Franz Brentanos ›Lehre Jesu‹ und die Anthroposophie
Franz Brentano hat über seine Schüler auf viele Richtungen in Philosophie und Psychologie des 20. Jahrhunderts (z.B. Phänomenologie, Existenzphilosophie, analytische Philosophie, experimentelle Psychologie) großen Einfluss ausgeübt. Weniger bekannt ist, dass er mit seinem Philosophieren ein tiefes religiöses Anliegen verband. Darin liegt aber meines Erachtens der Grund für die innere geistige Beziehung seines Erkenntnisstrebens zur Anthroposophie. Der vorliegende Text möchte auf diese Beziehung hinweisen, ohne dabei alle geäußerten Gedanken ausführlich erläutern zu können. Die geschilderten Zusammenhänge sind so komplex, dass ihre Darstellung den zur Verfügung stehenden Rahmen weit überschreiten würde. Ich hoffe dennoch, auch ohne tiefer gehende Begründung der Sachverhalte die Leserinnen und Leser gerade durch die offen bleibenden Fragen zum Nachdenken über die rätselhafte Verbindung Brentanos zur Anthroposophie und zu Rudolf Steiner anregen zu können.
Rudolf Steiners Karmavorträge von 1924 als Denkkunstwerk
Erkenntnis, in alten Zeiten als Offenbarung eine Gottesgabe, ist immer mehr individuelle menschliche Leistung geworden. Am Beginn dieser Entwicklung steht Sokrates mit seinem schockierend radikalen Zurückweisen aller überlieferten Weisheit: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Sein Erkenntnisinstrument ist die Frage, als Einladung an den einzelnen Menschen, selbst zu denken. Dies führt zu der Einsicht und Grundregel der Philosophie, dass Weisheiten sekundär sind und nicht zu Dogmen erstarren sollten, dass Gedanken nicht das Denken ersetzen können. Das Denken selbst ist das Primäre, das lebendige Huhn, das immer neue Eier legt. In der Konsequenz entscheidet sich Lessing, wenn Gott ihm in der einen Hand die Wahrheit, in der anderen die Suche nach der Wahrheit zur Wahl bieten würde, für die Suche; nicht für die Produkte, die Erkenntnisse, sondern für die Erkenntnisfähigkeit als menschliche Produktionskraft. Und wenig spater stellt Hölderlin diese Umwendung im menschlichen Erkennen in einen großen Zusammenhang: »Denn nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen / Die Sterblichen eh' an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo, / Mit diesen. Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.«
Einige grundsätzliche Überlegungen
Jedes einzelne (endliche, begrenzte und in diesem Sinne kontingente) Seiende tritt aus dem Seinsganzen hervor (emanatio), währt seine Zeit und sinkt in das Seinsganze zurück (regressus) Das Seinsganze ist der Seinsgrund des Seienden. Das Seinsganze »existiert« nur in dem Sinne, dass seine Teile existieren (exsistere = sich abheben, hervortreten, zum Vorschein kommen) und somit als einzelne Seiende durch Abgrenzung vom Grunde (differentia) definiert sind. Das Seinsganze selbst existiert in diesem Sinne nicht, da es, wie der Begriff »Seinsganzes« sagt, außerhalb seiner selbst, neben oder über ihm, kein weiteres Sein gibt, an das es angrenzen, von dem es sich unterscheiden oder aus dem es hervortreten könnte. (Mehr als alles gibt es nicht.) Es ist nicht definierbar, ist räumlich und zeitlich ohne Anfang und Ende, also unbegrenzt und somit unendlich. Es kann zu keinem genus proximum gehören (da es selbst der oberste Gattungsbegriff ist, der sich denken lässt) und verfügt über keine spezifische Eigenschaft, durch die es sich von anderem unterscheiden könnte (da es anderes als es selbst nicht gibt).
