Vor nunmehr 100 Jahren wurde die Christengemeinschaft als Bewegung für religiöse Erneuerung ins Leben gerufen. Das vorliegende Heft wendet sich den Impulsen und geistigen Hintergründen zu, die dabei eine Rolle spielten, und fasst einige Menschen ins Auge, die als Geburtshelfer dieser Bewegung gelten können, aber dann aus dem Blickfeld gerieten.
Ein Foto steht symbolisch für die türkische Kurdenpolitik
»Wurde je ein Sohn von Ihnen getötet? Lag sein Leichnam tagelang auf der Straße und wurde von hungrigen Hunden zerfetzt? Haben Sie, nachdem Sie die Hoffnung aufgegeben hatten, ihn lebendig wiederzusehen, jahrelang verzweifelt vor den Türen des Staat genannten erbarmungslosen Riesen ausgeharrt, damit er wenigstens ein Grab bekommt? Wurden Ihnen dann mit den Worten: ›Nimm und geh, alles Gute‹, eine Tüte mit Knochen ausgehändigt - die Gebeine Ihres Sohnes? Nein, nichts davon haben Sie erlebt, es hat Sie nicht einmal interessiert. Und falls Sie es doch als verstörende Nachricht gehört haben sollten, haben Sie mit den Schultern gezuckt und gesagt: ›Das sind ja Terroristen, Kurden eben.‹« – Oya Baydar, die Grande Dame der türkischen Literatur, zeigt sich in ihrem Kommentar zu dem Foto, das am 29. August 2022 durch diealternativen und sozialen Medien der Türkei ging, erschüttert, entsetzt aber auch voller Scham ob der eigenen Hilflosigkeit.
Künstliche Intelligenz simuliert menschliche Fähigkeiten immer besser
Die Dinge entwickeln sich mit bedächtiger Schnelle. Zuerst sind sie bloß Science-Fiction: Schriftsteller lassen ihrer Fantasie freien Lauf. Einige Jahre später treten Wissenschaftler auf, die diese Fantasien technisch realisieren wollen, und wieder einige Jahre später scheinen die geschaffenen Geräte das zu können, von dem die Schriftsteller fantasierten. – Als Mitte der 1940er-Jahre die Computer erfunden wurden, sprach man sehr bald von ihnen als den künstlichen Gehirnen. Das Magazin ›Der Spiegel‹ schrieb z.B. 1950 unter dem Titel ›Maschinengehirn. Beängstigend menschlich‹ über die aus heutiger Sicht sehr primitiven Computer. In dem Bericht tauchen Worte auf, wie »Denkmonster«, »Supergehirn«, »Rechenwunder«, »übermenschliche Gehirnarbeit«. Und dann auch Sätze wie: »Tatsächlich aber mußten die Wissenschaftler feststellen, daß im Verhalten der Maschinengehirne beängstigend menschliche Züge hervortreten.« Der Bericht endet mit dem Satz: »Es könnte die Zeit kommen, da diese Supergehirne herrschen. Vielleicht, ohne daß die Menschen es merken.«
Ein Beitrag zur Bewusstseinsbildung im Wirtschaftsleben
In der sechsten Seminarbesprechung zum ›National.konomischen Kurs‹ am 5. August 1922 sagte Rudolf Steiner: »Was wird denn das Geld dadurch, daß sich das realisiert, was ich sage? Dadurch wird das Geld nichts anderes als die durch das ganze Wirtschaftsgebiet durchlaufende Buchführung. Sie könnten nämlich, wenn Sie eine Riesenbuchhaltung einführen wollten, die nicht notwendig ist, dieses ganze Hin- und Hergehen des Geldes ganz gut an einer entsprechenden Stelle verbuchen. Dann würden immer die Posten an den entsprechenden Stellen stehen. Was in Wirklichkeit geschieht, ist nämlich nichts anderes, als daß Sie den Posten aus der betreffenden Stelle herausreißen und dem Betreffenden den Schein geben, so daß die Buchhaltung wandert. Das Geld ist in fluktuierendem Sinn eine Buchhaltung.«
Die Impulse zur Gründung der Christengemeinschaft
Der Beginn der Impulse, die zur Gründung der Christengemeinschaft führten, bestand in einer Frage. Eine richtig gestellte Frage trägt die Kraft ihrer Beantwortung in sich. Auf das Stellen solcher Fragen kommt es an, wenn sich etwas ändern soll in der Welt. In der Zeit vor rund 100 Jahren, als Rudolf Steiner jene Kurse und Vorträge über verschiedene Lebensgebiete hielt, die durch die Anthroposophie eine Erneuerung und Befruchtung erfuhren, wurden zahlreiche solcher Fragen gestellt.
