Zu János Darvas: ›Auf allen deinen Wegen, erkenne Ihn!‹*
Was das Judentum genau ist, kann ich nicht definieren. Diese Definition hängt tendenziell von der Person ab, die sie vorzunehmen versucht. Kein einzelner Begriff, keine Beschreibung eines derartigen Versuchs würde ausreichen, um es umfassend zu beschreiben: Religion, Volk, Glaube, Philosophie, Lebenspraxis, Mentalität … Mehr? Weniger? Das Christentum hat manches an sich, was ursprünglich aus dem Judentum stammt, nicht zuletzt seinen Religionsstifter. Doch das Judentum geht weit darüber hinaus: Es gibt im Judentum noch mehr – geradezu unzählige – Strömungen, Nebenströmungen und Zersplitterungen als im Christentum (ich habe allerdings nicht gegoogelt, um diese Behauptung zu erhärten). Denn im Judentum gab es eigentlich nie eine institutionalisierte, gewissermaßen staatliche Oberhoheit wie beispielsweise den Vatikan. So konnte jede Gruppierung ihre Version des Judentums leben. Jeglicher Versuch, über das Judentum abschließend etwas zu sagen, muss daher als unvollständig angesehen werden. Nicht ohne Grund heißt es (jedenfalls unter Juden): »Wo es zwei Juden gibt – gibt es drei Meinungen.«
Zu ihrem 100. Geburtstag am 28. Mai 2023
Der Christian Mellinger Verlag in Stuttgart gab in den Siebziger Jahren einige Bände zum Keltischen Kulturkreis erneut heraus, die ursprünglich im eher privaten Are-Verlag von Ernst Karl Plachner zwischen 1955 und 1958 erschienen waren. Man staunte, dass von einer so tiefgründig in das Wesen der Keltischen Mythologie eingedrungenen Forscherin keine weiteren Werke erschienen – bis man Anfang des neuen Jahrtausends eher zufällig erfuhr, dass die Autorin Maria Christiane Benning bereits 34-jährig verstorben war, als Lehrerin an der Wuppertaler Waldorfschule. Sobald daraufhin Nachrufe und sehr frühe Bändchen ihrer Lyrik aufgestöbert wurden, musste man immer mehr ins Staunen geraten, denn die kurze Biografie wies Bemerkenswertes auf.
Zum Gedenken an Prof. Dr. rer. nat. Wolfgang Schad (27. Juli 1935 in Biberach – 15. Oktober 2022 in Witten)
Die Begeisterung für die Sache und den Anspruch des Forschers auf Genauigkeit hat Wolfgang Schad schon als Schulkind gezeigt. Sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Georg Schad berichtet, dass Wolfgang und er in immer weiteren Kreisen die heimatliche Umgebung ihrer Kindheit in Hildesheim erkundet hätten. »Wolfgang sammelte alles was sein Interesse fand«, und eigentlich habe »alles sein Interesse gefunden.« So wurden Eidechsen, Blindschleichen und Schmetterlinge nach Hause getragen. Dem Vater fiel es zu, die verklebten Hosentaschen zu reinigen. Wolfgang notierte in Listen, welche Vögel sie erkannt hatten und an welchem Ort diese angetroffen worden waren. Wolfgang erklärte Georg, warum das alles von entschiedener Bedeutung sei, leitete ihn zur Hilfe an, und der jüngere Bruder erhielt Zeugnisse für »Fleiß, Treue, Gehorsam etc.«
Zu Rudolf Steiner: ›Intellektuelle Biographien‹ (SKA 3)
Band 3 der Kritischen Ausgabe von Rudolf Steiners Schriften (SKA) mit dem Titel ›Intellektuelle Biographien‹ präsentiert drei frühe Texte des Autors: ›Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit‹ (1895), ›Goethes Weltanschauung‹ (1897) sowie ›Haeckel und seine Gegner‹ (1900). Der Band erschien 2019 zum 270. Geburtstag Goethes. Im selben Jahr beging man den 175. Geburtstag Friedrich Nietzsches und den 100. Todestag Ernst Haeckels.