Laut Novalis hängt die poetische Kraft von dem Erkenntnisbewusstsein ab, von dem sie getragen wird: »Je größer der Dichter, desto weniger Freyheit erlaubt er sich, desto philosophischer ist er.« Die poetische Konstruktion soll zwar nicht Erkenntnisse begrifflich darstellen, eine abstrakte Gedankenbewegung nach sich ziehen, jedoch in dem poetischen Werk ein Instrument erzeugen, das wie die Werke echter Wissenschaft das seelische Leben stärkt, konkretisiert. Dem Poeten (für Novalis ist der Poet der sprachlich Schöpferische, der Dichter schlechthin) wird dies insofern gelingen, als er Erfahrungen des seelischen Lebens angesammelt hat und in der Erkenntnis seiner selbst vorgedrungen ist. Das Erkennen bildet den untergründig das poetische Schaffen belebenden Gegenstrom. Es ist geistiges Einatmen der Zusammenhänge, die – verwandelt durch individuelles Erleben – im Kunstschaffen ausgeatmet werden. Der Poet wählt und entwickelt seinen Stoff, die sprachlich gebundene Vorstellung, so, dass dieser sein Erkennen aufzunehmen vermag.
Ideologie und Fakten - Teil I
In einem Artikel der ›Erziehungskunst‹ vom November 2022 forderten Albert Schmelzer und Martyn Rawson einen Umbau des Waldorflehrplans mit postkolonialen Anteilen. Dies betrifft auch den Geschichtsunterricht. Dort werden bisher die großen historischen Entwicklungen von den »Ältesten Zeiten« über Antike, Mittelalter und Neuzeit bis zur Gegenwart in Überblicksepochen behandelt. Dabei liegt der Fokus im Wesentlichen aut Europa. Die deutschen Waldorfschulen, so Schmelzer und Rawson weiter, seien »strukturell rassistisch« und spiegelten in ihren Lehrplänen nicht eine durch Migration veränderte Bevölkerung. Bijan Kafi reagierte daraufhin mit einem Artikel in die Drei (3/2023), in dem er darlegte, dass der von Schmelzer und Rawson geforderte (ideologische) Antirassismus mit einer treiheitsorientierten Waldorlpädagogik unvereinbar sei. Daraut antwortete Frank Steinwachs (4/2023), der u.a. darlegte, dass sich die neue und diversere Demografie in den Klassenzimmern zeige, weshalb Bijan Kafis Kritik nicht die Realität des schulischen Alltags treffe. Beiträge von Johannes Kiersch, Ralf Sonnenbeig, Michael Debus und Salvatore Lavecchia ergänzten die Debatte, mit der Tendenz, an pädagogisch wirksamen Elementen der Waldorfpädagogik festzuhalten. Mein Beitrag versteht sich vor diesem Hintergrund als Nachfrage. Denn im 21. Jahrhundert hat der Postkolonialismus - vorsichtig formuliert - doch viel von seinem emanzipatorischen Impuls eingebüßt. Wir leben in einer veränderten Welt, in der auch ein aufstrebender »Globaler Süden« von Rassismus und Rechtsextremismus heimgesucht wird; teilweise in politischen Bewegungen, die mit dem Postkolonialismus verbunden sind. Der Angriff der Hamas auf Israel wäre hier nur ein Beispiel.
Eine Gegenbewegung – Erster Teil
Ich ging aus dem Haus und merkte es nicht. Plötzlich stand ich unten auf der Straße. Wo war ich gewesen, als ich die Stufen hinunterstieg? In Gedanken in Gedanken. Die Jungmannova lag nicht weit. Frühlingsluft. Ewig dieses Gehen. Durch die Vaterstadt spazieren. Die Augen deprimiert auf den Boden gerichtet. Immerhin habe ich diesmal ein Ziel. Habe ich ein Ziel? Man muss schon sehr verzweifelt sein, wenn man von etwas überhaupt nicht überzeugt ist und sich trotzdem Hilfe davon erhofft.
