen Verfinsterungen, doch auch Aussichten frei auf Vergangenheiten, auf die nun – durch entsprechende Entdeckungen – ganz neues, helles Licht fallen kann. Die Existenz von Essenern oder Therapeuten, von Manichäern und eben auch frühchristlichen Gnostikern war immer schon, aus spätantiken Überlieferungen, leidlich bekannt. Dann aber kamen, durch Forschungsexpeditionen oder Zufallsfunde, zahlreiche Schriftrollen und Kodizes ans Licht, welche die Sprache jener religiösen Gruppen unverfälscht wiederzugeben versprachen: Manichäisches fand sich im zentralasiatischen Turfan und in Dunhuang (1902-1913) wie auch im ägyptischen Terenouthis nahe Medinet Madi (Ende der 1920er Jahre); Essenisches im heute israelisch-palästinensischen Qumran am Toten Meer (1947-1956); Zeugnisse dann auch der christlichen Gnosis in der Nähe des ebenfalls ägyptischen Nag Hammadi (1945/46).
Zur phänomenologischen Bildbetrachtung
Die Bezeichnung »Phänomenologie« stammt aus der Philosophie und umfasst eine Vielzahl zum Teil sehr komplexer theoretischer und methodischer Ansätze, die sich mit Namen wie Edmund Husserl, Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty und vieler anderer verbinden. Auf diese philosophischen Strömungen werde ich hier nicht eingehen. Es scheint mir jedoch gerechtfertigt, von »phänomenologischer Bildbetrachtung« zu sprechen, wenn ich eine Vorgehensweise meine, die von den sichtbaren Phänomenen ausgeht und die Aufmerksamkeit zudem auf die anschauende Erfahrung richtet. Dass eine Bildbetrachtung vom Sichtbaren ausgehen sollte, scheint selbstverständlich zu sein, und doch fällt es vielen Menschen schwer, sich auf dieses Sichtbare tatsächlich einzulassen. Wenn wir einem Gemälde gegenüberstehen, wollen wir es verstehen; wir heben es, Bilder zu interpretieren und ihre »Hintergründe« - ob historische, biografische, symbolische oder weltanschauliche - zu beleuchten. Hierbei gehen wir häufig von der Prämisse aus, dass das Bild eine begrifflich fassbare »Botschaft« vermittelt, und so setzen wir all unsere gedanklichen Bemühungen ein, um diese Botschaft zu entschlüsseln.
Der eigene Sprachgebrauch als Zeichen im menschlichen Miteinander
Aussagen wie »Das ist nun einmal so« oder gar »Das war schon immer so« hatten noch nie eine überzeugende Auswirkung auf mein Verständnis der Dinge – und wenn das doch in früher Kindheit einmal anders gewesen sein sollte, so haben die ca. 17 Jahre institutioneller Waldorfprägung in meiner Kindheit und Jugend hiermit ein für alle Mal Schluss gemacht. Dinge zu hinterfragen, vorhandene Systeme und Institutionen kritisch zu betrachten, dominanten Diskursen skeptisch zu begegnen – wenn es etwas gibt, das ich aus meinem anthroposophischen Elternhaus und der Zeit als Waldorfschülerin mitgenommen habe, dann das! Mit dieser dem scheinbar »Normalen« gegenüber grundlegend kritischen Haltung geht aber auch ganz klar eine ebenso entscheidende affirmative Überzeugung einher: Eine Bejahung gegenüber dem Anderen, ein Bemühen um Inklusion mir auf den ersten Blick vielleicht fremder Lebensrealitäten, ein gewisses Vergnügen am Umgang mit allen, die sich in ihrer Haltung, ihren Überzeugungen und, ja, auch in den vielen Facetten der menschlichen Identität als Abweichende, als Freaks, eben als anders und unangepasst verorten (lassen). Vor allem aber durfte ich in dieser waldorfgeprägten Kindheit Respekt und ein fortwährendes Bemühen um Verständnis für mein Umfeld und die gelebte Diversität (in der Umwelt ebenso wie in der menschlichen Gesellschaft) entwickeln. Und das gilt auch, wenn diese Haltung doch manchmal an ihre Grenzen gerät, nämlich immer dann, wenn ich Menschen begegne, die sich bewusst dafür entscheiden, es an diesem in meinen Augen unabkömmlichen Respekt gegenüber anderen Menschen fehlen zu lassen.
