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Tausend Jahre Merseburger Dom (1021–2021)
Merseburg zu DDR-Zeiten – was war das schon? ›Buna‹, ›Leuna‹, chemische Industrie, zerstörte Landschaft. Jeder konnte froh sein, dort nicht zu wohnen und auch nicht hinzumüssen. Merkwürdig nur, dass eine Studienfreundin, die aus Merseburg stammte, so ganz anders sprach. Wir andern glaubten es nicht recht. Das Einzige, was ebenfalls dagegen sprach, waren die Merseburger Zaubersprüche, von denen wir in der Schule gehört hatten, und die uns so seltsam berührten, fremd und doch anziehend, vielleicht gerade weil wir sie kaum verstanden. Aber das war uralt, in einer für uns unvorstellbar lange zurückliegenden, heidnischen Zeit, noch vor der Christianisierung. Von letzterer, die man allerdings zur Kenntnis nehmen musste, hielt man ja in der DDR nicht viel.
Versuch einer Selbstrecherche
In meinem thüringisch-dörflichen Elternhaus gab es keine nennenswerten Bücher. Eingeprägt hat sich mir lediglich ein alpiner BildTextband von Luis Trenker, vor allem wegen seiner Schwarz-Weiß-Fotos. Dieses Buch habe ich immer wieder durchblättert, allein und auch mit Frau Dornis, einer Nachbarin, zu der ich manchmal hinüberging, wenn ich allein war. Sie richtete meine Aufmerksamkeit auf die abgebildeten Bergdörfer, genauer gesagt auf die Kirchlein, die niemals fehlten. Immer wieder spornte sie mich an, sie zu suchen. Ich muss offen lassen, was das in meinem Unterbewusstsein bewirkt hat.
Der Künstler und Sozialgestalter Michael Wilhelmi
Als ich Michael Wilhelmi zum ersten Mal wahrnahm, das war irgendwann nach der Jahrtausendwende im Berliner Johanneszweig, wäre ich wohl nie auf die Idee gekommen, er könne etwas mit Kunst zu tun haben. Auf mich wirkte er ausgesprochen kopflastig und eher trocken als sinnlich. Ein langer, hagerer Mensch von umfangreichen anthroposophischen Kenntnissen, sehr engagiert auf verschiedenen Ebenen, der zu einem angesprochenen Problem schon Antworten suchte, noch bevor es sich ganz dargestellt hatte. Ein Praktiker und immer hilfsbereit. Erst viel später sah ich einen hellen, bearbeiteten und sorgsam polierten Granitblock von organischer Form im langen Flur der Kreuzberger Erzieherfachschule stehen, die er mitbegründet hatte und in die der Johanneszweig inzwischen umgezogen war. Da stutzte ich. Etwas später tauchte eine schöne kleine Bronze im Foyer des Rudolf Steiner Hauses in Berlin auf. »Die ist von Herrn Wilhelmi«, sagte mir jemand. Da hatte ich schon begonnen, mich für seine Arbeiten zu interessieren.
Der Anatom und Botaniker Olof Rudbeck d.J. (1660–1740) und sein Schüler Carl von Linné (1707–1778
Olof Rudbeck d.J. war der Enkel von Johannes Rudbeck (1581–1646), der nach Luthers Tod in Wittenberg studiert hatte, später eine segensreiche Wirksamkeit als Bischof in Västerås ausübte und das schwedische Schulwesen stark förderte. Und er war der Sohn von Olof Rudbeck d.Ä. (1630–1702), der Medizinprofessor in Uppsala war und über Atlantis schrieb. Olof Rudbeck der Jüngere (geb. am 15. März 1660 in Uppsala, gest. am 23. März 1740 ebd.) – oder auch Olaus Rudbeckius dy (den yngre)– war ein schwedischer Naturforscher, vor allem auf dem Gebiet der Botanik und der Ornithologie, dazu mehrfach Rektor der Universität Uppsala (1708, 1715 und 1724). 1687 ging er zum Studium der Botanik nach Holland, England und Deutschland. Es folgte ein Medizinstudium an der Universität in Utrecht, wo er 1690 den Doktortitel erwarb. 1692 kehrte er nach Schweden zurück und trat als Professor für Medizin die Nachfolge seines Vaters an der Universität Uppsala an. Er spezialisierte sich auf Anatomie, Botanik, Zoologie und Pharmakologie. Sein Kollege Lars Roberg (1664–1742) hielt Vorlesungen in Medizin, Chirurgie, Physiologie und Chemie.
