Wenn »Entkolonialisierung« in die Logik des Nationalismus mündet
An einem wundersam warmen und klaren Septemberabend habe ich während eines Straßenmusikfestivals den Dreadlocks tragenden Tiroler Musiker Mario Parizek mit entspannter Freude bei einer seiner Aufführungen wahrgenommen. Wie es sich häufig ergibt, wurde ich neugierig, und somit habe ich, wieder nach Hause zurückgekehrt – ich gehöre zu den Retros, die nicht smartphonisiert leben, und dabei sogar außerordentlich zufrieden sind –, in voller Heiterkeit an meinem Schreibtisch nach Mario gegoogelt. Nie hätte ich den Verdacht hegen können, dass ein Auftritt von ihm, ungefähr ein Jahr davor, aufgrund der von ihm, einem weißen Musiker, getragenen Dreadlocks abgesagt worden war, nach Angaben des aufführenden Lokals mit einer finanziellen Entschädigung, da einige auch zum Team des Lokals zugehörigen Personen sich bei einem solchen Auftritt nicht wohl gefühlt hätten. Dabei trägt der Musiker – so seine Erklärung in einem Video – Dreadlocks, seitdem er 13 Jahre alt ist, und dies als Reaktion auf die »rechte« Atmosphäre in dem Tiroler Dorf, in dem er aufwuchs. In anderen Worten, den Kommentar des enttäuschten Musikers zusammenfassend: Von einem »linken« Lokal wird sein Auftritt wegen etwas abgesagt, das eigentlich von einer aufrichtig »linken« Gebärde gegen eine »rechte« Umgebung getragen wurde und weiterhin wird.
Wirklichkeitsverlust und totalitäre Tendenzen
Die Ereignisse der Corona-Zeit haben die Gesellschaft in bisher ungekanntem Maß gespalten. Prinzipiell waren sowohl kritische Positionen als auch die Ergreifung von Vorsichtsmaßnahmen und die Angst vieler Menschen vor einer Infektion verständlich. Zu denken gibt im Rückblick zum einen die Radikalität – bis hin zu Grundrechtseinschränkungen – und fehlende Evidenz mancher Maßnahmen, zum anderen, dass sie dennoch von vielen Bürgern und Medien, bis hin zur offenen Anfeindung kritischer Zeitgenossen, verteidigt wurden.Ähnliches erlebt, wer gegenwärtig an die Vorgeschichte des Ukrainekrieges erinnert und die Politik des Westens kritisch befragt. Dabei hatten doch viele Menschen, wie auch Medien und Politik, die militärischen Interventionen im Kosovo, in Libyen oder in Syrien gutgeheißen, weil dort (angeblich) Minderheiten gegen staatliche Repression kämpften. Nun waren die russischsprachigen Bewohner des Donbass seit dem Abkommen von Minsk (2015) in der gleichen Lage und erhofften sich Hilfe von Russland. Viele Menschen hierzulande wissen das bis heute nicht oder stufen es als unbedeutend ein. Wie aber ist das Nichtwissen oder Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen, das Messen mit zweierlei Maß zu deuten, das ja auch ein Zeichen fehlender Reflexion von Denkwidersprüchen ist? Und warum führte bei »Corona« ein allgemeiner Vertrauensverlust in die Politik nicht zu einer realistischeren Abschätzung von Gefahren und Bedrohungen? Woher kommt die Bereitschaft, kaum glaubliche Deutungen auffälliger Phänomene, unrealistische Zukunftsprognosen oder offenbar widersinnige Maßnahmen zu akzeptieren?
