Artikel von Christoph Hueck
Im Licht des Doppelstroms der Zeit
Die Anthroposophie eröffnet einen wissenschaftlichen Erkenntniszugang zum Übersinnlichen. Man soll Rudolf Steiners Ausführungen nicht glauben, sondern versuchen, sie zu verstehen. Die Anthroposophie ist Geisteswissenschaft. Selbstverständlich gibt es andere, legitime Formen des Umgangs mit der Anthroposophie, aber am Ende zielt sie auf die Ausbildung selbstständiger geistiger Erkenntnisfähigkeiten. Allerdings ist das geisteswissenschaftliche Erkennen nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch anders als das naturwissenschaftliche. Es ist zwar genauso klar, aber beweglicher, anschauender und erlebender, und es arbeitet auch mit anderen Fundamentalbegriffen. In den vergangenen 500 Jahren wurde das naturwissenschaftliche Denken als allgemeine menschliche Fälligkeit ausgebildet. Beim geisteswissenschaftlichen Denken stehen wir erst ganz am Anfang. Aber gerade in dessen Ausbildung liegt eine der großen kulturhistorischen Aufgaben der Gegenwart und Zukunft.Wissenschaft ist eine Methode, um die Trennung zwischen Ich und Welt in voller Bewusstheit zu überwinden. Zur Wissenschaftlichkeit gehört deshalb immer eine klare Beschreibung der Methode sowie ihre begriffliche Durchdringung und Begründung. In einem voran gegangenen Artikel habe ich erläutert, inwiefern Goethes Metamorphosenlehre eine Grundlage für die wissenschaftliche Methode der Anthroposophie ist, insbesondere, insofern es sich um eine Erkenntnis des Lebendigen handelt. Goethe hatte ein bewegliches und anschauendes, »imaginatives« Denken, das ihn besonders befähigte, das Lebendige in seiner fortwährenden Verwandlung zu erkennen. Hier soll nun eine begriffliche Bestimmung lebendiger Entwicklung, ein tragfähiger Entwicklungsbegriff hinzugefiigt werden.
Ein Zwischenruf
Die Anthroposophie ist die einzige spirituelle Geistesrichtung, die eine konkrete Praxis in verschiedenen Lebensbereichen hervorgebracht hat. Gerade darin liegt ihre Bedeutung, aber auch ihr Problem. Wieder einmal sind Kritiker unterwegs, die Anthroposophen vorwerfen, eine esoterische und unwissenschaftliche Weltanschauung zu vertreten (wobei »Wissenschaft« natürlich nur im materialistischen Sinne verstanden wird). Im Zuge der Corona-Krise hat die Kritik eine neue Stufe erreicht. Während man bisher zwar die Anthroposophie für Humbug hielt, ihre Praxis aber durchaus schätzte und anerkannte, wird inzwischen gefragt, ob nicht auch die Praxis gefährlich und sogar menschenverachtend sei.Jost Schieren, Professor für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule in Alfter, hat im April 2022 einen ausführlichen Aufsatz zur Kritik an der Waldorfpädagogik verfasst. Darin geht er auch auf das sogenannte »Esoterikproblem« der Waldorfpädagogik ein, mit dem er sich seit Jahren auseinandersetzt. Um die Kritiker zu befrieden, fordert er einen »Anthroposophieverzicht« und eine »Esoterikabstinenz in der Waldorfpädagogik«. Ein solcher Verzicht sei für die Waldorfpädagogik nicht problematisch, denn Rudolf Steiner habe »in seinen pädagogischen Vorträgen, (den grünen Bänden der Gesamtausgabe) die weiten Themen- und Denkhorizonte der allgemeinen Anthroposophie gar nicht auftreten« lassen. Schieren möchte offensichtlich der Waldorfbewegung Argumente zur Selbstverteidigung liefern: Schaut her, wir sind gar nicht so schmuddelig, wie uns vorgeworfen wird. Im Gegenteil, wir sind sogar clean!
Ein Gesprächsbeitrag
Die aktuell aufflackernde Diskussion um den öffentlichen Umgang mit anthroposophischer Esoterik. ist Ausdruck von Fragen nach der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie sowie nach ihrer Bedeutung für die anthroposophischen Praxisfelder. Beide Fragen sind nicht neu, sondern waren schon zu Lebzeiten Rudolf Steiners virulent. Das Problem liegt vor allem darin, dass die Anthroposophie Inhalte liefert, die den Denkgewohnheiten und materialistischen Vorurteilen der Moderne widersprechen. Wie man sich zu diesen Fragen positioniert, ist davon abhängig, auf welchen Grundlagen die eigene Überzeugung von der Wahrheit der Anthroposophie ruht. Sie kann auf Ahnungen, Gefühlen, Glauben, biografischen Erfahrungen, aber auch auf klaren Einsichten aufgebaut sein. Rudolf Steiner hat die Anthroposophie als Geisteswissenschaft konzipiert, und der wissenschaftliche Zugang zu ihr soll hier betrachtet werden.