Zur Internationalen Jahreskonferenz ›Living Light – Licht wirkt‹ der Medizinischen Sektion am Goetheanum
Will man heute erleben, was die Anthroposophie zu sagen hat und bewirken kann, dann besuche man eine der großen internationalen Tagungen der verschiedenen Sektionen der Freien Hochschule am Goetheanum. Wie auch schon auf der Tagung der Eurythmisten und Sprachgestalter zu Ostern, wurde auf dieser Jahreskonferenz der Medizinischen Sektion ganz deutlich, dass die Anthroposophie heute vor allem durch die Lebensfelder in der Welt wirksam ist. Etwa 800 Ärzte, Therapeuten, Pflegende und am Thema Interessierte aus etwa 30 Nationen hatten sich vom 13. bis 16. September 2018 am Goetheanum versammelt, um nach der Wärme, die im letzten Jahr Thema war, sich dem Licht und seinen Wirkungen zuzuwenden.
Zur Ausstellung ›Emil Nolde – Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus‹ im Berliner Museum für Gegenwart (Hamburger Bahnhof)
Ungewöhnlich und doch zeitlos schön wirken die meisten Bilder Emil Noldes (1867–1956): leuchtende Farben, spannungsvolle Kompositionen, träumerische Stimmungen und märchenhafte Motive. Wüsste man nicht, dass sichdie Ausstellung ›Emil Nolde – Eine deutsche Legende‹ um dessen nationalsozialistische Vergangenheit dreht – man würde angesichts der Gemälde nicht darauf kommen.
Zu Sergij Bulgakov: ›Aus meinem Leben‹
In der sechsten Generation orthodoxer Priester, zuvor jedoch, im jüngeren Lebensalter (und mit Schwerpunkt in den 1890er Jahren) einer der führenden Köpfe unter den Marxisten im vorrevolutionären Russland: Diese Spanne markiert nur einen der starken Gegensätze, die das Leben und Wirken Sergij Bulgakovs (1871–1944) bestimmen sollten. Während ein Vladimir Solov’ev im deutschsprachigen Raum weithin bekannt ist und hierzulande auch die Werke des 1937 in stalinistischer Lagerhaft ermordeten Priesters Pavel Florenskij einige Beachtung finden, ist der Name des dritten bedeutenden Lehrers der russischen Sophiologie bislang nur einigen wenigen Interessierten ein Begriff. Dabei könnte man, etwa, was die Ausbildung einer lehrmäßigen Systematik angeht, gerade bei Bulgakov von einer Kulmination der russischen Sophia-Verkündigung sprechen. Grund für seine relative Unbekanntheit ist vor allem, dass bisher kaum Übersetzungen seiner zahlreichen Schriften ins Deutsche vorliegen. Hier Abhilfe zu schaffen, haben sich die Herausgeberinnen auch des vorliegenden zweiten Bandes einer deutschen (in Teilen zweisprachigen) Werkausgabe vorgenommen: Regula M. Zwahlen und Barbara Hallensleben, die das Editionsvorhaben in der Reihe ›Epiphania‹ von der ›Université de Fribourg‹ aus betreiben.
Christiane von Goethe geb. Vulpius zum 200. Todestag
Zur Ausstellung ›Die Etrusker‹ im Badischen Landesmuseum Karlsruhe
Sie nannten sich selbst »Rasenna« oder »Rasna« und siedelten in Mittelitalien zwischen dem Arno im Norden, dem Tiber im Süden und dem Tyrrhenischen Meer im Westen. Von jeher haftete den Etruskern die Aura des Geheimnisvollen an. Wer sie waren und woher sie kamen ist bis heute nicht hinreichend geklärt. Durch römische Autoren weiß man, dass es sich um eine Schrift verwendende Hochkultur handelte, ihre Eigenzeugnisse sind jedoch größtenteils verlorengegangen. Daher kommt der archäologischen Forschung eine Hauptrolle zu.