Eine kurze Begegnung mit Rudolf Steiner
Je länger man lebt, desto mehr denkt man über seine Vergangenheit nach; immer mehr hat man das Bedürfnis, seine Erinnerungen, seine Erfahrungen mit anderen zu teilen. Eric Kandel, Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger für Medizin, schreibt: »Die Persönlichkeit ist die Erinnerung. Wir sind, was wir sind, auf Grund unserer Erinnerungen«. Und Erinnerungen müssen – das sollte man nicht vergessen – an kommende Generationen weitergegeben werden. Dies ist wichtig für die Kultur und Entwicklung der ganzen Menschheit, der einzelnen Nationen und des einzelnen Menschen.
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Über das Werden einer neuen Menschheit
Die Vorträge, die Rudolf Steiner über karmische Zusammenhänge im Jahre 1924 gehalten hat, stehen in einem besonderen Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nicht nur werden darin einzelne schicksalhafte Beziehungen von der Vergangenheit her bis zum ersten Viertel des 20. Jahrhundert aufgerollt, sondern wir werden auch mit Fragen konfrontiert, die unsere Gegenwart und Zukunft betreffen. Das ist vor allem der Fall, wenn wir an das gegenwärtig verstärkte, evolutionswidrige Erwachen von Rasseninstinkten und Nationalismen denken oder an die angestrebten, technisch veränderten biologischen Lebensformen wie den Cyborg oder an den viel diskutierten Transhumanismus. Denn in diesen Vorträgen geht es auch um die Stellung des Sonnenerzengels Michael bei der Frage der Bildung einer neuen Menschheit, jenseits des luziferisch inspirierten Rassismus oder Nationalismus und ahrimanischer Zukunftsvisionen. Ersterer ist Erbe einer vorindividuellen Seelenentwicklung und letzteres die Vorschau einer entindividualisierten Menschheit.
Brief aus Brüssel
Aus belgischer Perspektive ist beim Thema Katalonien vorab zu denken an den Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Niederlande gegen Spanien im 16. Jahrhundert, an Herzog Alba vor allem und die Hinrichtungen der Grafen Egmond und Hoorn. All diese Schrecken sind tief eingegraben ins kollektive Bewusstsein, nicht nur in Belgien. Ebenso wichtig ist es, an die Ausrufung der Spanischen Republik im Jahre 1931 durch Lluís Companys, den Ministerpräsidenten der katalanischen Landesregierung (Generalitat de Catalunya), seine Flucht nach Frankreich im Jahre 1939, die spätere Auslieferung durch die Nazis an Spanien sowie seine Hinrichtung durch das Franco-Regime zu erinnern. All die Grauen des Spanischen Bürgerkrieges, dieses Kreises der Hölle, werden wieder wach.
Perspektiven einer allgemeinen Erzähltheorie
Traditionell verstehen wir unter Erzählungen Geschichten, die in Form von Mythen, Märchen oder Romanen kulturell überliefert sind oder von Schriftstellern verfasst werden. Sie gelten als Produkte der Phantasie. Auch wenn sie für unsere Lebensorientierung Bedeutung haben und das Fiktive sowie das Imaginäre so etwas wie eine anthropologische Disposition darstellen, sind Erzählungen als eine Art Feierabendprodukte doch von der nüchternen Tagesarbeit und dem klaren Tatsachenwissen geschieden. Ein Roman ist eben, nach traditionellem Verständnis, keine Biografie und eine historische Erzählung kein Roman. Doch die selbstverständliche Unterscheidung zwischen dem Faktischen, die für den wissenschaftlichen, und dem Fiktiven, die für den künstlerischen Text gilt, ist fragwürdig geworden. Erzählen können wir nämlich immer schon beides: erfundene Geschichten und tatsächlich erlebte. Die Erzählung als produktive Schöpfung kann sich so eng wie möglich an die erlebten Tatsachen halten oder vor Erfindungslust übersprudeln, immer ist sie Erzählung, erzählende Tätigkeit.
