Notizen zur Bildungsfrage
»Was man das Gute nennt, ist nicht das, was der Mensch soll, sondern das, was er will, wenn er die volle wahre Menschennatur zur Entfaltung bringt.« – Rudolf Steiner. Dieser Satz aus der ›Philosophie der Freiheit‹, der den »ethischen Individualismus« auf den Punkt bringt, scheint mir ein Leitmotiv des freien Geisteslebens zu sein; jenes gesellschaftlichen Gebietes also, welches Kultur und Bildung, Kunst, Wissenschaft und Religion, aber auch Rechtsprechung, Unternehmensführung und den Gesundheitsbereich umfasst. Das Ideal, an welchem sich das Geistesleben orientieren soll, um gesund zu sein, ist die Freiheit – und die soziale Dreigliederung, wie ich sie verstehe, lebt ja in wechselseitiger Abhängigkeit: je freier sich das Geistesleben ausformt, desto brüderlicher, geschwisterlicher, solidarischer kann sich das Wirtschaftsleben gestalten – und umgekehrt. Und je mehr diese beiden sich entwickeln, desto mehr Gleichheit wird in der die Rechtssphäre leben können.
Christliche Ursprünge moderner Demokratie. Zugleich ein Blick auf Theo Kobusch: ›Die Entdeckung der Person‹
Seit gut 75 Jahren hat anthroposophisches Leben in den meisten deutschsprachigen Gebieten innerhalb von Gemeinwesen sich entwickeln und prosperieren können, die es in seinem Bestehen sichern, eingebettet in freiheitliche, demokratische Staatswesen. Wo sich aber, wie neuerlich zunehmend zu bemerken ist, durch Anthroposophie angeregte Weltsichten mit Ansätzen eines wieder stärker aufstoßenden völkischen Nationalismus durchmischen, ist es oftmals die Demokratie selbst, die skeptisch ins Visier genommen wird. Daraus ergeben sich Fragen an das anthroposophische Selbstverständnis, zumal diese Kritik an der Demokratie sich auf bestimmte Äußerungen Rudolf Steiners beruft, wie etwa im ersten ›Memorandum‹ von 1917.
im Spiegel ihres Briefwechsels
Betrachtet man das Zusammenwirken von Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg, so kann man nur darüber staunen, wie vollständig sich diese beiden Geister ergänzten. Es war die denkbar größte Wertschätzung, die sie einander entgegenbrachten, das höchste Freiheitsempfinden für den anderen, dem man hier staunend begegnen kann. Gerade in den späteren Jahren dieser Freundschaft drängt sich zuweilen der Eindruck auf, als stünden einander nicht zwei getrennte Persönlichkeiten gegenüber, sondern als hätte man es mit einer einheitlichen Wesenheit zu tun – so vollständig war die gegenseitige Durchdringung, so tief das Verständnis füreinander. Um sich zu solchen Höhen erheben zu können, musste diese Freundschaftsbeziehung allerdings mehrere Stufen durchlaufen.
Tore der Seele zur Bildekräftewahrnehmung
Wer sich mit Fragen der inneren Schulung beschäftigt, schaut auf ein weites Feld verschiedenster Aspekte und Ansätze. Ich möchte mich in diesem Beitrag auf einen kleinen Ausschnitt beschränken. Dabei gehe ich von Erfahrungen in der Bildekräfteforschung aus.
In der Bildekräfteforschung wird ein innerer Übweg veranlagt, der zur Wahrnehmung im Bereich des Ätherischen und der angrenzenden Gebiete des Seelisch-Geistigen befähigen soll. Dieser Übweg trägt alle Charakteristika, die einen anthroposophischen Schulungsweg kennzeichnen: Er strebt eine bewusste, Ich-geführte Umgestaltung des eigenen Wesensgliedergefüges an, um nach und nach eine Verwandlung von Denken, Fühlen und Wollen zu ermöglichen.
Dabei wird zunächst und in besonders intensiver Weise an einem durchschaubaren Verhältnis zum eigenen Denken gearbeitet. Die Bedeutung einer Verlebendigung des eigenen Denkens hat Rudolf Steiner in immer wieder neuen Aspekten an seine Zuhörer und Leser herangebracht, er ist eines der zentralen Themen in seinem Werk.