Ein Gesprächsbeitrag
Die aktuell aufflackernde Diskussion um den öffentlichen Umgang mit anthroposophischer Esoterik. ist Ausdruck von Fragen nach der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie sowie nach ihrer Bedeutung für die anthroposophischen Praxisfelder. Beide Fragen sind nicht neu, sondern waren schon zu Lebzeiten Rudolf Steiners virulent. Das Problem liegt vor allem darin, dass die Anthroposophie Inhalte liefert, die den Denkgewohnheiten und materialistischen Vorurteilen der Moderne widersprechen. Wie man sich zu diesen Fragen positioniert, ist davon abhängig, auf welchen Grundlagen die eigene Überzeugung von der Wahrheit der Anthroposophie ruht. Sie kann auf Ahnungen, Gefühlen, Glauben, biografischen Erfahrungen, aber auch auf klaren Einsichten aufgebaut sein. Rudolf Steiner hat die Anthroposophie als Geisteswissenschaft konzipiert, und der wissenschaftliche Zugang zu ihr soll hier betrachtet werden.
Zu Thomas Brunner: ›Aldous Huxley und Rudolf Steiner‹
Gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen Rudolf Steiner und Aldous Huxley? Diese Frage kann einem kommen, wenn man das schmale Büchlein von Thomas Brunner über ›Aldous Huxley und Rudolf Steiner‹ in die Hände bekommt. Brunner schreibt dazu in seinem Vorwort: »Obwohl sie sich nie begegnet sind, ergänzen sich ihre Werke doch in besonderer Weise. Ist Huxley vor allem für seine geradezu prophetischen Romandarstellungen einer dystopischen Zukunftsgesellschaft bekannt, so ist Rudolf Steiner derjenige, dessen Geisteswissenschaft die Verwandlung der modernen Intellektualität in folgerichtiger Wissenschaftlichkeit selbst zum Inhalt hat.« (S. 9).
Zur dritten Meditationstagung zum Werk von Georg Kühlewind
Der Geist des Übens war anwesend, als nun zum dritten Mal in Stuttgart von der Akanthos Akademie eine Meditationstagung in Anknüpfung an den Ansatz von Georg Kühlewind veranstaltet wurde. Alle Vortragenden waren ihm mit ihrer eigenen Biografie eng verbunden. Diesmal stand der therapeutische Aspekt im Vordergrund. Hauptredner waren der Arzt und Psychotherapeut Hartwig Volbehr, der amerikanische Psychotherapeut und Autor Michael Lipton und der Hochschullehrer István Székely aus Budapest. Als Leiter von Arbeitsgruppen waren außerdem Rudi Ballreich, Salvatore Lavecchia und Laszlo Böszörmenyi an der Gestaltung der Tagung beteiligt. Etwa 80 Menschen waren der Einladung gefolgt.
Gideon Fontalba (1948–2022) und die Schule der Weißen Quelle. Ein Farewell
In der Wochenschrift ›Das Goetheanum‹ wurde 1969 unter dem Titel ›Geistkraft‹ ein kurzes dreistrophiges Gedicht veröffentlicht, in dem es zum Schluss heißt: »Brennend im Menschen. / Zielend zum Hehren, / Geistkraft, durchglüh mich!« Als Autor zeichnete der damals 21-jährige Gideon Arbenz. Derselbe junge Dichter brachte in der Folge einen schmalen Band mit Dichtungen heraus, betitelt ›Lichtallsang‹, den 1972 ebenfalls in der Wochenschrift ein Peter Kessler besprach. Da wird gefragt, was denn da entstehen könne, wo Liebe zum Geist ist und zugleich der Schlüssel empfangen wird, ihn »in Wirklichkeit wiederzuerlangen«, und wo solches erstes, freundliches Berührtwerden vom Hauch der Geisterwelt »in einer feurigen Dichterseele zum starken Erleben wird«. - Und die Antwort wird gegeben: »In dem jugendlichen Dichterschüler und kürzlich ausgebildeten Eu-rythmisten Gideon Arbenz reiften poetische Perlen heran, die den Glanz des Jubels und der Begeisterung über das Gefundene tragen«. Und diese Perlen seien darin »zu einer schimmernden, hier und da gleißenden Kette zusammengefügt worden«. - Das daran anschließend abgedruckte Gedicht ›Ein Morgen‹ endet mit den Zeilen: »Der Sonnensang / Durchhallt den Saal / Des unendlichen Meeres. / Das Göttliche ruft.« Der junge Dichter zeichnet diesmal als Gideon Cajus Arbenz.