Im Vorhof der Esoterik: Goethes Rätselmärchen
Befassen wir uns mit dem Erzähler Rudolf Steiner, dann sollten wir uns auch in das Thema der »Esoterik der Erzählung« vertiefen. Genau dafür treffen wir im Werk Steiners auf einen Schlüsseltext. Es ist ›Das Märchen‹ aus Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹, einer Sammlung von sechs Novellen und dem Märchen im Zusammenhang einer Rahmenhandlung. Was lässt sich daraus über die Esoterik der Erzählung lernen? Inwiefern konstituiert diese Schrift Goethes in ihrem Kontext eine Erzählung über die Art, wie wir »höhere Erkenntnisse« erlangen könnten? Wie hat Steiner sie aufgegriffen? Und warum hat sie für ihn einen so hohen Stellenwert?
Aus der Akasha-Chronik erzählen
Der Ausdruck »Akasha-Chronik« (engl. akashic records) erscheint bei Rudolf Steiner als terminologischer Import aus der anglo-indischen Theosophie des 19. Jahrhunderts im Sinne eines überpersönlichen Weltgedächtnisses, als »das Geistig-Bleibende des Weltgeschehens«. Die geläufige Bezeichnung für den Zugang zu diesem Gedächtnis lautet »Lesen in der Akasha-Chronik«. Der Ausdruck selbst und das entsprechende »Lesen« werden von Steiner nicht systematisch begrifflich entwickelt, und oft ist dies »Lesen« mit anderen Weisen der spirituellen Erkenntnis austauschbar und wird auch schon einmal »Lesen im Chaos« genannt. In seinen Vorträgen erzählte Steiner vielfach darüber, im schriftlichen Werk taucht der Ausdruck zentral nur in der frühen Aufsatzreihe ›Aus der Akasha-Chronik‹ (1904 bis 1908) auf, in der ›Geheimwissenschaft im Umriss‹ (1910) wird er lediglich noch beiläufig – und dies nur in Anführungsstrichen – erwähnt. Da diese Aufsatzreihe von der Darstellungsweise her die erzählerischste Schrift Steiners ist, liegt es nahe, sie unter dem Gesichtspunkt der Narrativität auch eigens zu betrachten. Als Rezipienten seiner Schriften sind wir überdies nicht eigentlich Zeugen seines Zugangs zur Akasha-Chronik. Vielmehr sind es seine Mitteilungen, ist es sein Erzählen, sind es die »Ausdrucksformen«, wovon wir Kenntnis nehmen, weshalb es naheliegt, weniger von einem Lesen, als vielmehr von einem »Erzählen aus (oder von) der Akasha-Chronik« zu sprechen.
Eine Korrektur
Rudolf Steiner gibt im II. Teil seiner ›Philosophie der Freiheit‹ – auf der Grundlage der vor allem erkenntnistheoretischen Überlegungen des I. Teils, die zur Einsicht in den universellen Charakter des reinen Denkens1 und zum zentralen Begriff der Intuition führen – eine Beschreibung dessen, was ihm als menschen- und zeitgemäße Ethik vorschwebt. Er nennt sie den »Ethischen Individualismus«. Steiner hielt seine ›Philosophie der Freiheit‹ für so grundlegend und bedeutsam, nicht zuletzt als Fundament der Anthroposophie, dass er sein Leben lang an ihr festhielt. Deshalb ließ er 25 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen auch eine zweite Auflage folgen und bereits 1921 noch eine dritte. Und deshalb hat Steiner in seinem Gesamtwerk auch mehr als 200-mal auf die ›Philosophie der Freiheit‹ verwiesen, was die Bedeutung, die er ihr beimaß, eindrücklich unterstreicht.