Das Alltagsbewusstsein steht als Erkenntnisorgan im Zeichen der Vergangenheit, des Toten – wird sich immer nur des Ergebnisses des schon verlaufenen Erkenntnisprozesses bewusst – und steht als moralische Instanz im Zeichen der Egoität, des Nehmens, des Besiegens, weil wir glauben, unsere Persönlichkeit durch Besitz erweitern zu müssen. Der Mensch müsste an sich arbeiten, um einerseits im Erkennen in die zeitlose, lebendige Gegenwart (die erste Stufe der höheren Erkenntnis) einzudringen, und um andererseits in die Attitüde des Gebens, des Verzichtens zugunsten der Anderen und der Zukunft zu wechseln. Der Mensch müsste zum Sieger werden, ohne andere besiegen zu müssen. Er müsste sich selbst, sein egoistisches Wesen besiegen. Er müsste statt zur Gewalt zur Sanftmut finden.
Die ein Jahrhundert lang gepflegten zahlreichen Reflexionen zur Weihnachtstagung, die in so manchen Interessierten eher Widerwillen als Interesse hervorgerufen haben, beginnen meist mit dem angenommenen »Höhepunkt« dieser Tagung: mit der viel gepriesenen »Grundsteinlegung«. Ich selbst gehöre zu diesen Widerwilligen; die veröffentlichten Schriften und Aussagen dazu erinnerten mich allzu sehr an die inhaltsleeren Partei-Reden in der DDR, die ich einen Großteil meiner Jugend über mich hatte ergehen lassen müssen. Wie eine Ansammlung von leeren, nichtssagenden Worten erschienen mir die Berichte und Darstellungen der Weihnachtstagung, die mit Vehemenz vorgetragen wurden. Erst als ich entdeckte, dass der am 25. Dezember 1923 einsetzenden Grundsteinlegung ein Eröffnungsvortrag am 24. Dezember voran gegangen war, und ich in diesem die geistig-seelische Grundlegung der darauffolgenden Ereignisse erkennen durfte, begann sich mein Interesse für die Weihnachtstagung zu regen.
Ich möchte im Folgenden versuchen, dem Ereignis der geistigen »Grundsteinlegung« der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in einer meditativ-lauschenden Art und Weise nachzugehen. Wie hat Rudolf Steiner am 25. Dezember 1923 in einer kultusartigen Handlung den Grundstein geformt? Im meditativen Hinlauschen kann ein eigenes Tätigsein in der Bildung und Gestaltung des geistigen Grundsteins entstehen und sich damaliges Geschehen mit heutigem zusammenschließen. Ich meine, dass wir diesen Schritt, der von der Beschreibung der Vergangenheit zur gegenwärtigen Verantwortungsübernahme führt, brauchen, wenn die Weihnachtstagung für kommende Zeiten weiterwirken soll.
Welche Bedingungen benötigt ein zeitgemäßes Mysterienwesen?
Das Goetheanum ist eine Esoterische Hochschule, die als geistige Realität existiert. Die auf der Weihnachtstagung 1923 neu konstituierte Anthroposophische Gesellschaft hatte das Ziel, dieser geistigen Realität einen irdischen Boden zu verschaffen. Sie sollte zur Seele dieser Gesellschaft werden. Der folgende Artikel versucht, ein Bild dieses in drei Klassen gegliederten esoterischen Hochschulorganismus zu entwerfen. Die große Zukunftsfrage wird sein, wie dieser geistige Organismus in einer irdischen Gesellschaft, wie es die Anthroposophische Gesellschaft sein will, zur Erscheinung gebracht werden kann.
Rudolf Steiner verband mit der Grundsteinmeditation die Erneuerung des alten Mysterienspruches »Erkenne dich selbst«. Sie tönte in ihrer Dreigliedrigkeit an die Ohren der auf der Weihnachtstagung 1923/24 versammelten Anthroposophen. Sie tönte als inspirierte Dreigestaltung des »Erkenne dich selbst«. Um dies wirklich zu erkennen, zu erfühlen und zu erleben, müssen die Gliedmaßen sich im tätigen Erfassen der Welt erkennen, muss das Herz ein Erkenntnisorgan werden und das Haupt mit Herzenswärme durchströmt werden.