Das Frühwerk Rudolf Steiners mit seiner Entwicklung und Darstellung eines lebendigen Denkens ist einem Samen vergleichbar, der – indem er aufgeht und zur Pflanze sich entfaltet – in die geistige Welt hineinzuwachsen vermag. Steiner hatte gezeigt, dass das menschliche Denken sich so selbst ergreifen und durch innere Kräfte entwickeln kann, dass es eine Brücke zur geistigen Welt bilden kann. Allerdings wurde er in diesem Ansatz nicht verstanden. Dies trug wesentlich zu der Krise bei, die Rudolf Steiner am Ende des 19. Jahrhunderts durchlebte und die in der Fragestellung: »Soll man verstummen?«, wie er sie dann in seinem ›Lebensgang‹ formulierte, gipfelte. Offensichtlich war da ein Schritt in der Geistesgeschichte der Menschheit getan worden, der seiner Zeit vorausging.
Obwohl dem so war und Rudolf Steiner biografisch ab 1900 den Weg über die Theosophische Gesellschaft wählte, die ihrerseits durch ihre Geschichte mit Elementen verbunden war, die nicht aus dem mitteleuropäischen Geistes- und Gedankenleben stammten, entwickelte er die Anthroposophie so, dass sie in der ganzen Art, wie er sie selbst erforschte und darstellte, immer vom Denken getragen war. Das heißt, bei seinem eigenen geisteswissenschaftlichen Forschen ging er vom Denken aus und nutzte dieses als Brücke in die geistige Welt.
Rudolf Steiners ›Philosophie der Freiheit‹ im Spiegel der ›Vorrede zur Neuauflage 1918‹
In der ›Vorrede zur Neuauflage 1918‹ kennzeichnet Rudolf Steiner nach 25 Jahren erneut die »Zielgedanken« seiner Schrift. Er will sich mit seinem Leser darüber verständigen, was von dem Buche zu erwarten ist und was nicht. Hier soll versucht werden, diese Zielgedanken kurz nachzuzeichnen und einige Schlaglichter zu werfen auf das Umfeld des seelischen Erlebens, in das sie sich hineinstellen in unserer Zeit. Sie erweisen sich dabei für den Gegenwartsmenschen als eine Art Instrument zur inneren Standortbestimmung.
Transhumanismus, künstliche Intelligenz und das Michaelzeitalter
Die entscheidende Frage des gegenwärtigen Michaelzeitalters ist, ob die Menschheit den Materialismus überwinden kann. Während die Anthroposophie eine Überwindung des Materialismus anstrebt, die für das gegenwärtige, am naturwissenschaftlichen Denken geschulte Bewusstsein angemessen ist, treibt ihn der Transhumanismus auf die Spitze, indem er den Menschen als ein Maschinenwesen definiert, das technisch optimiert werden soll. Dabei will er die drei Konstruktionsfehler dieser Maschine: Alter, Krankheit und Tod durch die Fortschritte in der Biotechnologie, Robotik und Nanotechnologie überwinden.
Das Faszinosum des Transhumanismus besteht darin, dass er tiefe spirituelle Sehnsüchte des Menschen, z.B. nach Unsterblichkeit, anspricht und für diese eine bequeme, materialistische Lösung anbietet, indem er ihm einen unsterblichen Leib verspricht. Die spirituelle Sehnsucht nach Unsterblichkeit der Seele wird dabei umgelenkt auf das materialistische Verlangen nach einem unsterblichen Leib.