Die Kunst und das Übersinnliche
Das Verhältnis von Joseph Beuys zu Rudolf Steiner und zur Anthroposophie ist bis heute ein heikles Thema. Auch in diesem Jahr, wo man den 100. Geburtstag des Künstlers zum Anlass nimmt, ihn noch einmal zu würdigen, wird es eher verschwiegen oder zur Polemik benutzt als differenziert ausgelotet. Kunsthistoriker und ehemalige Mitarbeiter von Beuys halten sich in diesem Punkt auffällig zurück und spielen dessen starke Verbindung zur Anthroposophie gern herunter. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die esoterische Weltsicht Steiners bis heute von einem Schatten umwölkt ist, dem viele lieber aus dem Weg gehen möchten. Waldorfschulen oder ›Demeter‹-und ›Weleda‹-Produkte werden zwar in der Öffentlichkeit durchaus geachtet, aber die Anthroposophie gilt vielen immer noch als dubiose Okkult-Lehre mit rassistischen Untertönen, die im Widerspruch zu unserer aufgeklärten Welt steht. Dazu hat auch die Beuys-Biographie des Schweizer Autors Hans-Peter Riegel beigetragen, der 2013 versuchte, Beuys als »braun« angehauchten Künstler zu entlarven, der seine Inspirationen dem »völkisch-nationalistischen Wertekanon« von Rudolf Steiner zu verdanken habe. Jüngst hat auch ›Der Spiegel‹ diese Vorwürfe wieder aufgegriffen und Steiner sogar in die Nähe zu dubiosen »Querdenkern« unserer Tage gestellt, die etwa als Verschwörungstheoretiker oder QAnon-Anhänger die Corona-Maßnahmen der Regierung bekämpfen. In dem Artikel wird behauptet, dass Beuys »seine Weltanschauung beim Großesoteriker Rudolf Steiner regelrecht abgeschrieben« und dessen völkischen »Geisterglauben ans Deutsche« mit seinem Werk fortgesetzt habe. Solche plakativen Anschuldigungen wie auch das Herunterspielen des anthroposophischen Hintergrundes des Künstlers an anderer Stelle zeigen nur die große Verlegenheit gegenüber dem komplexen Thema »Beuys und Steiner«, was ich zum Anlass nehmen möchte, einmal genauer hinzuschauen.
Die »Russische Welt« und das geistige Russland
Unter dem Titel ›Darf es eine freie Ukraine geben?‹ versuchte der Verfasser im März/April-Heft dieser Zeitschrift – noch ganz unter dem Schock des russischen Überfalls auf die Ukraine stehend – dem Grund des Handelns von Präsident Wladimir Putin nachzuspüren. Ausgangspunkt war die Analyse seiner Kriegserklärung, der langen »historiosophischen« Ansprache vom 21. Februar 2022. Umrisshaft trat als Ergebnis das Bild eines – bei aller mörderischen Aktualität – atavistischen, autokratischen, russisch-ostslawischen Staates in Erscheinung, der sich die Rettung, Verteidigung und Ausbreitung der »russkij mir«, der »Russischen Welt« – auf die Fahnen geschrieben hatte.Wenn wir von »Putins Krieg« oder »Russlands Krieg« sprechen, dann sind das Abstraktionen, hinter denen als Konkretum der Begriff (oder das »Wesen«) dieser »Russischen Welt« steht. Was aber ist die »russkij mir«? (Wobei »mir« ja im Russischen doppeldeutig ist und sowohl »Welt« als auch »Frieden« bedeuten kann.
