Ein Kommentar zum ›Wort‹ und zum ›Unwort‹ des Jahres 2016
Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) wählt seit 1977 regelmäßig das ›Wort des Jahres‹ bzw. die ›Wörter des Jahres‹. Auch für 2016 benannte die GfdS »jene zehn Wörter und Wendungen, die den öffentlichen Diskurs des Jahres wesentlich geprägt und das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben sprachlich in besonderer Weise begleitet haben.« Diese Wörter sind: 1. Postfaktisch, 2. Brexit, 3. Silvesternacht, 4. Schmähkritik, 5. Trump-Effekt, 6. Social Bots, 7. schlechtes Blut, 8. Gruselclown, 9. Burkiniverbot, und – als ›Satz des Jahres‹ – : 10. Oh, wie schön ist Panama.
Ruth Renée Reif im Gespräch mit Peter-André Alt
Sigmund Freud revolutionierte das Denken über den Menschen wie kaum ein anderer Wissenschaftler. Als Begründer der Psychoanalyse und Verfasser der Traumdeutung eroberte er Neuland. Er öffnete die wissenschaftliche Sicht auf das menschliche Triebleben, das Unbewusste und die Sexualität. Ihm widerfuhr heftige Kritik. Sein Denken wurde für überholt oder widerlegt erklärt und erlangte doch immer wieder neue Bestätigung. Auf vielfältige Art erweist es sich als fruchtbar bis in die Gegenwart. Der Literaturhistoriker Peter-André Alt hat eine neue Freud-Biografie vorgelegt. In ›Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne‹ (C. H. Beck, München 2016) porträtiert er Freud als Arzt und Wissenschaftler, Familienvater und belesenen Gelehrten sowie als Schriftsteller, dessen Krankenberichte den großen Novellen des 19. Jahrhunderts gleichen. Er zeichnet die Geschichte seiner Wissenschaft nach und würdigt die kulturhistorische Leistung, die Freuds Lehre »als Moment der Moderne, als Instrument ihrer Deutung und ihr Motor« vollbracht hat. Gestützt auf unveröffentlichtes Material, spürt er der Frage nach, wie Freud aus den Patientengesprächen in der Berggasse und den Selbstanalysen ein folgenreiches Wissen vom Menschen gewann und eine Lehre schuf, die weit über das therapeutische Feld hinauswirkte.
Zum 100. Todestag von Franz Brentano
Am 17. März dieses Jahres 2017 jährt sich der Todestag von Franz Brentano zum hundertsten Male. Der Philosoph und Psychologe hat an den Grundlagen des Gebietes der seelischen Phänomene geforscht und maßgeblich zur Entwicklung der Psychologie als eigenständige Wissenschaft beigetragen. Brentano zählt zudem zu den wichtigsten Vorreitern der philosophischen Phänomenologie. Der Artikel möchte an die Persönlichkeit Brentanos erinnern und Grundgedanken sowie wichtige Entdeckungen seiner Seelenlehre umreißen. Dabei soll das Schwergewicht auf sein methodisches Hauptwerk ›Psychologie vom empirischen Standpunkte‹ (1874) gelegt werden. Gegen Ende des Beitrags wird Rudolf Steiners Würdigung des Philosophen in seinem Nachruf auf Brentano von 1917 zur Sprache gebracht und es werden einige darin enthaltene Grundeinsichten in ihrer Relevanz für die Möglichkeit zukünftiger geisteswissenschaftlicher Forschung skizziert.
Franz Brentanos ›Lehre Jesu‹ und die Anthroposophie
Franz Brentano hat über seine Schüler auf viele Richtungen in Philosophie und Psychologie des 20. Jahrhunderts (z.B. Phänomenologie, Existenzphilosophie, analytische Philosophie, experimentelle Psychologie) großen Einfluss ausgeübt. Weniger bekannt ist, dass er mit seinem Philosophieren ein tiefes religiöses Anliegen verband. Darin liegt aber meines Erachtens der Grund für die innere geistige Beziehung seines Erkenntnisstrebens zur Anthroposophie. Der vorliegende Text möchte auf diese Beziehung hinweisen, ohne dabei alle geäußerten Gedanken ausführlich erläutern zu können. Die geschilderten Zusammenhänge sind so komplex, dass ihre Darstellung den zur Verfügung stehenden Rahmen weit überschreiten würde. Ich hoffe dennoch, auch ohne tiefer gehende Begründung der Sachverhalte die Leserinnen und Leser gerade durch die offen bleibenden Fragen zum Nachdenken über die rätselhafte Verbindung Brentanos zur Anthroposophie und zu Rudolf Steiner anregen zu können.