Ein Beitrag zum Stellenwert übersinnlicher Erkenntnis im Werk Rudolf Steiners
Anders als es die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Anthroposophie und auch die Rede von »Rudolf Steiner als Erzähler« erscheinen lässt, beansprucht das geisteswissenschaftliche Erkennen Rudolf Steiners weder, das Abbild einer vom Menschen irgendwie getrennt existierenden geistigen Welt darzustellen, noch von einer solchen Welt nur zu »erzählen«. Vielmehr geht es Rudolf Steiner um etwas ganz anderes, nämlich mit seiner Art des Erkennens nicht nur den Erkennenden, sondern auch das Erkannte zu verwandeln. Der nachfolgende Beitrag behandelt die übersinnliche Erkenntnis daher als eine neue Form der Liebe: Liebe als Erkenntniskraft.
Zum Gedenken an Roland Halfen
Noch im August dieses Jahres war Roland Halfen im Vinschgau und im Unterengadin unterwegs, besichtigte Marienberg und Müstair mit deren Schätzen. Er plante wohl noch eine Reise ins Tessin und nach Italien. Viel war er unterwegs auf den Spuren früherer Kulturen, zu Felszeichnungen, Stätten der Megalithkultur, aber auch der Romanik und Gotik. Breit gefächert waren seine Interessen an kulturellen Werken, sie umfassten Malerei, Grafik, Plastik und Architektur im weitesten Sinne, insbesondere die Kunst der Moderne und die zeitgenössische Kunst in all ihrer Vielfalt und mit ihren gewagten Experimenten.
Zu Rudolf Steiner: ›Wege zur Erkenntnis der ewigen Kräfte der Menschenseele‹ (GA 70b)
Ein neuer, sehr umfangreicher Band in der Gesamtausgabe Rudolf Steiners ist erschienen, der 17 öffentliche Vorträge enthält, die während des Ersten Weltkriegs zwischen November 1915 und März 1916 in insgesamt zehn verschiedenen Städten in Deutschland und der Schweiz gehalten wurden. Diese Vorträge waren bislang nur vereinzelt in verschiedenen Zeitschriften und Büchern zu finden.
Reflexionen zur Weltkonferenz am Goetheanum 2023
Es gab da »Keynotes«, »Foren«, »Workshops«, »Panels«, »Groups« – im überdimensionalen A2-Format entfaltete sich das Programm vor meinen Augen. Mit dieser Fülle der Möglichkeiten kam selbst der sehr nahbar wirkende Johannes Kronenberg in seinen Ansagen durcheinander. Es waren Möglichkeiten des Hörens, denn dazu hatte das Goetheanum schließlich in die Welt gerufen und eingeladen: um zu hören. Also hörte ich mit: Am Morgen lauschte ich den üblichen Verdächtigen, im Themenforum den Impulsreferaten, in der Arbeitsgruppe den anderen Teilnehmenden, bei den Panels den Berichten der Willenskräftigen aus aller Welt. Nun ist es kaum verwunderlich, dass bei 1.000 Teilnehmenden eben doch meist die anderen reden. Mich wunderte jedoch die Zahl der jungen Menschen bei dieser Konferenz, die kaum zu Wort kamen oder sich fast nicht zu Wort meldeten. Außerhalb der Kaffeepausen, meine ich. Gerade von den Jüngeren – »nach 1980 geboren«, so eine Orientierungshilfe vor Ort – waren erstaunlich viele in jenen Tagen am Goetheanum erschienen. Das mag an der großzügigen und sinnvollen Förderung durch die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland und der regionalen Arbeitszentren liegen, für die herzlich gedankt sei.