Selbstlosigkeit als Mitte einer Ästhesiosophie
»Sieghafter Geist / Durchflamme die Ohnmacht / Zaghafter Seelen. /Verbrenne die Ichsucht, / Entzünde das Mitleid, / Dass Selbstlosigkeit, / Der Lebensstrom der Menschheit, /Wallt als Quelle / Der geistigen Wiedergeburt.«Rudolf Steiner, 20 September 1919Dieser michaelisch gestimmte Spruch, den Marie Steiner bei der Erstveröffentlichung mit der Überschrift ‘Meditationsworte, die den Willen ergreifem versah, wurde von Rudolf Steiner am sechsten Jahrestag der Grundsteinlegung des ersten Goetheanums, am vierzehnten Tag nach der Eröffnung der ersten Waldorfschule verdichtet. Hier begegnen wir zwei Gebärden des Ich, die einen radikalen Gegensatz erzeugen.
Zum Forschungskolloquium der ›Wirtschaftskonferenz‹ vom 29. Oktober 2018 am Goetheanum
England und Deutschland sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einen tragischen Gegensatz geraten. Die dadurch hervorgerufene Trennung hat beide Völker immer mehr von ihrer eigentlichen Menschheitsaufgabe abgebracht. Christopher Houghton Budd, Wirtschaftshistoriker und Koordinator der Wirtschaftskonferenz, bezeichnet diese beiden Völker als Cousinen. Es stellt sich ihm die Frage, ob sie durch ein gemeinsames Verständnis des Wirtschaftslebens wieder zu einer der Menschheitsentwicklung dienenden Zusammenarbeit finden können. In gleicher Weise müsste es möglich sein, eine Brücke zwischen der akademischen Wirtschaftswissenschaft und der anthroposophischen Bewegung zu finden. Der Schlüssel hierzu ist für ihn die Idee »Geld ist Buchhaltung«. Denn diese Idee lebt heute sowohl in englischsprachigen wie auch in deutschsprachigen Zusammenhängen und ist zudem nicht nur in anthroposophischen, sondern auch in akademischen Kontexten zu finden.
Rudolf Steiners Beitrag zur Geldwertstabilität
Der Wert des Geldes wird maßgeblich durch die Lenkung des Kapitals bestimmt. Das moderne Banksystem gestaltet die Kreditvergabe vollkommen unabhängig von der Mittelherkunft über Geldschöpfungsprozesse. Zudem wird gegenwärtig kein Unterschied gemacht, in welchem Sektor der Wirtschaft ein Gewinn erzielt wird. Investoren erzielen ihre Gewinne in der Landwirtschaft, der Automobilindustrie oder in der Rüstungsindustrie. Ihr Geld ist überall gleich viel wert. Das führt zur Chaotisierung des Wirtschaftslebens mit gravierenden Folgen für Mensch und Umwelt. Rudolf Steiner zeigt im 12. Vortrag des ›Nationalökonomischen Kurses‹ einen Weg, wie auf eine Stabilisierung des Wirtschaftslebens hingearbeitet werden kann, wenn dem Geld eine Lebensdauer gegeben wird.
Zur Apologie mythischer Rede. In Erinnerung an Ludwig Wittgenstein
In Absatz 6.522 des ›Tractatus‹ – so aktuell wie je – schreibt Ludwig Wittgenstein: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies z e i g t sich, es ist das Mystische.« Ist wirklich »Unaussprechliches« gemeint? Also etwas, das nicht ausgesprochen werden darf, das tabu ist wie »die Unaussprechlichen« – nämlich die Beinkleider einer Dame im Viktorianischen England? Oder ist vielmehr »Unaussprechbares« oder »Unsagbares« gemeint, mithin etwas, das nicht ausgesprochen werden k a n n ? (Die Endsilbe »-bar« eines verneinten Adjektivs drückt, auch in dessen Substantivierung, kein Verbot, sondern eine Unmöglichkeit aus, was – nebenbei gesagt – die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht wussten, als sie mangels Beherrschung der deutschen Sprache fälschlicherweise behaupteten, die Würde des Menschen sei »unantastbar«.) Oder aber, dritte Möglichkeit: Meint »Unaussprechliches« die eminente Fülle des so Benannten, die alle Sprachgewalt so sehr übersteigt, dass Sprache sie nicht auszuschöpfen vermag, da sie angesichts ihrer nie an ein Ende gelangt? – Wie differenziert ist Wittgensteins Sprachgebrauch? Aus dem Kontext des ›Tractatus‹ lässt sich erschließen, dass »Unaussprechliches« am ehesten jenes meint, das sich nach Wittgenstein nicht »klar« sagen, also überhaupt nicht sagen lässt und somit unsagbar ist.