Anthroposophische Bewegung und Bewegung für religiöse Erneuerung als die Pole des freien Geisteslebens
Die Gründung der Christengemeinschaft bezeichnete Rudolf Steiner als »wichtigstes Ereignis der anthroposophischen Geschichte«. Allerdings wusste er, dass dadurch die Gegner der anthroposophischen Bewegung noch weiter herausgefordert werden würden. Der vorliegende Artikel untersucht, wie die beiden großen Gegenimpulse der Verstandes- oder Gemütsseelenepoche mit den unterschiedlichen Aufgaben der Bewegung für religiöse Erneuerung und der anthroposophischen Bewegung in der Gegenwart zusammenhängen. Der Goetheanumbrand erscheint wie ein Bild dafür, dass diese Aufgabe noch nicht gelöst werden konnte.
Aus dem Umkreis der Christengemeinschafts-Gründung
Die dicht gedrängte Folge von Hundertjahrfeiern einiger bedeutender Gründungen, welche durch die Anthroposophie Rudolf Steiners ermöglicht worden sind, schärft den Blick für allfällige Gefahren, denen man als Beteiligter ausgesetzt ist.
Zur Erinnerung an Paul Klein (1871–1957)
Anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Christengemeinschaft sollte auch an Paul Klein erinnert werden, der als einflussreicher evangelischer Stadtpfarrer in Mannheim und persönlicher Schüler Rudolf Steiners der jungen Gemeinschaft die Wege ebnete. Zugleich sei einiges aus seinem Wirken für die anthroposophische Gesamtbewegung mitgeteilt, wobei hier nur einzelne Aspekte und Ereignisse aus seinem Leben berührt werden können.
Hölderlin sagt in seinem ›Hyperion‹ Ungeheueres, das weit über jeden sch.ngeistigen oder bildungsbürgerlichen Romaninhalt hinausgeht. Es handelt sich, in der Tiefenschicht, auch um keine autobiografische Schilderung seines Seelentums. Denn das Werk beinhaltet die Darstellung universeller Gesetzlichkeiten.
Notker III. von St. Gallen (um 950 – 29. Juni 1022)
Ein Mann, der vor tausend Jahren gestorben ist – inwieweit kann der uns heute interessieren? Die Nachwelt gab ihm immerhin den Beinamen Teutonicus, also der Deutsche. Ist ein solcher Beiname und gar die Würdigung seiner Arbeit als »Dienst an deutscher Sprache und deutschem Denken« heute in Deutschland nicht obsolet? (Ein Schweizer Mediaevist hat damit offenbar keine Probleme.) Geht man der Bedeutung dieses Beinamens aber etwas nach, dann stößt man auf die Lebensleistung dieses Mannes und vielleicht auch auf die Berechtigung, nach tausend Jahren seiner zu gedenken. Es ist der Benediktinermönch Notker III. von St. Gallen, um 950 geboren und am 29. Juni 1022 gestorben.
Zu Laszlo Böszörmenyi: ›Georg Kühlewind‹*
Es wird eine Kühlewind-Biografie geben! Die Nachricht rief Freude bei mir hervor, begleitet von der leisen Frage: Was würde er selbst dazu sagen? Er, der sich selbst nicht wichtig nahm und sich mit detaillierteren Informationen über sein Leben deutlich zurückhielt. Würde nun vielleicht wider seinen Willen zu viel öffentlich gemacht werden? Aber natürlich ist es dem Autor, Laszlo Böszörmenyi, der Georg Kühlewind immerhin 28 Jahre gekannt hat, sein Schüler war und sein Freund, nicht entgangen, dass dieser .selten und ungern über sich selbst sprach. (S. 33). Und er hat sich, wie er eingangs bemerkt, während des Schreibens zur Orientierung immer wieder Kühlewinds intensiven, forschenden und vor allem im Alter gütigen Blick vergegenwärtigt.