Reinkarnation und Karma in der Novelle ›Die schwarze Spinne‹ von Jeremias Gotthelf
Hin und wieder taucht heutzutage der Gedanke an Reinkarnation und Karma – zu Deutsch: an Wiederverkörperung und selbst geschaffenes Schicksal – in der Öffentlichkeit auf, allerdings oft ohne echte Vertiefung und geistigen Hintergrund. So heißt z.B. ein 2008 erschienener Roman ›Mieses Karma‹. Darin geht es um mehrmalige Erdenleben einer Protagonistin, die nach ihrem frühen Tod ungute Taten zunächst als Tier und schließlich wieder als Mensch in erneuten Inkarnationen ausgleichen muss. Hier werden Aspekte von Reinkarnation und Karma miteinem gewissen moralischen Impuls in eine unterhaltsame Handlung gebracht. Im Allgemeinen kommt solchen Gedanken in der westlichen Welt aber keine große Bedeutung zu, man verortet den Glauben an wiederholte Erdenleben weiterhin vorangig in östlichen Religionen. Noch ist wenig bekannt, dass es auch in der deutschen Geistesgeschichte verschiedene Beispiele aus allen Zeiten dafür gibt – und zwar mehr, als man vermuten sollte. Sie sind allerdings größtenteils nicht Zeugnisse konkreter Kenntnis geistiger Zusammenhänge, sondern eher Andeutungen, Ahnungen oder Mutmaßungen. Rudolf Steiner erläutert, dass man im 18. Jahrhundert, in dem die Theosophie an Wirkmächtigkeit verlor, die Tatsache wiederholter Erdenleben nicht gekannt habe, und im 19. Jahrhundert sei eine weitere »Abwendung von den spirituellen Welten« eingetreten.
Was bedeutet es für die anthroposophische Arbeit, den Karmagedanken ernstzunehmen?
Mit dem Entschluss Rudolf Steiners, sich auf der Weihnachtstagung 1923/24 bis hin zur äußeren Verwaltung in die Anthroposophische Gesellschaft voll verantwortlich hineinzustellen, war eine bittere Konsequenz verbunden: Einer Aussage Marie Steiners zufolge hatte er dadurch das Karma der Anthroposophischen Gesellschaft auf sich genommen. Rudolf Steiners persönliches Schicksal ist somit engstens mit dem jener Menschen verkettet, die sich damals mit der anthroposophischen Sache verbunden haben.
Mitte September 2017 öffnete das ›Haus der Zukunft‹, auch ›Futurium‹ genannt, ein in futuristischem Stil erbautes Gebäude in Berlin neben dem Hauptbahnhof, zum ersten Mal – für einen Tag – seine Türen. Dem auffallend großen Zustrom von interessierten Menschen bot man in schlichten Räumen und Sälen ein vielseitiges Programm mit wissenschaftlichen Vorträgen, Kunstdarbietungen, Ausstellungen, Diskussionsmöglichkeiten, Spielecken etc. an. Ökologische Untersuchungen, psychologische Befragungsergebnisse und zeitgeschichtlich-philosophische Betrachtungen betonten die Verantwortung der Menschheit für die Zukunft. Sie wiesen hin auf Entscheidungsnotwendigkeiten in vielen Bereichen und verdeutlichten die Einsicht, dass im heutigen, »anthropozänen« Zeitalter der Mensch derjenige ist, der die Zukunft der Erde bestimmt. Zugleich wurde an verschiedenen Stellen eingeräumt, dass wir alle nicht wissen können, wie diese Zukunft aussehen wird – trotz aller grenzenlosen digital-technischen Innovationsphantasien; für welche die Roboterband, die am Abend auftrat, als Beispiel stehen kann.
Bilder einer gegenwärtigen Alchemie
Die mittelalterliche Kirche der Heiligen Gervasius und Protasius in Nimis - in der Provinz Udine, unweit von Cividale, der Hauptstadt des ersten langobardischen Herzogtums in Italien - birgt ein sehr bemerkenswertes Bild Michaels aus dem 14. Jahrhundert. Deshalb sehr bemerkenswert ist das Bild, weil es, soweit mir bekannt, einmalig in so wirksam verdichteter Form die zwei Hauptmotive der Michael-Ikonografie in einer einheitlichen Komposition zusammenklingen lässt: Der Kampf gegen den Drachen bzw. Teufel und die Seelenwägung (Psychostasia), die das Schicksal der Seele im nachtodlichen Leben entscheidet. Die intime geistige Verbindung der zwei Motive wird in diesem Bild durch die Tatsache offenbar, dass Michaels Speer und der Balken der Waage Michaels zusammen ein Andreas-Kreuz, ein X bilden, was wiederum auf eine tiefe alchemistische Symbolik hinweist: Auf das bis ins Physische offenbare geistige Licht, das durch das vollkommene Maß der pythagoreischen Vierheit bzw. Zehnerschaft offenbar wird, sowie auf jene Substanz, Sal Ammoniacum, die als Vermittlerin zwischen Wasser und Feuer, Himmel und Erde, Geist und Leib wirkt, ferner auf das Glas als kristallklarem Stoff, der sich der Vollkommenheit am stärksten annähert.
Zur Bedeutung der »charakterologischen Veranlagung« in Rudolf Steiners ›Philosophie der Freiheit‹
»Michael muß uns durchdringen als die starke Kraft, die das Materielle durchschauen kann, indem sie im Materiellen zugleich das Geistige sieht«1 - Rudolf SteinerMit Eduard von Hartmanns Hinweis auf die determinierende Kraft charakterlicher Verschiedenheiten der Menschen führt Rudolf Steiner im I. Kapitel der »Philosophie der Freiheit« einen Freiheitsgegner an, der sich von den Auffassungen der großen Masse ihrer Gegner unterscheidet. Denn diese halten es für prinzipiell unmöglich, die Naturkausalität auf dem Gebiete menschlichen Handelns unterbrochen zu denken. ...