Warum Wirtschaftssanktionen kein sinnvolles Instrument der Politik sein können
Der für viele Beobachter völlig überraschende Einmarsch Russlands in die Ukraine hat eine Welle von Wirtschaftssanktionen ausgelöst. Insbesondere glaubt man, Russland dadurch hart treffen zu können, dass die meisten russischen Bankhäuser aus der ›Society for Worldwide Interbank Financial Telecommuni-cation‹ (SWIFT) ausgeschlossen werden sollen. Diese Einrichtung leitet Finanztransaktionen zwischen ca. 11.000 Banken, Brokerhäusern, Börsen usw. in etwa 200 Ländern über SWIFT-Nachrichten weiter und wickelt damit den Nachrichten- und Zahlungsverkehr der angeschlossenen Firmen und Institutionen ab. Da ein juristisch abgesicherter Zahlungsverkehr über Ländergrenzen hinweg heute praktisch nur noch mit SWIFT möglich ist, glaubt man, mit dieser Maßnahme Russland ökonomischen Schaden zufügen zu können. Schließlich hatte man mit ähnlichen Maßnahmen schon den Iran empfindlich getroffen. Eine weiterer finanzieller »Nuklearschlag« gegen Russland soll das Einfrieren der russischen Devisenreserven im internationalen Zentralbanksystem sein. Nach zuletzt verfügbaren Statistiken lagen 630 Mrd. Dollar Devisenreserven entweder bei anderen Notenbanken, der [›Basler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich‹ (BIZ) sowie dem Internationalen Währungsfonds. Russland hatte diese Reserven in den letzten Jahren systematisch erhöht, d.h. es hat Jahr für Jahr weniger Leistungen vom Ausland in Anspruch genommen, als es diesem - vor allem durch seine umfangreichen Rohstoffverkäufe - geleistet hat. Theoretisch könnte Russland ein Jahr lang seine Importe damit bezahlen, ohne irgendetwas exportieren zu müssen. Da aber sowohl die USA als auch die EU Geschäfte mit der russischen Zentralbank verboten haben, kann es einen großen Teil dieser Reserven nicht mehr nutzen. »Der Rubel ist im freien Fall. Die Kriegskasse von Wladimir Putin ist empfindlich getroffen«, verkündete Deutschlands Finanzminister Christian Lindner am 8. März nach Gesprächen mit seinen G7-Kollegen. Doch Russland rechnet komplett anders als die westliche Welt. Und es könnte sein, dass die russische Rechnung am Ende aufgeht.
Ein Hinweis auf den anthroposophischen Kabbala-Forscher Ernst Müller
Dass Rudolf Steiner ein außerordentlich positives Verhältnis zu seinen jüdischen Schülern hatte, ist durch das Beispiel der beiden Stuttgarter Anthroposophen Carl Unger und Adolf Arenson weitläufig bekannt. Beide waren säkularisierte Juden, die wegen ihrer intellektuellen und philosophischen Begabungen schon in den frühen Jahren der anthroposophischen Arbeit Steiners Anerkennung und im Falle von Unger eine anhaltende, intensive Förderung erfahren haben. Beide waren überdies als Redner für die Verbreitung der Anthroposophie umfassend tätig. Während Unger nach dem Ersten Weltkrieg auch auf den wissenschaftlichen Kongressen der anthroposophischen Bewegung sprach, bemühte sich Arenson vor allem um die Erschließung des Vortragswerkes Rudolf Steiners. Unger publizierte überdies im Laufe seines Lebens zahlreiche philosophische Werke, die eine eigenständige Erschließung der Anthroposophie zum Ziel hatten und von Rudolf Steiner geschätzt wurden. Weniger bekannt ist hingegen, dass Rudolf Steiner auch religiöse Juden zu seinen Schüler zählte, die er ebenso förderte, und zwar im Hinblick auf die Erforschung des esoterischen Judentums, insbesondere der Kabbala. Um die Zusammenarbeit Rudolf Steiners mit einem solchen Schüler, dem aus Wien stammenden Ernst Müller, soll es im Folgenden gehen.