Ein Zwischenruf
Die Anthroposophie ist die einzige spirituelle Geistesrichtung, die eine konkrete Praxis in verschiedenen Lebensbereichen hervorgebracht hat. Gerade darin liegt ihre Bedeutung, aber auch ihr Problem. Wieder einmal sind Kritiker unterwegs, die Anthroposophen vorwerfen, eine esoterische und unwissenschaftliche Weltanschauung zu vertreten (wobei »Wissenschaft« natürlich nur im materialistischen Sinne verstanden wird). Im Zuge der Corona-Krise hat die Kritik eine neue Stufe erreicht. Während man bisher zwar die Anthroposophie für Humbug hielt, ihre Praxis aber durchaus schätzte und anerkannte, wird inzwischen gefragt, ob nicht auch die Praxis gefährlich und sogar menschenverachtend sei.Jost Schieren, Professor für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule in Alfter, hat im April 2022 einen ausführlichen Aufsatz zur Kritik an der Waldorfpädagogik verfasst. Darin geht er auch auf das sogenannte »Esoterikproblem« der Waldorfpädagogik ein, mit dem er sich seit Jahren auseinandersetzt. Um die Kritiker zu befrieden, fordert er einen »Anthroposophieverzicht« und eine »Esoterikabstinenz in der Waldorfpädagogik«. Ein solcher Verzicht sei für die Waldorfpädagogik nicht problematisch, denn Rudolf Steiner habe »in seinen pädagogischen Vorträgen, (den grünen Bänden der Gesamtausgabe) die weiten Themen- und Denkhorizonte der allgemeinen Anthroposophie gar nicht auftreten« lassen. Schieren möchte offensichtlich der Waldorfbewegung Argumente zur Selbstverteidigung liefern: Schaut her, wir sind gar nicht so schmuddelig, wie uns vorgeworfen wird. Im Gegenteil, wir sind sogar clean!
Zu Jost Schieren (Hrsg.): ›Die philosophischen Quellen der Anthroposophie‹
Hervorgegangen aus einer Ringvorlesung im Wintersemester 2017/18 mit demselben Titel an der Alanus Hochschule in Alfter liegen nun die Resultate dieser Veranstaltung in schriftlicher Form vor. Nach einigen einleitenden Bemerkungen gehe ich im Folgenden die einzelnen Beiträge durch und schließe ab mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen.
Zur Darstellung der Anthroposophie in der aktuellen Literatur
Anthroposophinnen und Anthroposophen stehen seit der Corona-Pandemie verschärft im Fokus von Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Es wird ein Bild von ihnen verbreitet, das festsitzt und wirkt. Erstaunt war ich, als ich neben diesen schnelllebigen Medien nun auch in Büchern, die eine l.ngere Lebenszeit haben, etwas fand. Das kann förderlich oder schädlich sein. Je ein Beispiel ist mir begegnet.
Oder: Wie eine »Klare Kante« zum Bumerang werden kann
Seit der Corona-Krise sehen sich anthroposophische Institutionen einem ungeheuren Druck von mehreren Seiten ausgesetzt. Die staatlich verordneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie waren das eine, das andere waren die Reaktionen des eigenen sozialen Umfeldes. Insbesondere in Einrichtungen, bei denen das konkrete Verhältnis zum anderen Menschen im Zentrum steht, wie Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime usw., sorgten die Verordnungen für heftige Auseinandersetzungen und brachten auch viele ältere Konflikte mit neuer Wucht zur Erscheinung.
Zu Laszlo Böszörmenyi: ›Georg Kühlewind‹*
Es wird eine Kühlewind-Biografie geben! Die Nachricht rief Freude bei mir hervor, begleitet von der leisen Frage: Was würde er selbst dazu sagen? Er, der sich selbst nicht wichtig nahm und sich mit detaillierteren Informationen über sein Leben deutlich zurückhielt. Würde nun vielleicht wider seinen Willen zu viel öffentlich gemacht werden? Aber natürlich ist es dem Autor, Laszlo Böszörmenyi, der Georg Kühlewind immerhin 28 Jahre gekannt hat, sein Schüler war und sein Freund, nicht entgangen, dass dieser .selten und ungern über sich selbst sprach. (S. 33). Und er hat sich, wie er eingangs bemerkt, während des Schreibens zur Orientierung immer wieder Kühlewinds intensiven, forschenden und vor allem im Alter gütigen Blick vergegenwärtigt.