Zur Auseinandersetzung zwischen Max Dessoir und Rudolf Steiner
Am 22. Oktober 1916, es ist ein Sonntag, schreibt der vom Dienst an der Front befreite Instruktionsoffizier Walter Johannes Stein aus Wien an den Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner in Dornach: »Hochverehrter Herr Doktor! Prof Dr Max Dessoir (Berlin) hat am 20. d. M. in Wien im kleinen Vortragssaal der Urania einen Vortrag gehalten, welcher in einem Zyklus von drei Vorträgen der letzte war ›Aberglaube und Geheimwissenschaft in der Gegenwart, Theosophie‹. So lautete die Ankündigung des Vortrags. Die zwei vorangehenden beschäftigten sich mit ›Gesundbeten und Kabala‹. Ich hatte nur den dritten gehört [...] Der dritte Vortrag war eine Polemik. Was als Polemik gebracht wurde ist nicht so gefährlich wie die vorangehende ›unbefangene und objektive‹ Darstellung der Lehre des ›Herrn Steiner‹.«
Offenbarung und Auserwählung im jüdischen Selbstverständnis – II. Teil
Sind die Juden ein Volk oder sind sie Angehörige eines religiösen Bekenntnisses? Wohl beides zugleich. Die Sachlage ist aber alles andere als eindeutig. Sofern sie ein Volk sind, ist das Atypische nicht zu übersehen, wo doch Juden zugleich Amerikaner, Russen oder Marokkaner sein können – oder auch Israelis, was andere Juden wiederum nicht sind, dafür aber viele Muslime und Christen. Und ob das Judentum eine Bekenntnisreligion sei, darf getrost hinterfragt werden. Die Konversion zum Judentum besteht ja im Kern nicht darin, einem Credo zuzustimmen, sondern beruht darauf, in die Schicksalsgemeinschaft des »Volkes Israel« aufgenommen zu werden – unabhängig davon, ob der Konvertit Chinese, Afroamerikaner oder sonst etwas ist und bleibt.
Zu SKA Bd. 6: ›Theosophie – Anthroposophie‹
Christian Clement bleibt seinem Fahrplan treu. Ende 2016 legte er Band 6 der kritischen Ausgabe von Rudolf Steiners Schriften vor, der die ›Theosophie‹ und das Fragment ›Anthroposophie‹ aus dem Jahre 1910 enthält, wie immer mit sauber dokumentierter Textentwicklung, einer 126-seitigen Einleitung und ca. 100 Seiten Stellenkommentaren. Ein Vorwort des schwedischen Esoterik-Forschers Egil Asprem eröffnet die Ausgabe.
›Meine Zeit mit Cézanne‹ heißt ein Film, der letztes Jahr in den Kinos lief und der von Cézannes Freundschaft mit Emile Zola handelt. In diesem Film führen die zwei Künstler – der Schriftsteller und der Maler – eine Diskussion, die rein erfunden ist. Zola (1840–1902) und Cézanne (1839–1906) kannten sich von Kindesbeinen an; sie waren in Aix-en-Provence aufgewachsen und hatten mindestens 34 Jahre lang den Kontakt aufrechterhalten. Als Zola 18-jährig nach Paris zog, begann ein reger Briefwechsel zwischen den beiden. Doch während Zola schon bald seinen Erfolg als vielgelesener Romancier feiern konnte, war Cézanne immer noch verzweifelt auf der Suche. In Paris ließ er sich nie dauerhaft nieder; die meiste Zeit verbrachte er malend in der Provence.