Zu Friedrich Schillers Geburtstag am 10. November und zur Gründung der Waldorfschule 1919
Die Schiller-Rezeption in Deutschland war im 19. Jahrhundert zunächst ein bürgerliches Unternehmen. Friedrich Schiller wurde zum Nationaldichter, zum Vorkämpfer für ein nationales Selbstbewusstsein und für die nationale Einheit. Dass er eine solche Vereinnahmung vehement zurückgewiesen hätte, wurde einfach ignoriert. Schiller hatte dazu, geradezu vorausschauend, an seinen Freund Christian Gottfried Körner geschrieben: »Es ist ein armseliges, kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geist ist diese Grenze durchaus unerträglich. Dieser kann bei einer so wandelbaren zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit, bei einem Fragmente (und was ist die wichtigste Nation anders?) nicht stille stehn.«
Annäherungen an Poetologie, Sprache und Aktualität Paul Celans im Jahr seines 100. Geburtstags und 50. Todestags
Den äußeren Anlass für diesen Aufsatz bilden der 100. Geburtstag Paul Celans am 23. November und sein 50. Todestag am 20. April in diesem Jahr. Den inneren Anstoß gibt die unausweichliche Aktualität seines Werks. Ich werde dieser Aktualität vor allem unter dem Aspekt von Celans werkimmanenter Poetologie und Sprachauffassung nachgehen. Zweifelsohne gibt es auch Themen in Celans Lyrik, von denen aus sich im Jahr 2020 Bezüge zur gesellschaftlichen, politischen, persönlichen Aktualität herstellen lassen. Auch wenn die thematischen Aktualitäten besorgniserregend genug sind, möchte ich doch die poetologischen Implikationen vorziehen, weil mir scheint, dass deren spirituelle Dimension alle anderen Aktualitäten umfasst und sie in ihr gut aufgehoben sind. Mit dieser Akzentuierung berühre ich erkenntnistheoretische und rezeptionelle Fragestellungen grundlegender Art, die mit der Frage nach den möglichen Zugängen zu Celans Gedichten unmittelbar verbunden sind.
Auferstehungsmomente der Naturwissenschaft
Die klassische Naturwissenschaft stieß gegen Ende des 19. Jahrhunderts an Erkenntnisgrenzen, die zu überwinden einen neuen Blick auf das Verhältnis von Mensch und Welt erforderte. Mit der Quantenphysik vollzog sich ein Paradigmenwechsel, nach dem der Quaternität (Vierzahl) besondere Bedeutung zukommt. Für den Physiker Wolfgang Pauli ließen sich damit »sinnvolle Zufälle« verorten – Sinnkorrespondenzen zwischen äußeren Ereignissen und innerem Erleben, die er gemeinsam mit dem Psychiater Carl Gustav Jung fast drei Jahrzehnte lang erforschte. Um den Sinn in solchen Korrespondenzen zu begreifen, bedarf es allerdings eines lebendigen Zeitbegriffs und eines intimen Verständnissesdes viergliedrigen Menschen, der sich »seelisch umwenden« und darin zu einem wirklichkeitsgemäßen Erkennen gleichsam auferstehen kann. Das Ostergeschehen um Maria Magdalena bringt diesen Erkenntnisprozess ins Bild.
Geistige Perspektiven auf eine menschliche Moralität
Im Herbst gab ich an meiner Waldorfschule eine Deutschepoche zu ›Parzival‹. Ich konnte die maskierten Schüler nicht im Ganzen »sehen« und war auf Spekulationen oder Nachfragen angewiesen. Fehlendes sich vorstellen und das Wahrgenommene deuten muss man freilich auch sonst. Auf der Grundlage einer Beobachtung bilde ich mir einen Begriff, um zu verstehen, was wirklich ist. Aber die Wirklichkeit ist vielschichtig. Menschen können auch ohne Mund-Nase-Bedeckung ihre wahren Gefühle, Motive oder Gedanken verbergen. Man kann sich auch so »bedeckt halten«: weil man ein Geheimnis behütet; weil man den Anderen nicht verletzen will; weil man ihn nicht beeinflussen, sondern frei lassen will; weil man Angst hat zu sagen, was man denkt oder fühlt; weil man nicht genau weiß, was man will oder was man darf; weil man dem Anderen keinen Einblick in die eigene Unbildung gewähren oder ihn nicht mit etwas Unausgegorenem behelligen, gar mit einer eigenen Unpässlichkeit bedrängen möchte. Dieses Spannungsfeld von Sich-Verbergen und -Offenbaren, von Abstand und Nähe hat zunächst noch nichts mit einer allgemeinen Moral oder Wertediskursen zu tun, sondern eher mit Qualitäten wie Vertrauen, Selbsteinschätzung und Takt. Es geht um persönliche Abwägungen. Und doch entscheidet gerade bei Parzival die konkrete individuelle Begegnungsfähigkeit im Augenblick auch über die moralische Reife des Helden. Mit dem Grad seiner Selbstfindung wächst auch das Heil im Umkreis. Erst durch Schuld wird Parzival sehend. Indem er sich selbst erlöst, erlöst er auch den kranken Anderen.