Zu Martina Maria Sam: ›Rudolf Steiner. Die Wiener Jahre 1884-1890‹*
In Fortsetzung ihrer 2018 erschienenen dokumentarischen Biografie über Rudolf Steiners Kindheit und Jugend hat Martina Maria Sam – Eurythmistin, promovierte Geisteswissenschaftlerin, Vortragende und Publizistin sowie Herausgeberin im Rudolf Steiner Archiv – nun einen Band über Steiners Wiener Jahre vorgelegt. Ihm stellt sie einen Ausschnitt aus den Erinnerungen des Jugendfreundes Fritz Lemmermayer voran, der die Dramatik »jene[r] denkwürdige[n] Zeit, als Rudolf Steiner seine Schwingen zu entfalten begann«, treffend charakterisiert: als eine Zeit »erfüllt von geistigen Kämpfen, geistigen und sozialen Umstürzen, fest aneinander stoßenden Kontrasten. Altes brach zusammen, Neues rang leidenschaftlich nach Gestaltung. Ein krasser Materialismus wurde Mode in Wissenschaft und Leben. […] Die Naturwissenschaft […] griff, von ihren Erfolgen berauscht, über in das Gebiet von Philosophie und Religion. […] Ein Maschinenzeitalter von umwälzender Kraft hatte weit die Pforten geöffnet. In Verbindung damit war der sogenannte ›wirtschaftliche Aufschwung‹ in die Erscheinung getreten. […] Dem gegenüber eine idealistische Hochflut und ein immer hoffnungslos einsetzender Pessimismus. […] Materialismus, Pessimismus, Atheismus – so hießen die drei grauen Gestalten und Gewalten, welche Ketten für die Menschen schmiedeten. Es wirkte, was ›Aufklärung‹ genannt wurde – eine Aufklärung der Verdunkelung« (S. 11).
Zu Caroline Chanter: ›Ein Leben mit Farbe‹
In der mit Fotos und Kunstdrucken reich bebilderten, in englischer und deutscher Sprache erschienenen Biografie des englisch-deutschen Malers Gerard Wagner wird mehr als die Darstellung von Leben und Werk eines Künstlers geboten. Sie beschreibt zugleich einen Schulungs- und Forschungsweg, der zu einer inneren Durchdringung des künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeitens führen will. Teilweise kommentierend soll im Folgenden der Aufbau des Buches dargestellt werden.
Zu Michael Debus: ›Maria-Sophia. Das Element des Weiblichen im Werden der Menschheit‹
Das vom Rezensenten in dieser Zeitschrift zuletzt besprochene Buch handelte vom ›Urbeginn christlicher Esoterik‹. Darin wird ausführlich das einzigartige Verhältnis ausgeleuchtet, das zur Zeitenwende durch das Kreuzeswort »Siehe, dein Sohn! Siehe, deine Mutter!« gestiftet wurde: das Verhältnis zwischen der Mutter Jesu und dem Jünger, den der Herr liebhatte. In jenem Buch wird dieses mehr von Johannes her untersucht; in der vorliegenden Arbeit erfolgt dies stärker von Maria bzw. von Maria Sophia ausgehend. Bei den Autoren handelt es sich jeweils um Priester der Christengemeinschaft, das erstgenannte Buch erschien 2021, die hier besprochene Schrift bereits im Jahr 2000, in der durchgesehenen Neuausgabe 2020.