100 Jahre Anthroposophische Medizin
100 Jahre Anthroposophische Medizin. Wir begehen dieses Jubiläum in einer Zeit der Pandemie (von griech. pandēmia = das ganze Volk). Nicht nur das ganze Volk eines Landes, sondern die Weltgemeinschaft steht unter Schock durch ein Virus. Es betrifft uns – mehr oder weniger direkt – alle, weltweit. Millionen von Menschen gelten als gefährdet durch ein Virus, das aller Wahrscheinlichkeit nach von Fledermäusen, womöglich über weitere Wirtsorganismen, hin zum Menschen gelangt ist und sich nun pandemisch ausbreitet. Mit der Corona-Krise wird ein Vorhang gelüftet. Dem Blick öffnet sich eine Art Fratze, ein Gesicht, das in seiner Versehrtheit bloßliegt. Wir blicken auf die Züge einer Gesellschaft, einer Medizin und eines Gesundheitswesens, wie wir das sonst nur punktuell tun, wenn überhaupt.
Zwei Findlinge in der deutschsprachigen Literatur und der Mysterienhintergrund ihrer Werke – Teil III
Kleist und Büchner sind Solitäre in ihrer Zeit und ihrer kulturellen Umgebung, zwei Unangepasste, zu früh Inkarnierte. Beide sind intelligente, wortgewandte Genies, sind 1,72 m groß und haben – wenn man der Schwester Büchners glaubt und nicht der Polizei – kastanienbraune Haare, beide sind im Oktober geboren, sind ungewöhnlich jung verlobt mit einer Wilhelmine, die sie nicht heiraten werden, und beide sterben früh. Aber damit ist es mit den Gemeinsamkeiten auch schon ziemlich am Ende. Bleiben die Gegensätze.
Betrachtungen zum Lebensgang Rudolf Steiners II
Steiner beginnt den Blick auf seine Kindheit mit der Herkunft seiner Eltern. Beide. Mutter und Vater, stammten aus der gleichen Gegend.2 Darin waren sie sich ähnlich. Der Bezug zu Landschaft und Milieu prägte und bestimmte sie. Im österreichischen Waldviertel waren sie verwurzelt. Als ihr Leben sich rundete, kehrten sie wieder dorthin zurück.Das Verhältnis zwischen einem durch irdische Bedingungen und geistige Intentionen bestimmten Lebensweg, die Spannung zwischen physischer und geistiger Biografie, ist für die menschliche Existenz ein Leben lang thematisch. Ob man sich gedrängt fühlt, dort zu leben und zu arbeiten, wo man auch zur Welt kam. oder ob die Tätigkeit einen an die unterschiedlichsten Orte auf der Welt führt, ob innere oder äußere Beweggründe den Anlass geben zur Führung des eigenen Lebensweges, sagt immer auch etwas aus über das Verhältnis zwischen innerer und äußerer Existenz. Ist mit der Herkunft das Vertraute. Bekannte und Gewohnte verbunden, ein Lebenszusammenhang, der Sicherheit verheißt und der in diesem Sinne für das Alte und das Vergangene steht, so verheißt Fremde das Neue. Seine Unvorhersehbarkeit zielt auf die inneren Gestaltungskräfte der Seele und deren Wirksamkeit. Freilich handelt es sich dabei nicht um normative Aspekte biografischer Entfaltung. Die entscheidende und im eigentlichen Sinn ortsunabhängige Frage zielt letztlich auf das Maß der Verursachung einer eigenständigen Lebensführung durch das eigene Ich. Wird es vom Gegebenen, sei dies innerer oder äußerer Natur, überformt oder gibt es sich selbst und dem Leben Form und bildet auf diese Weise in der Zeit eine zweite Natur?