Zu Rüdiger Sünner: ›Der Geschmack der Unendlichkeit‹*
Der Dokumentarfilmer, Musiker und Autor Rüdiger Sünner ist uns durch seine Filme und Bücher zu Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts bekannt, die er jeweils zu einem besonderen Aspekt ihrer Spiritualität befragt. Dazu gehören Künstler wie Paul Klee und seine Nilfahrt, Rainer Maria Rilke und die Engel, Paul Celan und die jüdische Mystik. Auch Forscher wie der Psychologe C.G. Jung, der Anthroposoph Rudolf Steiner oder die Theologin Dorothee Sölle proträtiert Sünner. Sein jüngstes Projekt widmet sich unter dem Titel ›Heilige Spiele‹ dem Werk von Johann Sebastian Bach. Bekannt wurde Sünner Ende der 1990er Jahre durch seine unbeirrte Recherche nach den esoterischen Hintergründen des Nationalsozialismus in Film und Buch ›Schwarze Sonne‹. In ›Das kreative Universum‹ befragte er namhafte Physiker nach den spirituellen Grenzfragen ihres kosmologischen Denkens. Zuletzt forschte er unter dem Losungswort ›Wildes Denken‹ tiefschürfend nach dem Beitrag indigener Kulturen – auch unserer eigenen europäischen – zu den Chancen eines der Natur und uns selber gegenüber wahrhaftigeren Denkens, ähnlich wie er sich zuvor in ›Geheimes Europa‹ mit eher romantischen Weltdeutungen auseinandersetzte.
Zu Martina Maria Sam: ›Rudolf Steiner. Die Wiener Jahre 1884-1890‹*
In Fortsetzung ihrer 2018 erschienenen dokumentarischen Biografie über Rudolf Steiners Kindheit und Jugend hat Martina Maria Sam – Eurythmistin, promovierte Geisteswissenschaftlerin, Vortragende und Publizistin sowie Herausgeberin im Rudolf Steiner Archiv – nun einen Band über Steiners Wiener Jahre vorgelegt. Ihm stellt sie einen Ausschnitt aus den Erinnerungen des Jugendfreundes Fritz Lemmermayer voran, der die Dramatik »jene[r] denkwürdige[n] Zeit, als Rudolf Steiner seine Schwingen zu entfalten begann«, treffend charakterisiert: als eine Zeit »erfüllt von geistigen Kämpfen, geistigen und sozialen Umstürzen, fest aneinander stoßenden Kontrasten. Altes brach zusammen, Neues rang leidenschaftlich nach Gestaltung. Ein krasser Materialismus wurde Mode in Wissenschaft und Leben. […] Die Naturwissenschaft […] griff, von ihren Erfolgen berauscht, über in das Gebiet von Philosophie und Religion. […] Ein Maschinenzeitalter von umwälzender Kraft hatte weit die Pforten geöffnet. In Verbindung damit war der sogenannte ›wirtschaftliche Aufschwung‹ in die Erscheinung getreten. […] Dem gegenüber eine idealistische Hochflut und ein immer hoffnungslos einsetzender Pessimismus. […] Materialismus, Pessimismus, Atheismus – so hießen die drei grauen Gestalten und Gewalten, welche Ketten für die Menschen schmiedeten. Es wirkte, was ›Aufklärung‹ genannt wurde – eine Aufklärung der Verdunkelung« (S. 11).
Zu Dieter Henrich: ›Ins Denken ziehen‹*
Versucht man einmal, die Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert zu überschauen, so fällt einem auf, dass die gleichsam monolithischen und wirkmächtigen Denkerpersönlichkeiten im Laufe der Zeit nicht nur zahlenmäßig abgenommen, sondern sich auch zunehmend spezifiziert haben. Die pr.gende Orientierung der Philosophie am Phänomen der Sprache hat sich, ausgehend von ihren großen Protagonisten, dem Sprachmystiker Martin Heidegger und dem Sprachtechniker Ludwig Wittgenstein, zum einen in mehr literarisch orientierte, zum anderen in analytisch orientierte Richtungen verzweigt, ergänzt durch eine zunehmend soziologisch und politisch orientierte Richtung, wie sie die Frankfurter Schule repräsentiert.
Zum 115. Todestag von Edvard Grieg (15. Juni 1843 – 4. September 1907)
Wer von Schweden aus die Grenze nach Norwegen übertritt, wird sogleich von zwei großen Trollen aus Stroh empfangen. Sie sehen nur bedingt vertrauenswürdig aus und bevölkern in kleineren, durchweg hässlichen Ausgaben ganz Norwegen, in allen Souvenirläden zumindest. Und sonst? – Von Strömstad in Schweden nach Sandefjord in Norwegen, im Bogen vor dem Oslofjord, ging die Fähre. Weiter fuhren wir mit dem Auto nach Skien, wo der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen (1828–1906) geboren und aufgewachsen ist. ›Thoras hyttan‹ (Thoras Hütte), von Einheimischen vermittelt und mehr als einfach, erschien als einzige Übernachtungsmöglichkeit. Die alten Götter scheinen hier noch lebendig zu sein. Ibsens Geburtshaus Stockmanngården steht nicht mehr, es lag in einer armselig wirkenden, stark abschüssigen Straße. Im Zentrum der Stadt steht sein Denkmal. Etwas außerhalb ist in dem Bauernhaus Venstøp, in dem er seine Kindheit verlebte, jetzt ein Museum eingerichtet.