Ende März 2019 erreichte uns eine Anfrage unserer Kollegen von der Zeitschrift ›Info 3‹, wie wir es mit der Frage nach einer gendersensiblen Sprache halten. Nachdem wir dieses Thema auf der nächsten Redaktionssitzung besprochen hatten, entwarf ich folgende Antwort: »Unsere Redaktion besteht aus drei Männern und zwei Frauen. Der Chefredakteur ist ein Mann, die Herausgeberin eine Frau. Wir sind einmütig gegen das Gendern, weil wir finden, dass es sich dabei um eine äußerliche und intellektualistische Art des Umgangs mit der Sprache handelt. Gendern macht die Sprache sperrig, weil es den Schwerpunkt vom Bezeichneten auf das Zeichen verschiebt. [...]«
Zum Umgang mit einem problematischen Denkmal
In Heidenheim an der Brenz steht auf einer Anhöhe ein gemauerter Steinblock aus hellem Muschelkalk. Er bildet den Abschluss einer niedrigen Mauer, die einen Viertelkreisbogen um eine weit ausladende Buche schlägt. Der Steinblock trägt in reliefartigen Lettern den Namen eines Mannes, der von 1941 bis 1943 das deutsche Afrikakorps befehligte. Es wurden infolge dieses Feldzuges 220.000 Gefallene auf alliierter Seite gezählt sowie etwa 62.0000 auf der Deutschlands und Italiens. Zudem wurden etwa 20 Mio. Sprengminen in einem Küstenstreifen zwischen Libyen und Ägypten ausgelegt. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind hier etwa 3.300 Menschen durch Minenexplosionen umgekommen. Mehr als 7.000 wurden verletzt.
Ein Film über den japanischen Künstler Susumu Shingu
Zu ›Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft‹ in der Bundeskunsthalle Bonn
Max Klinger (1857-1920), herausragender Vertreter des Symbolismus, zu seiner Zeit so hoch verehrt wie heftig angegriffen, wurde dieses Jahr anlässlich seines 100. Todestages vom Museum der bildenden Künste seiner Geburtsstadt Leipzig mit der umfangreichen Sonderausstellung ›Klinger und Europa‹ geehrt. Das Museum besitzt die weltweit größte Klinger-Sammlung. Dazu gehören neben Gemälden, Skulpturen sowie Entwurfsgipsen sämtliche grafischen Zyklen und ein umfangreicher Bestand an Zeichnungen, Druckplatten und zeitgenössischen Fotografien. Auch monumentale Werke befinden sich hier, so das Beethoven-Denkmal (1886-1902) und die wandfüllenden Gemälde ›Christus im Olymp‹ (1889-1897) und ›Die Kreuzigung Christi‹ (1888-1891). Das gleichzeitige Jubiläum des in Bonn geborenen Ludwig van Beethoven (1770-1820) veranlasste eine kluge Kooperation der Leipziger mit der Bundeskunsthalle. Internationale Leihgaben anderer zeitgenössischer Künstler erweitern die Sicht auf Klinger durch Vergleiche, darunter mehrere Werke von Auguste Rodin, Max Klimt oder die berühmte, 1895 geschaffene polychrome Büste der Sarah Bernhardt (ca. 1895) von Jean-Léon Gérôme aus dem Pariser Musée d’Orsay.