Zu Wilburg Keller Roth: ›System und Methode der Heil-Eurythmie‹
»Es werden noch mancherlei Zeitepochen hinunterfließen müssen[ ... ], bis eine vollbewußte Vorstellung [ ... ] auflebt, wenn das Wort >Ich< oder [. .. ] >Selbst<a usgesprochen wird. Aber in der Form kann die Selbstheit, die Ichheit empfunden werden, und zwar, wenn man vom rein mathematischen Formwissen zum Formfühlen übergeht, dann wird man stets empfinden bei dem völligen Kreis die Ichheit, die Selbstheit. Kreis fühlen würde heißen Selbstheit fühlen. Kreis fühlen in der Ebene, Kugel fühlen im Raum, ist Selbstheit fühlen, Ich fühlen. [ ... ] Wenn man den Kreis so anschaut, so sieht man, er ist ein ganz banaler Wicht [ ... ]; aber es liegt doch etwas Geheimnisvolles im Kreis. Er kann auch dadurch verstanden werden, daß man zwei Punkte nimmt und dividiert, und indem man überall dasselbe Resultat bekommt [ ... ], ergibt sich der Kreis. Der Kreis ist also etwas ganz Merkwürdiges: der gewöhnlichste Wicht [ ... ] und zugleich das Ergebnis einer okkulten Division, das sich der Mensch zum Bewußtsein bringt. Geradeso ist es bei dem menschlichen Selbst: das gewöhnliche Selbst [ ... ], und das höhere Selbst [ ... ], das in den Tiefen unserer Seele ruht und das erst gesucht werden muß dadurch, daß man aus ihm herausgeht und die Welt in Betracht zieht, mit der es in Beziehung steht.«
Im Andenken an Benediktus Hardorp (1928–2014) und Götz Werner (1944–2022)
Am 8. Februar dieses Jahres ist Götz Werner seinem 2014 verstorbenen Mentor Benediktus Hardorp in die geistige Welt gefolgt. Beide Persönlichkeiten haben sich intensiv für die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) eingesetzt, der eine als erfolgreicher Unternehmer, der andere als wirtschaftlicher Berater und »Sozialarchitekt«. Benediktus Hardorp war es auch, der Götz Werner zu seiner 2005 gestarteten Initiative für das BGE inspirierte. Anstelle eines Nachrufes möchte ich mich hier mit dem geistigen Ringen dieser beiden Persönlichkeiten beschäftigen. Unsere Wege haben sich immer wieder gekreuzt, da wir an ganz zentralen Punkten der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners unterschiedliche Positionen einnehmen mussten. Genau aus diesem Grunde habe ich beide Persönlichkeiten sehr geschätzt. Denn nicht das ist das wirklich Verbindende zwischen Menschen, dass man die gleichen Gedankeninhalte vertritt, sondern dass man an den Gegensätzen wach füreinander wird und lernt, die Gründe einzusehen, warum diese Gegensätze notwendig sind.
Zu Mathias Wais: ›Ach Du liebe Anthroposophie‹
Lieber Mathias Wais,
ich traue mich, Sie so direkt anzusprechen, weil Sie das in Ihrem Buch mit der Anthroposophie ja auch tun. Und außerdem halte ich große Stücke auf Sie. Ihre Bücher über Biografiearbeit sind längst Klassiker geworden, und Ihre Botschaft, dass Entwicklung entsteht, indem ich mir in labilen Situationen etwas Neues ausdenken, meinen sicheren Boden verlassen muss, und dass mein Höheres Ich schützend und leitend über diesen Vorgängen steht, verbindet Psychologie und Spiritualität auf eine einleuchtende Weise. Ihren ›Diskurs über die moderne Biographie‹, das Buch über Marilyn Monroe, das liebe ich. Vor allem die süffisant-sarkastischen Stellen, die in der Hölle und im Himmel spielen, in denen Nagelbrettzurichter und auszubildende Engel auf Probe auftreten und Michael eine kleine Echse streichelt, die auf seinem Arm sitzt. Wo schließlich der liebe Gott eine Kommission einsetzt, um herauszufinden, was es mit dem Lebenslauf des modernen Menschen auf sich hat, der häufig zerrissen und fragmentarisch erscheint.
Zu Lorenzo Ravagli: ›Selbsterkenntnis in der Geschichte – Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung im 20. Jahrhundert. Band 2‹
Um zu verstehen, wie der Gründungsmythos der Anthroposophischen Gesellschaft entstanden ist und fortwirkte, muss einleitend kurz an den ersten Band des Gesamtwerks, der die Zeit ›Von den Anfängen bis zur zweiten Sezession 1875–1952‹ darstellt, angeknüpft werden. Die Anthroposophische Gesellschaft verselbstständigte sich zunächst aus der ›Theosophischen Gesellschaft‹ (Adyar) im Februar 1913. Die elf Jahre von 1913 bis 1923 erscheinen in der Rückschau – abgesehen von der Geistesforschung Rudolf Steiners – wie eine Vorgeschichte der später entstandenen ›Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft‹.
Anmerkungen zu einer Diskussion
Das Dezemberheft 2021 der ›Sozialimpulse‹ bringt mehrere Debattenbeiträge zur Corona-Thematik, von denen einige hier kurz betrachtet werden sollen.
