Zum 500. Todestag von Johannes Reuchlin (* 29. Januar 1455 in Pforzheim; † 30. Juni 1522 Stuttgart)
In diesem Jahr gedenken wir des 500. Todestages von Johannes Reuchlin, des deutschen Philosophen, Humanisten, Juristen und Hebraisten. Den Namen kennt wohl jeder, aber kaum jemand weiß viel über ihn. In Pforzheim geboren, besuchte er die Lateinschule des dortigen Dominikanerklosters. Mit 15 Jahren ging er an die Universität in Freiburg i.Br. (Grammatik, Philosophie und Rhetorik), später nach Paris, Basel, Orleans, Poitiers und Tübingen. Speziell studierte er Jura. In Tübingen lehrte er an der Universität Poetik und kaiserliches römisches Recht. Es war die Zeit der Renaissance. Reuchlin kannte Humanisten in ganz Europa und war befreundet mit Erasmus von Rotterdam, Mutianus Rufus und Willibald Pirckheimer. Auf Italienreisen 1495 und 1498 traf er in Rom und Florenz die Humanisten Angela Poliziano und Marsilio Ficino, aber vor allem Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494), der ihn stark beeindruckte, da er sich mit der Kabbala beschäftigte, obwohl er nicht Jude war.
Zur Ausstellung >Der Augenblick. Die Fotografin Annelise Kretschmer< im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster
In Köln wünsche ich mir regelmäßig, Fotografin zu sein. Hier am Mysterienhauptbahnhof der Republik. Als kulturelles Glanzlicht weithin, die rußgeschwärzte Fassade des gewaltigen Domes, wie ein Raumschiff auf Zeitreise auf dem Bahnhofsvorplatz gelandet. Gegenüber erhebt sich der ›Musical-Dome‹. Dazwischen das soziale Elend der Gegenwart in Menschengestalt - so drastisch wie sonst nur in den sozialen Brennpunkten der Städte. Aber in Köln mittendrin, im Zentrum.
Die Schriftstellerin Gabriele Eckart (*1954)
Am 17. September 2017 kehrte Gabriele Eckart nach Werder zurück, wo sie vor 37 Jahren als Kulturarbeiterin tätig gewesen war - vorerst aber nur literarisch; die leibhaftige Anwesenheit, geplant für 2021, verhinderte die Corona-Pandemie. Im Rahmen der groß aufgezogenen 700-Jahr-Feier fand damals in der »Comédie Soleih, Werders Kleinkunstbühne, unter dem Titel »Mein schönes Werder< eine Veranstaltung statt, die einen musikalisch-literarischen Streifzug durch die Jahrhunderte bieten sollte. Mir war die Verantwortung für die Suche nach geeigneten Texten übertragen worden - eine Aufgabe, die mich mit Notwendigkeit zu Dr. Baldur .Martin führte, Werders höchst verdienstvollem Chronisten, einem Mitteldeutschen, den es in den 50er Jahren an die Havel gezogen hatte. Er hatte sich auf dem Galgenberg eine bleibende Stätte errichtet, also just dort, wo im Frühling 1895 ein lustiges Sextett um Christian Morgenstern feucht-fröhlich gefeiert und den Bund der Galgenbrüder aus der Taufe gehoben hatte.
Eine bisher unbekannte Festesgabe aus dem Jahr 1912
Persönliche Festesgaben eines großen Schriftstellers sind etwas Besonderes. Zumal wenn sie – wie in einer Vorahnung – in Beziehung stehen zu dem späteren Wirken des Beschenkten. Christian Morgenstern hat durch drei Schwerpunkte seines Schaffens Bildungszielen gedient, die aus heutiger Sicht geradezu zeitlos wirken: die Lebendigkeit seiner humoristischen Lyrik, der Frohsinn seiner Kinderbuchgedichte sowie die tiefgründige Ernsthaftigkeit seiner dem Geistigen verbundenen Werke. Hat er durch diese vielseitige Lebenskunde, die letztlich auch aller Unterricht werden möchte, nicht auch waldorfpädagogische Ziele verdeutlicht?
Schön ist ein einfaches und vielverwendetes Wort, und schnell geht es gewöhnlich über die Lippen, ob nun gewichtig gemeint oder nur federleicht dahingesagt. Schön und gut reichen sich gerne die Hände, aber weniger schön und wahr, worauf ich noch zu sprechen komme.
Ein Lob dem Aufheben! Da kommen zuweilen alte Nachrichten wieder ans Tageslicht und entfalten eine erstaunliche Aktualität: In ihrer Ausgabe vom 11. März 1987 brachte die ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ einen Beitrag mit der Überschrift ›J.W. v. Goethe. Ratsmitglied der Universität Charkow‹. Wie das? Wir sind von Goethe ja eine erstaunliche Universalität gewohnt, doch mit der Ukraine hat man ihn bislang kaum in Verbindung gebracht. Anlass dieses Beitrags war eine Meldung der damaligen sowjetischen Nachrichtenagentur TASS. Demnach hatten Mitarbeiter der Universitätsbibliothek zu Charkow in ihren Beständen die erste Zeitschrift in ukrainischer Sprache aufgefunden: ›Ukrainskij Domownik‹, was so viel wie »Ukrainischer Hausmeister« bedeute.