Klar, Licht ist unsichtbar! Das ist der unumstößliche Ausgangspunkt. Aber: Was sieht man denn in den Fällen, in denen man sagt, man sähe Licht? Licht erzählt von seiner unsichtbaren Anwesenheit, indem es ein Sinnenfälliges für das Auge sichtbar macht. Das unsichtbare Licht benötigt immer etwas, das in seiner Gegenwart zur sinnlichen Erscheinung kommt, um dem Sehenden von seiner – des Lichtes – Anwesenheit zu berichten.
Elemente der Spracherneuerung bei Rudolf Steiner und Tendenzen im gegenwärtigen Sprachgebrauch
»Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort«, dichtete Rainer Maria Rilke im Jahr 1898 und drückte damit sein Erschrecken über scheinbar eindeutige Weltinterpretationen und sprachliche Vordergündigkeiten aus. Bei Hugo von Hoffmannsthal äußerte sich zu gleicher Zeit eine tiefe Skepsis gegenüber den eigenen Ausdrucksmitteln, wie er in seinem 1902 entstandenen ›Brief‹ des Lord Chandos an Francis Bacon offenbarte. Sprache, offensichtlich auch die poetische, schien dem menschlichen Ausdrucks- und Verständigungsbedürfnis nicht mehr zu genügen. Hofmannsthals Lord Chandos wünscht sich »eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen«, die »unmittelbarer, glühender ist als Worte«. Ein solcher Wunsch lässt alles Herkömmliche hinter sich und greift in den Bereich hinter den Wörtern, ins Übersinnliche hinein.
Seit rund dreißig Jahren wird am Hardenberg Institut in Heidelberg entwickelt, was inzwischen als Dialogische Führung bzw. Dialogische Kultur bekannt geworden ist. Damit wird etwas ganz Spezifisches bezeichnet, nicht einfach nur (wie manche meinen), dass man »miteinander redet«. Miteinander zu reden, ist ja auch in anderen »Kulturen« nicht ganz ausgeschlossen! In der Dialogischen Kultur sucht man das Gespräch unter bestimmten Gesichtspunkten, die eingehend beschrieben wurden.
Gibt es eine Auferstehung aus dem Tod des mechanisierten Denkens?
Wir können denken, wir wissen auch von dieser Fähigkeit, wir wissen aber nicht, wie wir denken. Wir können sprechen, von dieser Fähigkeit wissen wir auch, aber hier wissen wir ebenfalls nicht, wie wir das machen. Der heutige Erwachsene kann auf sein Bewusstsein reflektieren, aber nur auf dessen Vergangenheit. Wenn ich etwas verstehe, wird mir der Gedanke bewusst, den Prozess des Verstehens selbst erlebe ich nicht.
als Urbild, Seelenweg, Heilkraft und als den Jahreslauf begleitende Meditationsweisen
An einigen Stellen in seinem Gesamtwerk erwähnt Rudolf Steiner die Kultivierung und Entwicklung der menschlichen Seelenkräfte »Erstaunen, Mitgefühl und Gewissen« und weist zugleich in seinem einzigen diesem Thema ganz gewidmeten Vortrag vom 14. Mai 1912 in Berlin mit besonderer Eindringlichkeit darauf hin. In diesem Vortrag beschreibt er Staunen, Mitgefühl und Gewissen als eine Dreiheit, ohne deren Existenz, Pflege und Bildung im menschlichen Herzensraum die Erde als Christusträger ihr Ziel im Sinne der Schöpfung nicht erreichen würde.
Zwei neue Bücher über Goethes Farbenlehre