Zur Ausstellung: ›Kapwani Kiwanga – Die Länge des Horizonts‹ im Kunstmuseum Wolfsburg
Durch einen blau und pinkfarben erleuchteten Tunnel führt der Weg in die erste umfassende Schau der kanadisch-französischen Künstlerin Kapwani Kiwanga (*1978), deren Kunstwerke weitläufig die große Halle des Kunstmuseums Wolfsburg bespielen. Das grelle blaue Licht werde gegen Drogenspritzen eingesetzt, weil dadurch die Venen nicht zu erkennen seien; hingegen beruhige das pinkfarbene Licht selbst Gefängnisinsassen, so habe ein Praxistest in einer Einlieferungszelle in Seattle gezeigt.
Zu Thomas Bernhard: ›Minetti‹ am Residenztheater in München
Jemand hat mich gefragt, wann ich zum letzten Mal eine Theateraufführung gesehen habe, die mich getroffen, berührt, mitgenommen, um nicht zu sagen erschüttert hat. Nichts anderes bedeutet im Theater: Güte. Es muss lange her sein, ich kann mich nicht erinnern. Der Zuschauer hat ja nichts als seine Augen und Ohren, durch die er an der Handlung teilnimmt. Gutes Theater bedeutet also, dass mithilfe dieser Sinne ein Prozess in Gang gesetzt wird, der mich verändert. Ich werde körperlich buchstäblich ergriffen. Das, was von der Bühne herkommt, sagen wir ruhig: (an)wehender Geist, durchdringt mich anders als die gewöhnliche sinnliche Wahrnehmung. Denn das, was mich da anweht, ist ja äußerlich gesehen, gar nicht da – es stammt als Gewebe eingebildeter Außenwelt aus dem Innern eines anderen Menschen. So erscheint die Welt, als wäre sie Idee und damit wird sie mir zur Landschaft der Freiheit. Hier spielt mein Wille die Hauptrolle, denn das Ich ist der Souverän des Ideellen.
An der Schwelle des 100. Todesjahres von Franz Kafka (1883–1924)
Der Jahrhundertdichter Franz Kafka, dessen 100. Todestag im kommenden Jahr wieder zu einer breiteren Vergegenwärtigung des Vergangenen führen wird, hat eine deutliche Spur im kollektiven Bewusstsein des 20. Jahrhunderts hinterlassen, die sich zu dem weltweit in den allgemeinen Wortschatz eingegangenen Adjektiv »kafkaesk« verdichtet hat. Max Brod, sein engster Freund und der erste Herausgeber seines Nachlasses, war über den »Kafka-Boom« der 50er-Jahre entsetzt und sprach von der ›Ermordung einer Puppe namens Franz Kafka‹. Dora Diamant, die in seiner letzten Lebenszeit an Kafkas Seite war und ihm in Berlin beim Verbrennen von Manuskripten half, wehrte sich dagegen, dass man aus dem geliebten Menschen nach seinem Tod Literatur machen wollte. Allerdings hat Kafka, obwohl er testamentarisch die Vernichtung seiner Manuskripte forderte, nicht sie, sondern Brod als Nachlassverwalter eingesetzt, von dem er wusste, dass er sich nicht daran halten würde.
Der Anatom und Botaniker Olof Rudbeck d.J. (1660–1740) und sein Schüler Carl von Linné (1707–1778
Olof Rudbeck d.J. war der Enkel von Johannes Rudbeck (1581–1646), der nach Luthers Tod in Wittenberg studiert hatte, später eine segensreiche Wirksamkeit als Bischof in Västerås ausübte und das schwedische Schulwesen stark förderte. Und er war der Sohn von Olof Rudbeck d.Ä. (1630–1702), der Medizinprofessor in Uppsala war und über Atlantis schrieb. Olof Rudbeck der Jüngere (geb. am 15. März 1660 in Uppsala, gest. am 23. März 1740 ebd.) – oder auch Olaus Rudbeckius dy (den yngre)– war ein schwedischer Naturforscher, vor allem auf dem Gebiet der Botanik und der Ornithologie, dazu mehrfach Rektor der Universität Uppsala (1708, 1715 und 1724). 1687 ging er zum Studium der Botanik nach Holland, England und Deutschland. Es folgte ein Medizinstudium an der Universität in Utrecht, wo er 1690 den Doktortitel erwarb. 1692 kehrte er nach Schweden zurück und trat als Professor für Medizin die Nachfolge seines Vaters an der Universität Uppsala an. Er spezialisierte sich auf Anatomie, Botanik, Zoologie und Pharmakologie. Sein Kollege Lars Roberg (1664–1742) hielt Vorlesungen in Medizin, Chirurgie, Physiologie und Chemie.