Zwei Ausstellungen im Museum Wiesbaden
Eine seltene Symbiose wird im Museum Wiesbaden dargeboten, das diese Zuschreibung bereits in seinem offiziellen Namen trägt: ›Hessisches Landesmuseum für Kunst und Natur‹. Im Sommer dieses Jahres wurde dort ein neuer Ausstellungsbereich eröffnet, der das Haus zu einem herausragenden Ort in der europäischen Museumslandschaft werden lässt. Er ist einer Schenkung des Wiesbadener Mäzens Ferdinand Wolfgang Neess gewidmet, der eine der bedeutendsten Privatsammlungen des Jugendstils und des Symbolismus zusammengetragen hat: mehr als 500 Objekte, darunter Möbel, Gemälde sowie Werke aus Glas, Porzellan und Keramik. Die Sammlung bietet einen Querschnitt durch alle Gattungen und stilistischen Positionen dieser Kunstrichtung, außerdem werden die Objekte in geografischer und thematischer Hinsicht miteinander in Bezug gesetzt. Die Ausstellungsräume im Südflügel wurden dafür zum Teil wie regelrechte Wohnungen eingerichtet. So ist ein Gesamtbild entstanden, das in dieser Form wohl einmalig ist. Als Besucher tritt man dadurch in eine Lebenswelt ein, wie sie befremdlicher nicht sein könnte.
Zwei Ausstellungen im Museum Wiesbaden
Im Juni 1921 kam der russische Maler Alexej von Jawlensky (1864–1941) erstmals nach Wiesbaden. Spontan traf er die Entscheidung, sich dort niederzulassen, wo er dann die letzten zwanzig Jahre seines Lebens zubrachte. Seine Grabstätte befindet sich auf dem russischen Friedhof auf dem Neroberg. In der Jubiläumsausstellung ›Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden‹, präsentiert das Museum Wiesbaden zum ersten Mal komplett die 111 Werke des Künstlers aus dem eigenen Bestand. Sie umfassen Jawlenskys gesamtes Schaffen, alle wichtigen Entwicklungsphasen des Künstlers – die frühe Münchener Phase mit den expressiven Köpfen, die Sommeraufenthalte in Murnau und das Schweizer Exil, sowie die Wiesbadener Periode – sind mit Hauptwerken vertreten. Die Wiesbadener Sammlung kann damit als die weltweit bedeutendste gelten. Die bereits zu Lebzeiten des Künstlers aufgebaute erste Wiesbadener Sammlung war von den Nationalsozialisten vollständig aufgelöst worden. Als »entartete Kunst« wurden die Gemälde an ihre Besitzer zurückgegeben bzw. beschlagnahmt und abtransportiert.
Ein Buch und eine Ausstellung erinnern an Sophie Stinde
Ich und Europa I
Ein großes Geschenk hat mir das Schicksal senden wollen: Schon als Jugendlicher und Student hatte ich die Möglichkeit, im ganzen Europa zu reisen. Ich war ein leidenschaftlicher Interrailer, allein wie in Gemeinschaft, und noch heute bereise ich am liebsten Europa, obwohl ich schon als Kind aussereuropäische Abstecher erleben durfte. Denn eines begeistert mich immer wieder, in der russischen wie in der portugiesischen, in der norwegischen wie in der süditalienischen Provinz, vom abgelegenen, dorfähnlichen Bauernhof in der goldenen Abendsonne des norwegischen Sommers bis zum stolzen, winzigen Städtchen im kargen Innenland Siziliens oder am leuchtend grünen Ufer der Elbe, vom versteckten Abteidorf in Portugal bis zu den strahlenden Kremls der russischen Ebene: die Begegnung mit unendlich vielen kleineren Orten, die so gebaut sind, als ob sie für das wahrnehmende Ich eine geistige Mitte der Welt bilden moÅNchten. Nicht ein weltenloses Zentrum, das einschüchtert, scheinen sie bilden zu wollen, sondern eben eine Mitte, wo ich – tätig-ruhig – gleichsam in einem tiefen Gespräch meinem eigenen Ich wie einem Gesicht begegnen kann, das sich ohne das mich ansprechende Antlitz dieser Orte nicht hätte offenbaren können.
Zu Hans-Heino Ewers: ›Michael Ende neu entdecken‹
Michael Endes Werk gilt als bessere Literatur des Genres Fantasy, dem bekanntlich auch viele weniger angesehene Werke angehören, wie die populärsten Filme und Computerspiele der Massenkultur. Der Literaturwissenschaftler Hans-Heino Ewers interpretiert Endes Werk im Kontext der Psychologie C.G. Jungs und zeigt auf: Fantasy kann für das Wohlergehen der modernen Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sein – im Guten wie im Bösen.