Über drei Bücher zur Corona-Pandemie
Im Folgenden sollen drei Bücher besprochen werden, die 2020 und 2021 zur Coronathematik im anthroposophischen Kontext publiziert wurden. Judith von Halle veröffentlichte bereits im Frühjahr 2020 ›Die Coronavirus-Pandemie. Anthroposophische Gesichtspunkte‹ und legte im September 2021 mit dem zweiten Band ›Die Coronavirus-Pandemie II. Weitere anthroposophische Gesichtspunkte‹ nach. Von Thomas Mayer erschien im Herbst 2021 ein Buch zu ›Corona-Impfungen aus spiritueller Sicht. Auswirkungen auf Seele und Geist und das nachtodliche Leben‹.
Zu Rudolf Steiner: ›Organisches Denken‹
Der Tag, an dem ich dies geschrieben habe, war besonders merkwürdig. Mein täglicher Gang führt mich in ein kleines Landschaftsschutzgebiet mitten in der Stadt, mit Fließgewässer, See, Büschen, Bäumen und wenigen offenen Flächen. Wenig attraktiv für Kolkraben, welche die Weite brauchen; vereinzelt ruft einer das Jahr über. An diesem Tag aber riefen gleich zwei im Wechselgesang, ließen sich von mir durch Nachahmung des Rufes anlocken und kreisten über mir. Nach einer Weile bemerkte ich, dass sogar vier Raben rufend über mich hinwegflogen. Warum gerade an diesem Tag? Das Wetter war zunehmend windig; für die Küste war Sturm vorausgesagt. Durch meine Freude an dem Schauspiel der Raben war meine melancholische Stimmung wie fortgeblasen. Haben sie mir wirklich geantwortet? Ist es organisch gedacht, wenn ich mich frage, was ein Naturereignis wie dieses für einen kosmischen Zusammenhang hat, und darüber, was es mit mir zu tun hat? Gewiss, ein einfaches Beispiel.
Zu Erdmut-M. W. Hoerner: ›Vom Urbeginn christlicher Esoterik‹
Im Februar dieses Jahres erschien in den Schneider Editionen eine ambitionierte Studie, die sich dem ›Urbeginn christlicher Esoterik‹ widmet. Der Autor Erdmut-Michael Hoerner, Pfarrer der Christengemeinschaft, verweist bereits im Untertitel darauf, dass er »Johannes und Maria« an diesem Urbeginn gemeinsam unter dem Kreuz stehen sieht. Während bisher eine ganze Reihe anthroposophischer Autoren Johannes den Evangelisten und seine Bedeutung für die christliche Spiritualität behandelt haben, wird die vorliegende Studie als die erste anthroposophische Untersuchung nach Rudolf Steiner herausgestellt, in der die Mutter Jesu, Maria, in das Zentrum der Betrachtung mit einbezogen werden soll. Das lässt aufhorchen.
Zu David Marc Hoffmann u.a. (Hrsg.): ›Rudolf Steiner 1861–1925‹*
Ein buchstäblich gewichtiges Werk – Großformat, rund 500 Seiten, kiloschwer – ist der neue Bildband aus dem Rudolf Steiner Verlag: ›1861 –1925 Rudolf Steiner. Eine Bildbiografie‹, herausgegeben von David Marc Hoffmann, Albert Vinzens, Nana Badenberg und Stephan Widmer. Sie haben in langjähriger Recherche-, Kompositions- und Redaktionstätigkeit die über 800 Abbildungen (hauptsächlich aus dem Archiv in Dornach) zusammengestellt. Diese Zusammenstellung folgt einem Motto von Goethe aus dem Vorwort zur Farbenlehre: »Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.«
Wie Weltanschauungen Familienbande trennen können
Vater und Sohn von Gleich: Damit sind Gerold (1869–1938) und Sigismund von Gleich (1896–1953) gemeint. Mit den Namen des Sohnes können anthroposophische Leser viel anfangen. Doch Gerold von Gleich? An ihn, der zu den vielen zeitgenössischen Gegnern Rudolf Steiners zählte, zu erinnern, könnte als verschwendete Schreib- und Lesezeit erscheinen. Uns geht es hier aber um eine doppelte, ja vielleicht dreifache Tragik. Zum einen sehen wir, dass ein hochgebildeter früherer Offizier in eine peinlich-platte Gegnerschaft geraten kann. Zum anderen, dass er dadurch seinen ebenfalls hochgebildeten, genialen Sohn, der zu den frühen Schülern und Interpreten Rudolf Steiners gehörte, geistig wie familiär verliert. Und dreifach, weil wir auch Ehefrau und Mutter Helene von Gleich dankbar gedenken wollen.