Mit der Vorsilbe ge- und seinem knappen -nug hat das Wort einen lakonisch-lapidaren Auftritt. Als bedürfe es keiner weiteren Worte zur Mitteilung, als sei mit dem einen Wort bereits alles Wesentliche – jedenfalls genug – gesagt. Werden weitere Worte gemacht, dann oft in verkürzten Sätzen, denen Verb oder Objekt fehlen und die den Charakter von Aufforderungen haben: Genug (damit), (jetzt aber) genug, (ich habe) genug, (es sind nun) genug der Ausreden! Natürlich kommt das Wort auch in ordentlichen Sätzen und ausführlichen Beschreibungen vor, die es in einen besonderen Zusammenhang stellen, näher bestimmen und differenzierte Aussagen ermöglichen. Als Solitär jedoch oder in abgekürzten Formulierungen hat genug eine handelnde, intervenierende Kraft. Wie »stopp«, »still«, »halt« und »raus« will es bei den Angesprochenen bewirken, was es zu verstehen gibt. Auch ohne sprengenden Explosivlaut gebietet es energisch Einhalt. Das macht sich sofort bemerkbar, wenn man es mit dem zumindest teilweise synonym verwendeten, aber distinguierteren genügend vergleicht. Genug Brot und genügend Brot laufen semantisch auf dasselbe hinaus und teilen sich doch ganz anders mit. Genügend schwingt und singt hinaus, genug könnte einem unter Umständen auch im Hals stecken bleiben.
Wohlwollen – ein Zauberwort
Eine Freundschaft, die Abgründe überwindet
Geisteswissenschaftliche Spitzenforschung
zu Artikeln von Bijan Kafi (2/2023), Frank Steinwachs (4/2023) und Thomas Külken (5/2023)
Wie angekündigt steht auch in diesem Heft die Weihnachtstagung 1923/24 im Mittelpunkt der Betrachtung - die durchaus kritisch ausfällt, was die Umsetzung der damals von Rudolf Steiner gesetzten Impulse betrifft. Günter Röschert, seit 1975 Autor dieser Zeitschrift, gibt in seiner ›Besinnung nach 100 Jahren‹ den Takt vor: aus seiner Sicht ist die Weihnachtstagung ein gescheiterter Aufbruch geblieben, weil insbesondere die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft dem Auftrag, eigenständige geistige Forschung zu betreiben, nicht gerecht geworden sei. Dadurch habe die ganze anthroposophische Bewegung den sektiererischen Charakter, dessen Überwindung Rudolf Steiner ein Anliegen war, bis heute nicht abstreifen können.