Zur Auseinandersetzung zwischen Max Dessoir und Rudolf Steiner
Am 22. Oktober 1916, es ist ein Sonntag, schreibt der vom Dienst an der Front befreite Instruktionsoffizier Walter Johannes Stein aus Wien an den Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner in Dornach: »Hochverehrter Herr Doktor! Prof Dr Max Dessoir (Berlin) hat am 20. d. M. in Wien im kleinen Vortragssaal der Urania einen Vortrag gehalten, welcher in einem Zyklus von drei Vorträgen der letzte war ›Aberglaube und Geheimwissenschaft in der Gegenwart, Theosophie‹. So lautete die Ankündigung des Vortrags. Die zwei vorangehenden beschäftigten sich mit ›Gesundbeten und Kabala‹. Ich hatte nur den dritten gehört [...] Der dritte Vortrag war eine Polemik. Was als Polemik gebracht wurde ist nicht so gefährlich wie die vorangehende ›unbefangene und objektive‹ Darstellung der Lehre des ›Herrn Steiner‹.«
Zur esoterischen Methodik in Anthroposophie und Judentum
»Hineni« – הנני – ist Hebräisch. Es ist eine Verschmelzung von hine ( הנה ) = »hier« und ani ( אני ) = »Ich«. Es bedeutet zugleich: »Hier bin ich!«, »Ich bin hier!« und »Ich bin!« Diese besondere Wortform – eine Synthese von Person und Standortbestimmung, zugleich räumlich und geistig – ist ein der hebräischen Sprache eigentümliches Phänomen und erscheint im Alten Testament zum ersten Mal von einem Menschen ausgesprochen, wenn erzählt wird, dass Elohim, der Gott, Abraham beim Namen ruft und dieser antwortet: »Hineni!« Darauf wird erzählt, wie Abraham aufgefordert wird, Isaak zu opfern. Es ist Abraham auch der erste Mensch, von dem berichtet wird, dass ihm von jenem Gott mit dem nicht auszusprechenden Namen befohlen wurde, sich auf den Weg zu machen, ohne ein bestimmtes Ziel zu kennen, im reinen Gottvertrauen eine Reise anzutreten. Abraham – und später auch Samuel – stellen sich bedingungslos dem Ruf der göttlichen Stimme: »Hineni!«
Rudolf Steiner betont in seinen Ausführungen zur Dreigliederung stets die Notwendigkeit, die Befreiung des Geisteslebens als unabdingbare Voraussetzung für die Verwirklichung eines harmonischen, dreigliedrigen Gemeinschaftswesens zu betrachten. Ohne ein Geistesleben, das der Freiheit als seiner Quelle bewusst wird und somit die schöpferische Freiheit des einzelnen Ichs ermöglicht, wäre folglich jeder Versuch, vom Rechts- oder vom Wirtschaftsleben ausgehend die sozialen Verhältnisse zeitgemäß zu gestalten, zum Scheitern verurteilt. Die hundert Jahre, die seit 1919 – dem Anfang der ersten öffentlichen Bewegung für die Dreigliederung – vergangen sind, liefern mehr als deutliche Beweise dafür. Die Entwicklung unserer Gesellschaft hetzt denn auch immer rasanter in die Richtung einer erstickenden Gleichschaltung des Geisteslebens, welche mit Hilfe der metastatisierenden Implementierung von Akkreditierungs-, Zertifizierungs- und Evaluationsverfahren durchgeboxt wird. Wurde aus der Erfahrung der letzten hundert Jahre nichts gelernt? Sind wir noch nicht so weit, uns ein auch nur elementares Erleben und Vorstellen bezüglich eines freien Geisteslebens zu bilden und schöpferisch zu verinnerlichen, das uns endlich zum Sprung fort von einer sich stets – gegenwärtig unter digitalem Gewand – wiederholenden Vergangenheit und hin zu einer menschenwürdigen Zukunft verhelfen könnte?
