Die Verwandlung des Rätegedankens

Rudolf Steiner über Arbeiterrräte und Sozialisierung im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus

Während der Novemberrevolution 1918 und dem Zusammenbruch
des deutschen Kaiserreiches kam es in Deutschland zur
spontanen Bildung von Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten. In
Berlin entstand für etwa acht Wochen eine Doppelherrschaft von
Räten und der Reichregierung Friedrich Eberts. In Bayern wählten
die Räte nach Absetzung König Ludwigs III. sogar den ersten
Ministerpräsidenten der neu ausgerufenen bayerischen Republik.
Die angestrebte Räteregierung war stark inspiriert von sozialistischem
und basisdemokratischem Gedankengut. Viele Vertreter
sahen auch ein Vorbild in dem System der Sowjets, das sich nach
der russischen Oktoberrevolution herausgebildet hatte. Wenig
verwunderlich war daher, dass sogleich gegen diese Art Bestrebungen
Bündnisse aus Interessenkreisen geschlossen wurden, die
bisher wenig miteinander zu tun hatten. So verbündeten sich die
Vertreter der Großindustrie unter Führung von Hugo Stinnes mit
sozialismuskritischen, SPD-nahen und christlichen Gewerkschaftern.
Die SPD-nahen Gewerkschaften sahen darin einen Weg, die
drohende Sozialisierung der Produktionsmittel zu verhindern, die
christlichen Gewerkschaften erkannten die Chance, langersehnte
Forderungen gegen die Arbeitgeber durchzusetzen. Friedrich Ebert
selbst schloss aus Furcht vor einer Räterepublik nach russischem
Vorbild mit General Wilhelm Groener einen Geheimpakt, der ihm
die Unterstützung des deutschen Heeres zusicherte. Die Oberste
Heeresleitung begann mit der Aufstellung von Freikorps aus
monarchistisch gesinnten Offizieren und Mannschaften, um der
vermeintlich drohenden bolschewistischen Gefahr wirksam entgegentreten
zu können. An der besonders blutigen Niederschlagung
der Münchener Räterepublik bis zum 2. Mai 1919 waren diese
Freikorps maßgeblich beteiligt.
In dieser turbulenten Zeit kam Rudolf Steiner am 20. April 1919
nach Stuttgart. In den Wochen zuvor hatte er in der Schweiz
zahlreiche Vorträge über die Idee der Dreigliederung des sozialen
Organismus gehalten, die auch seiner Schrift Die Kernpunkte
der sozialen Frage zugrunde liegen.2 Rudolf Steiner, der
die Entwicklung in Deutschland von der Schweiz aus aufmerksam
verfolgte, musste beim deutschen Publikum nun die vollkommen
andere politische Situation berücksichtigen. Für im
bürgerlichen Milieu beheimatete Menschen geht er erstaunlich
unvoreingenommen auf die deutsche Rätebewegung zu; trotz
des gewaltigen Widerstandes aus allen möglichen Schichten
sieht er im Rätegedanken eine Wirklichkeit bzw. eine keimhafte
Zukunftsform, die allerdings noch richtig entfaltet werden müsse.
Am 16. Mai 1919 betonte er in einem öffentlichen Vortrag:
»Es braucht wahrhaftig nicht diskutiert zu werden darüber, ob
die Räte eine Wirklichkeit sind oder nicht. Sie sind es zum Teil,
sie werden es immer mehr werden, kein Mensch wird sie wieder
zurücktreiben können, sie werden in noch ganz anderen
Formen auferstehen, als sie schon da sind. Das wirklichkeitsgemäße
Denken, das fordert von uns, dass wir den Boden schaffen,
auf dem mit diesen Räten gearbeitet werden kann.«3
Diese Aussage ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass eigentlich
zu diesem Zeitpunkt schon ersichtlich war, dass ein Rätesystem
kaum noch Chancen haben würde, sich in Deutschland
gegen die beharrenden Kräfte durchzusetzen. Dennoch, obwohl
kurz zuvor sogar die Münchner Räteregierung sowohl an den
eigenen inneren Widersprüchen als auch vor der Gewalt der
Freikorps kapituliert hatte, behauptete er: »Kein Mensch wird
die Räte wieder zurücktreiben können.« Doch schon wenige
Wochen später hatten die beharrenden Kräfte das parlamentarische
System gegen das Rätesystems durchgesetzt und den
Impuls der Rätebewegung endgültig erstickt.

2 Rudolf Steiner: Die Kernpunkte
der sozialen Frage
(1919; GA 23), Dornach 1976.
3 Rudolf Steiner: Neugestaltung
des sozialen Organismus
(1919; GA 330), Dornach
1983, S. 202 . Alexander
Lüscher verweist in seiner
Einführung zu Arbeiterräte
und Sozialisierung auf diese
Stelle.

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Erschienen in



die Drei 3, 2014

Recht und Gesellschaftsgestaltung