Wegmarken einer Verirrung
Was wir zur Zeit an Kriegsereignissen erleben, ist kaum noch zu fassen. Nach all unserer Kenntnis über das Grauen des Kolonialismus, der beiden Weltkriege, des Korea- und des Vietnamkrieges, des Jugoslawien- und des Tschetschenienkriegs, des »Krieges gegen den Terror« usw. geschehen nun wieder Gräuel, die den früheren nicht nachstehen. Auch wenn keine sogenannten Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden, sterben dennoch Massen von Menschen durch militärische Gewalt. Russland hat durch die Unterstützung der Donbass-Republiken die Ukraine noch tiefer ins Elend getrieben, während durch die Ukraine selbst – wie auch durch Israel – der Begriff der »Selbstverteidigung« ad absurdum geführt wird. Die Ukraine verteidigt sich gewissermaßen zu Tode, eine »soziale Verteidigung« des Landes (als passiver Widerstand gegen die Besatzer) hätte erträglichere Zustände herbeigeführt; und selbst wenn Israel in Gaza Zerstörungen unvorstellbaren Ausmaßes bewirkt, wird es den Hass seiner Feinde nicht auslöschen und somit sein eigenes ständiges Bedrohtsein nicht beenden. Beide Kriege sind die Folge nicht ergriffener Chancen oder fehlenden Willens, vorab sinnvolle Lösungen zu suchen oder vorliegende vernünftige Vorschläge anzunehmen. Aber auch die Eroberung der armenischen Enklave Bergkarabach durch Aserbaidschan und die Vertreibung von ca. 100.000 Armeniern aus ihrer Heimat, die türkische Okkupation kurdischer Gebiete in Nordsyrien mit Zerstörung der Energie- und Wasserversorgung sowie Vertreibung der Bevölkerung, und alle anderen Kriege in verschiedenen Teilen der Welt zeugen weiterhin von hemmungsloser Gewaltanwendung für fragwürdigste Ziele. Und in allen diesen Konflikten werden die Not und das elende Sterben unzähliger Soldaten und Zivilisten in Kauf genommen. Mitleid mit den gequälten Menschen fehlt den Verantwortlichen.
Zu Valentin Tomberg: ›Vom Völkerrecht zur Weltfriedensordnung‹
Wer durch die grauenvollen Berichte aus dem bald zwei Jahre andauernden Russland-Ukraine-Krieg nicht gänzlich abgestumpft ist, dem muss es ungemein schwer fallen, die Möglichkeit und Legitimität eines »gerechten« Krieges grundsätzlich für denk- und rechtfertigbar zu halten. Erschwert wird eine rechtsethische Legitimation »gerechter« Kriege dadurch, dass unter den Bedingungen einer modernen Kriegsführung mehr denn je zwangsläufig das unerwünschte Phänomen des »Fog of war« auftritt, sich also als empirische Tatsache zeigt, dass
1. allen Parteien der Kriegsverlauf entgleitet und prinzipiell keine Kontrolle über die Entwicklung eines Krieges gegeben ist,
2. immer unvermeidbare, erhebliche sogenannte Kollateralschäden gegenüber Unschuldigen und Zivilisten entstehen und
3. mit dem Einsatz moderner Waffen das prinzipielle Dilemma einhergeht, dass diese - insbesondere Flächenbomben und Minen - grundsätzlich keine Unterscheidung von Feind und Freund, von Soldat und Zivilist ermöglichen.
Was bedeutet es für die anthroposophische Arbeit, den Karmagedanken ernstzunehmen?
Mit dem Entschluss Rudolf Steiners, sich auf der Weihnachtstagung 1923/24 bis hin zur äußeren Verwaltung in die Anthroposophische Gesellschaft voll verantwortlich hineinzustellen, war eine bittere Konsequenz verbunden: Einer Aussage Marie Steiners zufolge hatte er dadurch das Karma der Anthroposophischen Gesellschaft auf sich genommen. Rudolf Steiners persönliches Schicksal ist somit engstens mit dem jener Menschen verkettet, die sich damals mit der anthroposophischen Sache verbunden haben.