Ich und Europa II
Europäisches Denken – ein für mich zwiespältiger Ausdruck. Wenn man in der Geschichte zurückgeht, so findet man zum Beispiel Unterscheidungen zwischen einem an dem Erleben einer Ganzheit zugewendeten gedanklichen Erfassen der Natur in der ionischen Naturphilosophie (Heraklit, Thales, Anaximander, Anaximenes) und einem eher abstrakt anmutenden, das logische Argumentieren und Erkunden des unveränderlichen Seins in den Vordergrund rückenden eleatischen Philosophie (Parmenides, Zenon von Elea, Melissos von Samos). Kann man dann auch von einer griechischen Philosophie, genauer: vorsokratischen Philosophie im inhaltlichen Sinne sprechen, mit ganz bestimmten übergreifenden Merkmalen – und nicht nur im Sinne einer Aufzählung der Vertreter dieser (und anderer) Schulen?
Auf dem Weg nach Kassel im ICE, die Unterhaltung zweier Studenten. Einer erzählt von einem elektronischen Zubehör, das Teil sei »megaklein« ... Mega heißt groß. Mag es auch ein Modewort für Jugendliche sein, die beiden Gesprächspartner sind weder 14 Jahre alt, noch scheinen sie aus dem sogenannten bildungsfernen Milieu zu stammen. Ich fühle mich erinnert an den Sprachgebrauch in Orwells Roman ›1984‹: doppelplusungut. Bekanntlich erzeugt der Totalitarismus Bewusstlosigkeit durch Sprachverwahrlosung.
In schöner und sorgfältiger Handschrift wurde das Maturitätszeugnis für Rudolf Steiner anlässlich seiner Hochschulreife ausgestellt. Er hatte die Matura (Abitur) an der Oberrealschule in Wien-Neustadt am 5. Juli 1879 mit Auszeichnung abgeschlossen. Auf der Titelseite steht geschrieben: »Steiner Rudolf aus Kraljevec in Ungarn, hat die Realstudien im Schuljahre 1872/3 an der Landes-Oberrealschule in W-Neustadt begonnen und bis 1878/9 in allen Klassen an derselben beendigt, im sittlichen Betragen die Note musterhaft erlangt und sich der Maturitäts-Prüfung vor der unterzeichneten Prüfungs-Commission mit nachstehend verzeichnetem Erfolge unterzogen.« Am Ende haben die Lehrer jeweils in schöner, charakteristischer Handschrift unterschrieben, so u.a. »Pet. Lambertz für franz. Sprache«, »W. Schmeisser für Englisch«, »L. Jellinek für Math. und Phys.«, »G Kosak für darstellende Geometrie« und »Dr. J. Mayer für Deutsch«.
Nächtlicher Monolog einer Mutter
Den Geist des Aufbruchs atmend
Zu ›Ein Koran ohne Mohammed?‹ in die Drei 8-9/2016
Seit nunmehr sechs Jahren tobt in Syrien ein Bürgerkrieg, der sich längst zu einem Stellvertreterkrieg diverser regionaler Staaten sowie der Grossmächte USA und Russland ausgewachsen hat. Folgt man den Zahlen des ›Syrian Center for Policy Research‹, so sind bei einer Bevölkerung von 23 Millionen Menschen inzwischen 470.000 Todesopfer und nahezu zwei Millionen Verletzte zu beklagen, »über vier Millionen SyrerInnen haben das Land verlassen, weitere 6,4 Millionen sind innerhalb Syriens auf der Flucht«. Selbst ohne Berücksichtigung der vernichteten Sachwerte werden die Verluste der syrischen Wirtschaft seit 2011 auf 254 Milliarden US-Dollar geschätzt, und der Wiederaufbau der zertrümmerten Infrastruktur würde nach Experten-Schätzungen 150-180 Milliarden US-Dollar kosten. Doch neben der erschütternden Bilanz zerstörter Menschenleben und der materiellen Schäden – die sowohl das syrische Regime und als auch die dschihadistischen Oppositions bzw. Söldnergruppen zu verantworten haben– fällt die systematische Auslöschung des kulturellen Gedächtnisses Syriens durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und andere mit ihm verbundene dschihadistische Gruppen ins Gewicht. Diese gezielte Zerstörung von Kulturdenkmälern ging mit der Errichtung einer Art von Kalifat in den eroberten Gebieten Syriens einher, in dem der Terror zum »Regierungsprinzip« erhoben wurde. Denn die inhumane und fanatische IS-Ideologie rechtfertigt die Sklaverei von Kindern und Frauen sowie die Vertreibung und den Mord an Andersgläubigen, seien es Schiiten, Alawiten, Jesiden, Christen oder auch moderate Sunniten. Eine Unterstützung dieser Sorte von »Glaubenskämpfern«, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln auch immer, sollte sich eigentlich verbieten – ganz gleich, wie man das syrische Regime im Einzelnen auch bewerten und einschätzen mag.