Erfahrungen mit einer Ballade von Johannes R. Becher
Im Folgenden möchte ich die Umstände beschreiben, die dazu führten, dass Johannes R. Bechers Ballade ›Kinderschuhe aus Lublin‹ sich in ganz besonderer Weise meiner Erinnerung eingeschrieben hat.
Soweit ich mich zurückerinnern kann, hat das Wort stets ein Unbehagen in mir ausgelöst. Als Kind habe ich nicht weiter über die Gründe nachgedacht. Aber später wollte ich wissen, was es mit der Abneigung auf sich hat.
Bescheiden und freilassend
Zu Stephan Eisenhut: ›Zwei Kämpfer für eine soziale Zukunft‹, in die Drei 3/2022
Zu Wolfgang Andreas Schultz: ›Europas zweite Renaissance‹
Wolfgang-Andreas Schultz ist ein Grenzgänger: Als Komponist erkundet er die Durchlässigkeit der eigenen abendländischen Tradition gegenüber dem Anderen, dem Fremden – aber auch gegenüber dem Verdrängten und Vergessenen innerhalb unserer eigenen Kultur. In seinem nun erschienenen Essay über das immer noch im alten Kontinent schlummernde geistig-kulturelle Potenzial offenbart sich dieselbe Haltung, dieselbe Handschrift.
Ich schaue in den Himmel. Wolkenlos. Ein Flugzeug glitzert in der Sonne, schwebend zieht der Rotmilan seine Kreise. – Ich war eine Weile krank, aus dem Körper ausgeflogen, und bin noch nicht ganz wieder zurück, angekommen im leiblichen Selbstverständnis. Ist man gesund, dann stehen die Sinne offen, wie Türen, durch die man ein- und ausgeht. Jetzt muss ich sie selber öffnen. Die Plastizität des Sehens verlangt Krafteinsatz, der aus Erfahrung stammt. Im ersten Augenblick sah ich Milan und Flugzeug auf derselben Ebene, nebeneinander. In Wirklichkeit trennten den Vogel und das Fluggerät natürlich Tausende Höhenmeter – was ich dann einsah.
Am 18. November 2022 fand ein konzertierter Angriff gegen die Anthroposophie in den deutschen Medien statt. Deren Kernstück war eine ›ZDF-Zoom‹-Reportage mit dem manichäisch anmutenden Titel: ›Anthroposophie – gut oder gefährlich?‹, die vor knapp einem Jahr gedreht worden war und deutliche Spuren der damaligen Stimmung trug, in der die Diskriminierung, ja Dämonisierung Andersdenkender in deutschen Redaktionsstuben zum guten Ton gehörte. Der Journalist Jochen Breyer zieht darin das Resümee: »Anthroposophie ist eben auch Karma, kosmische Kräfte und immer wieder die Überzeugung, dass Wissenschaft nicht alles ist, dass Wissenschaft begrenzt ist, und genau das ist gefährlich. In der Pandemie haben wir bemerkt, was es bedeutet, wenn das Vertrauen in die Wissenschaft fehlt.« Verwundert nimmt man zur Kenntnis, dass Wissenschaft neuerdings »alles« zu sein hat, dass offensichtlich Religion und Kunst nicht mehr neben ihr als gleichberechtigte Ausdrucksformen des menschlichen Geistes stehen dürfen. Stattdessen scheint Wissenschaft für viele Menschen zu einer Art Staatsreligion geworden zu sein, an der Zweifel zu hegen und von deren Grenzen zu sprechen als gemeingefährlich gilt.
Manipulative Medienpädagogik auf dem Vormarsch
Am 5. Juli 2022 stimmte das EU-Parlament dem ›Digital Services Act‹ zu. Die dramatischen Folgen für die Möglichkeiten freier Meinungsbildung und -äußerung habe ich hier bereits aufgezeigt. Die meisten der damit beschlossenen Maßnahmen treffen jegliche Art von »Falschbehauptung« – unabhängig davon, ob sie absichtlich oder unabsichtlich getätigt wurde, und ob sie legal oder illegal ist. Von solchen »Falschbehauptungen« im Allgemeinen unterscheidet die EU-Kommission jedoch gezielte »Desinformationen«. Diese seien Elemente der »hybriden Kriegsführung« seitens Russlands. Mit dieser Argumentation werden NATO, Bundeswehr und Geheimdienste bereits seit 2015 am »Kampf« gegen »Fake-News« beteiligt. Welche Volksmeinungen die Wahrheitskrieger aktuell als das Werk Wladimir Putins verstanden wissen wollen, kann der Datenbank der ›East Strat-Com Task Force‹ entnommen werden.