Über die Weihnachtstagung 1923/24 zur Gründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft
Über den Verlauf der sogenannten Weihnachtstagung 1923/24 brachte Marie Steiner zwanzig Jahre später eine ausführliche Dokumentation heraus. Im Vorwort führte sie aus, die Tagung sei der Versuch eines »Menschenerziehers« gewesen, »seine Zeitgenossen über das eigene kleine Selbst hinaus zu heben, sie zum bewußten Wollen wachzurufen, Werkzeug der weisen Weltenlenkung werden zu dürfen.« Marie Steiner fuhr dann fort: »Doch ist diese Weihnachtstagung zugleich mit einer unendlichen Tragik verbunden. Denn man kann nicht anders als sagen: Wir waren wohl berufen, aber nicht auserwählt. Wir sind dem Ruf nicht gewachsen gewesen. Die weitere Entwicklung hat es gezeigt.« Die Tagung stehe im »tragischen Lichte« für den, der die Möglichkeit habe, »die Geschehnisse zu überschauen. Von der Schwere und dem Leide dieses Geschehens haben wir nicht das Recht, unsere Gedanken abzuwenden.« Dieser Worte gilt es sich zu erinnern, wenn in der Anthroposophischen Gesellschaft der Gegenwart der historischen Weihnachtstagung festlich gedacht wird.
Die Weihnachtstagung zur Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24 und Rudolf Steiners Hochschulimpuls
Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« stehend, wie der Historiker George F. Kennan den die Geschichte dieses Jahrhunderts prägenden Ersten Weltkrieg charakterisiert, gab Rudolf Steiner im Jahr 1918 ›Die Philosophie der Freiheit‹ neu heraus. Der Autor versah sein damals weitgehend in Vergessenheit gesunkenes Hauptwerk bei dieser Gelegenheit mit erläuternden Zusätzen und einer ›Vorrede‹. Offenbar war es ihm, der zu diesem Zeitpunkt seit mehr als einem Jahrzehnt in der theosophisch-anthroposophischen Bewegung als vielbeanspruchter Vortragsredner, Lehrer und Berater unterwegs war, wichtig, auf die Grundlagen der von ihm vertretenen Geisteswissenschaft zu verweisen. Es galt, das Ideal eines »ethischen Individualismus« ins Bewusstsein seiner spirituell meist hochmotivierten Schülerinnen und Schüler zu rücken. Diese waren aufgrund ihres Hangs zu mystischen Traditionen und unter dem Eindruck der Autorität des »Meisters« sowie der von diesem übermittelten »Offenbarungsinhalte« stets gefährdet, ihr selbstständiges Denken und Beobachten zumindest partiell einzubüßen.
Welche Bedingungen benötigt ein zeitgemäßes Mysterienwesen? (2. Teil)
Der in drei Klassen gegliederte Hochschulorganismus, deren Einrichtung Rudolf Steiner mit der Weihnachtstagung 1923 in Angriff nahm, sollte eine irdische Erscheinungsform der übersinnlichen Michaelschule werden und die verschiedenen Lebenszweige impulsieren. Welche Konsequenzen hat es für die Gegenwart, dass dieser Einrichtungsprozess nur bis zum 1. Abschnitt der ersten Klasse durchgeführt werden konnte? Und was bedeutete dies für die Menschen, die diese Tragik unmittelbar miterlebt haben?
Der Grundsteinspruch in der Entwicklung des jungen Menschen
Die Grundstein-Meditation Rudolf Steiners besteht aus vier Teilen. Die ersten drei entfalten ein rhythmisch gegliedertes Bild der Menschenseele in ihrem Verwobensein mit Leib und Geist, mit irdischer Menschenwelt und geistigem Kosmos. Aus diesem geistig strahlenden Bild ertönt eine zu höchster Differenzierung entwickelte und in höchster Vereinfachung zusammengefasste Weisheit, die zunächst fast kristallin-unzugänglich erscheint, doch schon nach anfänglicher meditativer Beschäftigung beginnt, inneres Leben zu entfalten und Seele zu atmen. Der vierte Teil – im Duktus ganz anders als die ersten drei – erzählt wie ein Ur-Märchen mit einfachsten Worten den historischen wie innerlichen Weg des Welten-Geistes-Lichtes in das Innere des Menschen hinein, zum Ziel der Verwirklichung des Guten.