Zur Kontroverse um den Einsturz des World Trade Centers
In der Zeitschrift ›europhysics news‹ (EPN), die von der ›European Physical Society‹ (EPS) herausgegeben wird, erschien im August 2016 unter dem Titel: ›15 Years Later: on the Physics of High-Rise Building Collapses‹ ein Artikel, der die Hypothese einer kontrollierten Sprengung der drei Türme des World Trade Center am 11. September 2001 wissenschaftlich zu belegen sucht. Die ›European Physical Society‹ (EPS) ist ein Zusammenschluss von 42 europäischen physikalischen Gesellschaften (unter anderen der ›Deutschen Physikalischen Gesellschaft‹) und repräsentiert damit über 100.000 Physiker in ganz Europa. Die ›europhysics news‹ haben eine Auflage von 25.000 Exemplaren. Weil damit zum ersten Mal ein der offiziellen Theorie widersprechender Artikel in einem angesehenen wissenschaftlichen Medium publiziert wurde, lohnt sich eine genauere Betrachtung dieses bemerkenswerten Vorgangs.
Über die Entstehung von Machtstrukturen und wie sie überwunden werden können (15)
Das Geistesleben hat eine Eigentendenz zur Erzeugung von Machtstrukturen. Im vorliegenden Beitrag wird diese Tendenz auf dem Hintergrund des neunten Vortrages des ›Nationalökonomischen Kurses‹ Rudolf Steiners untersucht. Die Überwindung dieser Eigentendenz ist die Aufgabe eines erneuerten Geisteslebens. Wie dieses möglich ist, hat Rudolf Steiner an verschiedensten Stellen ausgeführt. Es zeigt sich, dass dieses eine Kernfrage des Christentums ist, die insbesondere in Europa einer Lösung harrt. Aus diesem Grunde wird im Titel an Novalis’ poetisch-prophetischen Essay von 1799 angeknüpft.
Immanuel Kants kategorischer Imperativ und Rudolf Steiners Grundmaxime. Ein Vergleich
Immanuel Kants und Rudolf Steiners Ethiken offenbaren einem tieferen Blick – wie im Oktoberheft kenntnis- und lehrreich gezeigt wurde– viel mehr Affinitäten, als eine nur oberflächliche Wahrnehmung empfinden könnte. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie der kategorische Imperativ Kants und Steiners Grundmaxime des freien Menschen trotz der soeben angedeuteten Affinitäten doch einen wesentlichen Unterschied in der Gebärde, die der Wahrnehmung des ethischen Handelns zugrunde liegt, manifestieren.
Eine Antwort auf Marcus Andries’ »Korrektur«
»Die Philosophie der Gegenwart leidet an einem ungesunden Kant-Glauben.« Dieser 1892 niedergeschriebene Satz scheint seine Brisanz auch heute noch nicht ganz eingebüßt zu haben. Dabei gilt er inzwischen nicht mehr nur von der Philosophie und dem Denken einiger spezialisierter Fachleute, sondern – was ungleich wichtiger ist – vom Empfinden vieler Menschen, die nie auch nur eine Zeile von Kant gelesen haben. Er gilt darüber hinaus heute auch von der Anthroposophie (unter deren Vertretern freilich auch Bekenner einer ganzen Palette weiterer »ungesunder« Glaubensrichtungen angetroffen werden können – ganz nach dem Vorbild des unvergesslichen Mementos von Charles Maurras: »Ich bin Atheist, aber ich bin Katholik.«)
Das Wesen des Ichs an der Schwelle
Die Geburt des höheren Ichs im Menschen und der Umgang mit dem eigenen Doppelgänger stehen in einem unmittelbaren Verhältnis zueinander. Ohne das Anschauenlernen und Verwandeln des eigenen Doppelgängers kann das höhere Ich nicht in einer guten und gesunden Art zur Geburt gebracht werden. Warum, kann man fragen, haben diese beiden Dinge einen so engen Zusammenhang? Andere Weltanschauungen, die das Ich nur mit dem Egoismus identifizieren, kennen den Doppelgänger und die Schwelle nicht.
