Am 20. Januar 1479 begibt sich der berühmte Diplomat Giovanni Emo nach Udine, um dort als Statthalter von Venedig zu wirken. Mit sich bringt er das Geschenk, das er von Sultan Mehmed II. dem Eroberer am Ende von nicht so glücklichen Friedenverhandlungen bekommen hat, die zwischen 1474/75 stattgefunden haben: Der legendenhaft gewordene Eroberer von Konstantinopel hat ihm eine Marien-Ikone geschenkt, die im Kaiserpalast von Konstantinopel aufbewahrt wurde und Mariens Gesichtszüge getreu darstellen soll. Zunächst bewahrt Giovanni Emo die Ikone bei sich im Schloß von Udine, dem Sitz des Statthalters, nach einem mit ihr verbundenen Wunder lässt er sie jedoch am 8. September 1479 - am Fest von Mariens Geburt - zur Kirche der Heiligen Gervasius und Protasius verlegen. Die intensive devotionale Bewegung, die sich um dieses Bild rasch entwickelt, führt dazu, eine größere Kirche zu bauen, und diese größere, Madonna delle Grazie (Maria der Gnaden) genannte Kirche bewahrt noch heute die Ikone aus Konstantinopel. Die hier betrachtete, vielleicht im 14. Jahrhundert gemalte Ikone ist nicht nur deshalb eine besondere, weil sie aus dem Kaiserpalast in Konstantinopel stammt. Eine viel wichtigere Besonderheit liegt darin, wie sie - als älteste und in dieser Form womöglich einzig erhaltene - die Maria darstellt. Das sonst verbreitete Motiv der Maria als stillende Mutter (griech. galak-totmphousa, latein. lactans), welches an das ägyptische Bild der den Horusknaben stillenden Isis ankniipft - wird hier nämlich dadurch vertieft, dass Maria in der linken Hand eine goldene Kose hält. Diese Kose in der Herzenshand hebt genau die Herzgegend Mariens hervor und wirkt gleichsam als Urbild der auf derselben Linie liegenden rechten Brust, an der das Kind trinkt, die eigene Herzenshand der Kose entgegenstreckend.