Israel hat (schon wieder) gewählt
»Du nahmst meine Hand in deine und hast zu mir gesagt: / Lass uns in den Garten gehen. / Du nahmst meine Hand in deine und hast zu mir gesagt: / Was man von dort sieht – ist von hier aus nicht zu sehen.« – So lautet die erste Strophe eines in Israel dauerpopulären Songs aus dem Jahr 1979. Die vierte Zeile wurde, zuweilen in ihrer Umkehrung, zum Sprichwort: »Was du von hier aus siehst, ist von dort aus nicht zu sehen.. Mit diesem Satz wird jede Kritik, die vom Ausland an Israel gerichtet wird, abgewiesen. Als Israeli mit europäischem Blickwinkel pendle ich zwischen der ursprünglichen und der umgekehrten Variante. »Hier« und »Dort« spiegeln einander, sind Abbild und Realität zugleich. Die sozio-politischen Entwicklungen in Europa, wie der aufkommende Rechtspopulismus, werden in Israel meist nur unter der Lupe des Antisemitismus wahrgenommen. Man sieht sie dort allzu oft überhaupt nicht, und schon gar nicht so, wie sie von hier gesehen werden. Die Intensität und Lautstärke der Ereignisse dort beeinträchtigen die Ressourcen und Kapazitäten, andere Perspektiven einzunehmen. Man hat genug, nein, viel zu viel mit den eigenen Herausforderungen und ungelösten Problemen zu tun.
Modernes Nachdenken über die Weltseele
Das Werden der Anthroposophie hängt aufs Engste mit dem Ringen Rudolf Steiners um den Begriff des »kosmischen Christus« zusammen. Eine interessante Frage ist es, ob seine diesbezüglichen Visionen und Spekulationen auch Einfluss über die Anthroposophie und die von ihm inspirierte Christengemeinschaft hinaus hatten. Das dürfte namentlich bei dem französischen Naturwissenschaftler und Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) der Fall gewesen sein, der zugleich als Theologe und Priester ausgebildet war. Ihm ging es zeitlebens um die Fragen einer ganzheitlichen Erfassung kosmischer Entwicklungsprozesse. Den Begriff des »kosmischen Christus«, den er ab 1916 verwendete, könnte er von Steiner, aber auch von einigen Theologen übernommen haben, die ihn seit 1906 ins Spiel gebracht hatten. So versteht der US-Amerikaner John Buckham den kosmischen Christus als das »Alpha and Omega«, wie das sp.ter bei Teilhard immer wieder betont zum Ausdruck kam. Ob wiederum Teilhard Buckham gelesen hat, bleibt unsicher. Jedenfalls hatte der Franzose nach seiner naturwissenschaftlichen und philosophischen Ausbildung von 1908 bis 1911 – also noch über seine Priesterweihe hinaus – in England theologische Studien getrieben, wo er auf Buckhams Publikation gestoßen sein könnte.
Die umfassenden Aufgabenstellungen, die mit der Anthroposophie verbunden sind, offenbaren sich auf diesem Erkenntnisweg stufenweise. Obwohl ich mich seit Jahrzehnten mit der Geisteswissenschaft beschäftige, bemerke ich immer wieder, dass auf einmal eine neue, zuvor verborgene Stufe erreicht wird. Aber auch die Entwicklung der anthroposophischen Bewegung verlief am Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Stufen, die Rudolf Steiner im Rückblick selbst beschreibt.
In der ersten Stufe ging es ihm darum, die Grundlagen einer neuen Wissenschaft vom Geist darzustellen. Zu deren zentralen Gebieten gehören insbesondere der Mensch mit seinen sieben Wesensgliedern, die Frage von Reinkarnation und Karma, die Entwicklung der Erde und ihrer Naturreiche sowie die Christologie. Um diese Inhalte in angemessener Form aufnehmen und verarbeiten zu können, ist eine Verlebendigung und Spiritualisierung des Denkens notwendig. Hierzu findet sich im Frühwerk Rudolf Steiners mannigfaltiges Übungsmaterial. Die Aufgabenstellungen, die mit diesem ersten Entfaltungsschritt der Anthroposophie zusammenhängen, sind auch heute noch ungeheuer groß. Denn auf dem Hintergrund der weitgehend materialistischen Denkweise ist eine Spiritualisierung der Wissenschaften ein unglaublich großes Unterfangen. Allein dies würde für Jahrzehnte, ja Jahrhunderte intensivsten Arbeitens unzähliger Wissenschaftler und Forscher ausreichen.