In der Christengemeinschaft gibt es eine Nachfolge-Regelung für den »Erzoberlenker«, die wohl einzigartig ist. Sie wäre niemals so eingerichtet worden, hätte sie nicht Rudolf Steiner selber angeraten. Er brauchte ohnehin einen langen Atem, bis sich Friedrich Rittelmeyer dazu verstand, eine derart herausgehobene Stellung anzunehmen. Mit dem Ritual verband Steiner den Rat, der Erzoberlenker solle schon am Tage nach seiner Erhebung seinen Nachfolger benennen. So wusste Emil Bock und auch die gesamte Priesterschaft, dass er Rittelmeyer beerben würde; nur der Zeitpunkt war ungewiss. Ebenso hat Bock 1938 Rudolf Frieling benannt, der dann – samt der Priesterschaft – zweiundzwanzig Jahre auf seine Erhebung hinzuleben hatte. Es war sicherlich klug, dass Frieling nicht öffentlich den Nimbus eines Nachfolgers tragen musste; so konnte er unbefangen in seinen Gemeinden (z.B. 1949 bis 1955 in New York) Seelsorger sein. Auch war die Nachfolge nicht absolut sicher, denn es hätte ja sein können, dass der ungefähr gleichaltrige Frieling früher als Bock stürbe.
Zu Frank Hörtreiter: ›Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus‹
Zu einer Selbstbesinnung, wie sie einer Unternehmung wie der Christengemeinschaft angesichts ihres bevorstehenden 100. Gründungstages verstärkt ein Anliegen sein kann, gehört unbedingt eine nüchterne und schonungslose Auseinandersetzung mit früheren Epochen, die sich naturgemäß mit Abstand und sicherer Quellenlage gründlich und umsichtig aufarbeiten lassen. So liegt seit wenigen Wochen die Studie ›Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus‹ von Frank Hörtreiter vor.
Zu Rudolf Steiner: ›Zur Geschichte der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft 1902-1913‹ (GA 250)*
Kaum eine weltanschauliche Organisation war so häufig von Skandalen und Abspaltungen betroffen wie die 1875 gegründete ›Theosophical Society‹, deren Hauptquartier sich im indischen Adyar bei Madras befindet. Gleichwohl übte die Lehre ihrer Gründerin Helena P. Blavatsky, besonders durch ihr Hauptwerk ›The Secret Doctrine‹ (1888), einen tiefen Einfluss auf die europäische Literatur- und Kunstszene des frühen 20. Jahrhunderts aus. Asiatische Weisheitslehren und zahlreiche Begriffe, die bis heute den Esoterik-Markt beherrschen, wie Aura, Chakren, Karma oder Reinkarnation, fanden durch die Theosophie Eingang in westliche Länder. Die ›Theosophical Society‹ gliedert sich in Landesgesellschaften (Sektionen), deren deutsche 1902 in Berlin gegründet wurde. Ihr erster Generalsekretär war bis 1913 Rudolf Steiner.
Zu Andreas Neider: ›»Bodhisattva-Weg« und »Imitatio Christi« im Lebensgang Rudolf Steiners‹
Ausgangspunkt und roter Faden dieser kleinen Schrift ist das geistige Erlebnis, das der Einweihungsschüler mit dem großen Hüter der Schwelle haben kann. Dieses spielt sowohl in Rudolf Steiners ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ als auch in seiner ›Geheimwissenschaft im Umriß‹ eine zentrale Rolle. Wesentlicher Bestandteil dieses Erlebnisses ist, dass der Schüler durch den Hüter vor die Entscheidung gestellt wird, ob er bereit ist, sein gesamtes Leben in den Dienst des Vorankommens der anderen Menschen zu stellen, ja sogar, wenn er sich nicht mehr aus eigener karmischer Notwendigkeit wiederverkörpern muss, trotzdem wieder zur Erde zu kommen, um der Befreiung der Menschheit zu dienen.