Eine Betrachtung des Bildes ›Tantalus‹ von Gioacchino Assereto
Vor genau 100 Jahren veröffentlichte Rudolf Steiner die Schrift ›Von Seelenrätseln‹. Darin wird u.a. ausgeführt, wie Denken, Fühlen und Wollen mit der physisch-ätherischen Leibesgrundlage des Menschen zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund kann auffallen, dass zwei noch heute berühmte Gestalten der griechischen Mythologie, Sisyphos und Tantalos, extrem einseitige Ausprägungen des dreigliedrigen Menschen darstellen. Es wurde bereits gezeigt, dass bei Sisyphos das Denken alles beherrscht und er sich dadurch vom Kosmos abschnürt.Im vorliegenden Beitrag wird mithilfe des Bildes ›Tantalus‹ – das der Genueser Künstler Gioacchino Assereto um 1640 malte – entwickelt, wie die sprichwörtlich gewordenen Tantalos-Qualen damit zusammenhängen, dass diese tragische Gestalt den ins Bewusstsein drängenden Willenskräften nicht gewachsen war.
Erfahrungen mit René Magritte in der Frankfurter Schirn
Die Bilder von René Magritte (1898-1967) sind kühl und wirken auf den ersten Blick höchst realistisch. Obwohl sie den Regeln der Perspektive zu folgen scheinen, lassen sie kein Erlebnis von Tiefe aufkommen; das verhindert schon die auf pure Oberflächengestaltung angelegte Malweise. So geht es auch nicht um Innerlichkeit oder Stimmungen, in die ich mich hineinleben kann. Was bleibt, sind Irritationen, die nur denkend aufzulösen sind, und allein darin liegt die Transzendenz dieser Bilder: Ich lerne an ihnen etwas über mein Sehen und Vorstellen. Was ich auf dem Bild sehe, bleibt jedoch irritierend, und genau das macht Magrittes Kunst aus.
Eine Theaterinszenierung und eine Ausstellung in München
Vorhang auf!
Während ich dies schreibe, schaue ich zurück. Ich versetze mich voraus in den April und schaue durch die Augen des Lesers zurück, um von dorther auf das aktuell Entstehende Einfluss zu nehmen. Soll es nämlich im April – dem vermutlichen Erscheinungsdatum – noch etwas besagen, dann muss ich die Zeit buchstäblich aufheben und zurückwerfen. Die Bewusstseinsgeste der Zukunft gegenüber ist kein Vorwärts-Tasten mit dem Blindenstock im Dunkeln; es ist Vorwurf und Rückblick der Phantasie an der Wegkehre, an der Wasserscheide der Zeit, wo die Ströme sich trennen. Wo etwas Zukunft wird, was vergangen war.
Zur Ausstellung ›Poesie der venezianischen Malerei‹ in der Hamburger Kunsthalle
Bei Regenwetter nach Hamburg zu fahren ist kein Vergnügen, schon gar nicht bei leichtem Regen, der kaum durchnässt, aber alles grau in grau erscheinen lässt und das Gemüt niederdrückt. Nur gut, dass die Kunsthalle nahe am Bahnhof liegt, und dass die Binnenalster durch die Spiegelung ein wenig Licht herüberwirft. Nach meiner Besichtigung der Ausstellung sah die Welt ganz anders aus. Die Leuchtkraft der über vierhundert Jahre alten Bilder hatte meine Wahrnehmung verändert. (Nicht besonders nachhaltig übrigens, denn nach einem Fußweg hinüber zum Bucerius-Kunstforum – es regnete weiterhin – und nachdem ich die dortige, noch bis zum 1. Mai geöffnete Paula-Modersohn- Becker-Ausstellung besichtigt hatte, war meine Wahrnehmung ein weiteres Mal verändert.) Mich ließ das einmal mehr nachdenken über das Verhältnis zwischen Kunst und Leben.