Zu Wilfried Sommer: ›Resonanzfiguren des verkörperten Selbst‹
Der Physikdidaktiker und Waldorflehrer Wilfried Sommer hat ein schmales Bändchen mit Untersuchungen zu anthropologischen Perspektiven der Waldorfpädagogik vorgelegt, die in ihrem besonderen Ansatz und im Duktus der Gedankenführung neue Wege einschlagen. Neu ist die Radikalität, mit der er darauf verzichtet, seine Überlegungen aus den mannigfachen Darstellungen Rudolf Steiners abzuleiten, zu erläutern und daraus wiederum zu erklären. Er vermeidet diesen Zirkel und setzt vielmehr anderswo an. Da ist vor allem der Bereich schulpädagogischer Diskussionen zu dem von Hartmut Rosa eingeführten Paradigma der Resonanz. Da ist im engeren Sinn die Anthropologie der Verkörperung, wie sie in den letzten Jahren der Arzt und Philosoph Thomas Fuchs ausgearbeitet hat. Sommer verankert seine Studien in jenem akademischen Feld aktueller Diskurse, das in der Methode nicht reduktionistisch ansetzt, sondern im Blick auf den Menschen sorgsam differenziert die Reichhaltigkeit gegebener Gesichtspunkte im Blick behält.
Wohin es führt, einen sonderlichen Satz von Joseph Beuys verstehen zu wollen
Am Anfang stand ein Erlebnis auf der ›documenta 5‹ in Kassel. All das, was ich dort von dem Mann mit Hut zu sehen und zu hören bekam, hat mich ziemlich beeindruckt. Fortan verfolgte ich mit loser Aufmerksamkeit, wie er sein Werk inszenierte und die Öffentlichkeit polarisierte. Jahre später stand ich erstmals vor seiner Installation ›Zeige deine Wunde‹. Wenn möglich, nutze ich Aufenthalte in München, um im Lehnbachhaus den ›Wundenraum‹ zu besuchen. Was immer ich danach von ihm sah, sprach in mir etwas an, das ich aber kaum benennen konnte. Es war ganz einfach da. Ende der achtziger Jahre, als ich mich der Anthroposophie über ihre sozialen Arbeitsfelder näherte, bemerkte wer, ob ich denn wüsste, dass Beuys vom »Steiner-Virus« befallen war, nur sei das bislang kaum bekannt. Nein, weder wusste ich das, noch fand ich es damals bedeutsam.
Der Hl. Pirmin (* um 690; † 753) und die Gründung des Klosters Reichenau vor 1300 Jahren
Im Januar 1988 hatte ich Gelegenheit, trotz fest geschlossener Mauer von der DDR an den Bodensee zu reisen. Studienfreunde, die nach gelungener Ausreise in die Bundesrepublik jetzt in Radolfzell lebten, beherbergten mich für einige Tage. Mein erster Weg dort führte mich auf die Insel Reichenau. Der Zug Richtung Konstanz hielt am Bahnhof Reichenau nahe dem Damm, der seit 1838 die Insel mit dem Festland verbindet. Es war ein kalter, nebliger Tag, an dem man nicht weit sehen konnte; gar nichts von der Kulisse der Alpen im Hintergrund, kaum die nahegelegenen Bäume der Pappelallee. Was mich hierher zog, war das sichere Gefühl, einen alten, geweihten Ort zu betreten, den ich als Deutsche und Europäerin unbedingt gesehen haben musste. Ich ging die etwa zwei Kilometer allein, einmal überholte mich ein Auto, der Fahrer hielt und bot mir an, mich mitzunehmen. Doch ich lehnte ab, zu sehr hätten mich praktische Erwägungen vom eigentlichen Erleben der Reichenau abgehalten.
Drei Kolloquien und eine Woche der Inspiration und Begegnung
Der Klimawandel – aufgrund seines schnellen Verlaufs auch »Klimabruch« genannt – ist ein brennendes Problem, nicht nur für die junge Generation, die sich ihrer Zukunft beraubt fühlt, sondern für jeden Menschen, den die Not der Erde und ihrer Bewohner aufrüttelt. Die naturwissenschaftlichen Fakten sind in vereinfachter Form in aller Munde, die »Feinde« identifiziert. Und so wird einerseits radikaler Verzicht gefordert, oder man hofft auf technische Lösungen, die das Desaster wieder richten sollen. In beiden Fällen bleiben viele ungelöste Probleme. Es ist spürbar, dass sich etwas verändern muss, aber wie kommt das in Gang? Und wo bleibt die geistig-spirituelle Perspektive?