Bemerkungen zur Genese des »Mottos der Sozialethik« von 1920
Zwischen der Erstfassung der ›Philosophie der Freiheit‹ vom Jahre 1893 und der Neuauflage von 1918 liegt ein Entwicklungsweg. Der unverbindlich-leichtfüßige Satz im IX. Kapitel: »Leben und Lebenlassen ist die Grundmaxime der freien Menschen«, erhält nach einem Vierteljahrhundert zwei gewichtige Einfügungen. Die Zeitumstände haben sich dramatisch verändert. Mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika und der Oktoberrevolution in Russland steht die »Welt von gestern« (Stefan Zweig) unmittelbar vor einem völligen Zusammenbruch. Die anthroposophische Bewegung – zunächst im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft theoretisch begründet und dann durch den Goetheanum-Bauimpuls und die Anfänge der Eurythmie künstlerisch belebt – hat sich auf eine breite Wirksamkeit in allen Bereichen des Lebens vorzubereiten, wie sie nach dem katastrophalen Ende des Krieges gefordert sein wird. Jetzt schreibt Rudolf Steiner: »Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.«
Zur Erinnerung an Siegfried Nacht (1878–1956)
Unter den Hörern Rudolf Steiners an der Berliner Arbeiterbildungsschule befanden sich auch Anarchisten, von denen einige unter polizeilicher Beobachtung standen. Dies betraf vor allem Siegfried Nacht (1878–1956), der wenig später steckbrieflich als Terrorist europaweit gesucht wurde. In seinen revolutionären Schriften (die auch unter den Pseudonymen Arnold Roller und Stephen Naft erschienen) plädierte er für den Generalstreik als Mittel des gesellschaftlichen Wandels. Langfristiges Ziel war die soziale Revolution mit selbstverwalteten Arbeiterkollektiven. Nacht gilt bis heute als klassischer Theoretiker des revolutionären Syndikalismus. Steiner hat ihn in einem Vortrag 1918 namentlich erwähnt und während der Dreigliederungszeit auch zum Syndikalismus Stellung bezogen.
Schulführungsfragen nach 100 Jahren
Am Abend vor meinem 9. Geburtstag hatte ich Angst zu sterben. Ich hatte meinem älteren Bruder eine Tintenpatrone weggenommen, und als er ins Zimmer kam, war ich so erschrocken, dass ich die Patrone in den Mund steckte und aus Versehen herunterschluckte. Ich wagte nicht, mich meinen Eltern anzuvertrauen, denn mein Diebstahl war mir peinlich und ich fand es gerecht, dafür an Tintenvergiftung zu sterben. In meinem Abendgebet zum lieben Gott bat ich ihn deshalb nur darum, mich noch meinen Geburtstag erleben zu lassen. Dann schlief ich ein.
Zur dialogischen Konstitution des Menschseins anhand eines Gedichtes von Friedrich Hölderlin
»Im Anfang war das Wort« – der Logos, sagt Johannes zu Beginn seines Evangeliums. Die Anfänglichkeit und die Wortung – oder besser partizipial formuliert: das Wortende – werden damit auf eine gleichermaßen exponierte Seinshöhe gestellt. Sie müssen folglich auch eine innerliche Nahbeziehung, ja eine Wesensverwandtschaft aufweisen. Im Anfang kann nichts anderes gewesen sein als das Wort. Der Zusammenhang zwischen beiden ist nichts Akzidentielles und Kontingentes. Er muss in ihnen selbst begründet liegen. Doch wie sind Anfänglichkeit und das Wortende (als Ursprung von Sprache) miteinander wesenhaft verbunden? Inwiefern waltet in jedem Worte ein Anfängliches? Auf welche Weise ist in jeder Anfänglichkeit ein Wortendes zugegen? Und wie sind diese beiden Vorgänge miteinander erstursprünglich verbunden? Worin liegen deren gemeinsame Herkunft und Wurzel?