Zum Auftakt einer neuen Filmreihe von Rüdiger Sünner
Über den unermüdlich schaffenden Filmemacher und Autor Rüdiger Sünner kann man ohne Übertreibung mit einem Wort Martin Bubers sagen, dass er stets darum bemüht ist »neues Feuer« heranzubringen, damit »die Glut auf dem Altar seiner Seele nicht verlösche«. Eine ganz wichtige Inspirationsquelle für Sünners Werk, aus der er seit Jahrzehnten sein kreatives Seelenfeuer bezieht, sind die Landschaften, die er auf seinen zahlreichen Filmreisen durchstreift. Kein Sünner-Film, der nicht zu einem wesentlichen Teil von der Atmosphäre der gefilmten Orte lebt. Da ist es nur folgerichtig, wenn sich Sünner nach den vielen Porträts, die er über große Denker, Dichter und Künstler gedreht hat, nun in seinem Alterswerk dem Rohstoff seiner Arbeit zuwendet und uns mitnimmt auf eine Reise zu seinen Seelenlandschaften. Es ist, als würde Sünner sein sonst eher im Hintergrund wirkendes Zauberkästchen ins Offene stellen und ihm den Ehrenplatz auf der Bühne überlassen. Die stimmungsvollen Filmorte dienen nun nicht mehr der Untermalung der Gedanken und Lebensstationen berühmter Protagonisten, sondern werden selbst zu den alleinigen Hauptdarstellern. Entstanden ist dabei ein sinnlich-poetischer Filmzyklus, der auf mindestens drei Teile angelegt ist. Zwei davon sind bereits erschienen: ›Seelenlandschaften: England und Wales‹ und ›Seelenlandschaften: Schottland‹. Im Herbst 2024 wird ein weiterer Teil über die Seelenlandschaften in Deutschland folgen (der auch von einem Buch begleitet wird). Und es wäre nicht verwunderlich, wenn es am Ende einen vierten oder fünften Teil geben sollte. Zumindest scheint die kindliche Entdeckerlust des mittlerweile 70-Jährigen noch immer frisch und ungebrochen.
Eine Erinnerung zum 110. Todestag
In seinem letzten Jugendroman ›Der Ölprinz‹ lässt Karl May (1842-1912) den sächselnden Hobble-Frank die humorvoll formulierte, aber durchaus ernst gemeinte Frage aussprechen: »In welcher heematlichen Gegend sind denn eigentlich Sie aus der jenseitigen Ewigkeet in die diesseitige Zeitlichkeet hineingeschprungen?« Wenig später lässt May denselben Hobble-Frank Reklame für die Zeitschrift ›Der gute Kamerad‹ machen, in der dieser Roman zum Erstabdruck kam. Sollte auch die zitierte Frage eine Art Werbebotschaft enthalten - nämlich für seine spirituelle Weltanschauung?
Zu ›Am See‹ von Kapka Kassabova
Kann ein einzelner Mensch eine Landschaft – und ihre Schicksale – erlösen? Ist das denkbar – oder sogar machbar? Um nichts weniger als diese Frage geht es im jüngsten Buch der bulgarisch-englischen Schriftstellerin Kapka Kassabova, das 2021 auf deutsch erschien und hier vorgestellt werden soll. (Das Original kam 2020 unter dem Titel ›To the Lake. A Balkan Journey of War und Peace‹ in London heraus) »Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, / ist eingeweiht«, sagt Goethe in ›Torquato Tasso‹ (V. 80f.). Wem träten dabei nicht die Landschaften Umbriens, die der heilige Franziskus durchwandelte, vor das innere Auge, um nicht gleich ans biblische Galiläa zu denken – oder, näher bei uns, die Thomaskirche in Leipzig, an der Johann Sebastian Bach wirkte?