Leiblichkeit und Ich-Erfahrung
Wer bin ich? Diese Frage wird oft mit dem Wort »Identität« verbunden. Allerdings ist dieser Begriff immer schwammiger geworden. Eigentlich fragt »Identität« nach dem Selbst, der unverwechselbaren Wesenheit. Im Kern gleicht mir keiner! Doch inzwischen ist dieser Ausdruck – nicht nur bei der »identitären Bewegung« – geradezu in sein Gegenteil verkehrt worden: meine Identität als Deutscher, als Mann, als ... Immer geht es um Gruppen! Und doch leiden manche unter der Empfindung: »Ich bin nicht ganz Ich selbst«, und diese Erfahrung hat zunächst mit Nähe oder Fremdheit im Menschenumkreis zu tun. Viele Kinder spielen um ihr zehntes Lebensjahr mit der Vorstellung, sie könnten nur versehentlich in ihre Familie geraten sein, vertauscht in der Geburtsklinik oder adoptiert. Wenn sich das bis in die Jugend hinein fortsetzt, kann es sich zu der starken Vorstellung steigern: »Ich bin in der falschen Familie gelandet.« Viel tiefgreifender wird es für den, der bis ins Erwachsenenalter hinein zu wissen meint, dass er den unpassenden Körper hat, also z.B. sichtlich als Mädchen geboren wurde und sich entgegen allen Rollenerwartungen als Mann fühlt – oder umgekehrt sich als Frau in einem männlichen Körper versteckt meint. Diese Vorstellung gab es vereinzelt wohl schon in vorigen Jahrhunderten, aber sie scheint zuzunehmen. Denkbar wäre auch, dass Menschen sich in Zeiten abnehmender Rollenzwänge häufiger trauen, ihre »Identität« öffentlich zu bekennen. Man sollte nicht vorschnell und schneidig Urteile darüber fällen.
Prof. Dr. Christoph Hueck im Gespräch mit Prof. Dr. Johannes Grebe-Ellis, Physikdidaktiker an der Universität Wuppertal
Rudolf Steiner ging allem Anschein nach von der historischen Existenz des Propheten Mohammed aus.
Vom Umgang mit Rassismus- und Antisemitismus-Vorwürfen gegen Rudolf Steiner und die Anthroposophie
»Die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik richtet sich gegen jede Form von Rassismus und Nationalismus. Die Freien Waldorfschulen sind sich bewusst, dass vereinzelte Formulierungen im Gesamtwerk Rudolf Steiners nach dem heutigen Verständnis nicht dieser Grundrichtung entsprechen und diskriminierend wirken.« – Dieses Zitat stammt aus der ›Stuttgarter Erklärung‹ von 2007, in welcher sich der Bund der Freien Waldorfschulen von den vermehrt seit der Jahrtausendwende gegen die Anthroposophie erhobenen Rassismus- und Antisemitismusvorwürfen distanziert. Doch während das Demonstrieren eines Problembewusstseins manchen Anthroposophen progressiv bis revolutionär erscheinen mag, nimmt sich dieses in der Außenwahrnehmung bestenfalls wie ein halbherziges, nur auf externen Druck zustandegekommenes Minimalzugeständnis aus. Daran ändert auch die im November 2020 neu aufgelegte Fassung mit entsprechend geschichtssensiblen Nachjustierungen nicht viel: Die »vereinzelten Formulierungen« seien demnach von »einer rassistisch diskriminierenden Haltung der damaligen Zeit mitgeprägt«– eine Lesart des kleinsten gemeinsamen Nenners also, welche die Bereitschaft der Verfasser signalisiert, die Entstehung des Steinerschen Werkes in einem historisch-gesellschaftlichen Kontext zu verorten, in dem weite Kreise des europäischen Bildungsbürgertums ganz selbstverständlich von der eigenen Überlegenheit ausgingen und Erklärungsmuster, welche Völker und Kulturen nach bestimmten Merkmalen hierarchisierten, über die Grenzen des politisch rechten Lagers hinaus das Bewusstsein vieler bestimmten.
Christian Clements Bild der Geistesforschung Rudolf Steiners
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Zukunftsfähigkeit erringen in pandemischen Zeiten
Im Folgenden möchte ich versuchen, meine persönlichen Erfahrungen mit Covid-19, das Leben und Leiden mit der Zeitlage sowie einige Bücher und Texte, die mir im letzten Jahr begegnet sind, aphoristisch miteinander zu verknüpfen und vor dem Hintergrund der Anthroposophie nach Zukunftsperspektiven in einer verworrenen Zeit zu suchen.