Olaf Rudbeck d.Ä. (1630–1702)
Jahrhundertelang hatten die mittelalterliche Scholastik und die Philosophie des Aristoteles das Denken Europas in Bann gehalten, auch an der 1477 gegründeten schwedischen Universität in Uppsala. Aber in der Zeit von 1600 bis 1700 ging in der Gedanken- und Ideenwelt Schwedens eine immer schneller werdende Entwicklung vor sich. Es kamen die »Großmachtszeit« (1611-1719) und danach die »Freiheitszeit«(1719-1772) mit vielen Fortschritten, aber auch Rückschlägen. Zunächst hatten die militärischen und politischen Erfolge Schweden reich gemacht und um Gebiete in Ost- und Mitteleuropa vergrößert. Hierdurch kamen viele Schweden mit neuen kulturellen Strömungen in Kontakt, und sie hatten das Empfinden, ihr Land aus der »Barbarei« befreien zu müssen, denn es wurden mehr als nur gute Krieger und rechtdenkende Theologen gebraucht.
Eine Erinnerung zum 110. Todestag
In seinem letzten Jugendroman ›Der Ölprinz‹ lässt Karl May (1842-1912) den sächselnden Hobble-Frank die humorvoll formulierte, aber durchaus ernst gemeinte Frage aussprechen: »In welcher heematlichen Gegend sind denn eigentlich Sie aus der jenseitigen Ewigkeet in die diesseitige Zeitlichkeet hineingeschprungen?« Wenig später lässt May denselben Hobble-Frank Reklame für die Zeitschrift ›Der gute Kamerad‹ machen, in der dieser Roman zum Erstabdruck kam. Sollte auch die zitierte Frage eine Art Werbebotschaft enthalten - nämlich für seine spirituelle Weltanschauung?
Das deutsche Wort jagen hat eine völlig andere Dynamik als das französische chasser oder das englische haunt, hunt, chase oder pursue. Das Wort jagen unterscheidet sich auch markant von deutschsprachigen Synonymen wie suchen oder verfolgen. Vor allem das Wort suchen hat ein viel breiteres Bedeutungsspektrum als jagen, und es fehlt ihm die zielgerichtete Linie und Energie, die dieses auszeichnen.
Zwei Ausstellungen im Museum Wiesbaden
Im Juni 1921 kam der russische Maler Alexej von Jawlensky (1864–1941) erstmals nach Wiesbaden. Spontan traf er die Entscheidung, sich dort niederzulassen, wo er dann die letzten zwanzig Jahre seines Lebens zubrachte. Seine Grabstätte befindet sich auf dem russischen Friedhof auf dem Neroberg. In der Jubiläumsausstellung ›Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden‹, präsentiert das Museum Wiesbaden zum ersten Mal komplett die 111 Werke des Künstlers aus dem eigenen Bestand. Sie umfassen Jawlenskys gesamtes Schaffen, alle wichtigen Entwicklungsphasen des Künstlers – die frühe Münchener Phase mit den expressiven Köpfen, die Sommeraufenthalte in Murnau und das Schweizer Exil, sowie die Wiesbadener Periode – sind mit Hauptwerken vertreten. Die Wiesbadener Sammlung kann damit als die weltweit bedeutendste gelten. Die bereits zu Lebzeiten des Künstlers aufgebaute erste Wiesbadener Sammlung war von den Nationalsozialisten vollständig aufgelöst worden. Als »entartete Kunst« wurden die Gemälde an ihre Besitzer zurückgegeben bzw. beschlagnahmt und abtransportiert.
Rudolf Steiner und Mynona
Der deutsche Philosoph und Schriftsteller Salomo Friedlaender (1871–1946), der unter dem Pseudonym »Mynona« (Umkehrung von »anonym«) bekannt wurde, gehörte zu den zahlreichen Intellektuellen, die von Rudolf Steiner wussten und sich über ihn äußerten. Doch im Gegensatz zu den satirischen Darstellungen aus der Feder eines Kurt Tucholsky oder Gustav Meyrink blieben die Grotesken weitgehend unbeachtet, in denen Mynona den Schöpfer der Anthroposophie ironisiert hat. Da Mynona in der anthroposophischenLiteratur bisher nicht rezipiert wurde, soll im Folgenden sein Verhältnis zu Rudolf Steiner erörtert werden. Dazu gehört auch, dass Friedlaender im Jahre 1903 vergeblich versuchte, einen Artikel in Steiners Zeitschrift ›Luzifer‹ unterzubringen.
Erinnerungen an Hermann Schütz (1920–2015)
Im Frühjahr 1973 kam ich aus Schweden zurück, dank der Vermittlung eines deutschen Brieffreundes aber nicht mehr ins heimatliche Nürnberg, sondern nach Stuttgart. Ich hatte das vorangegangene Halbjahr in Järna, im Rudolf Steiner-Jugendseminar unter der Leitung von Arne Klingborg verbracht. Dass der allseits beliebte Arne auch Mitarbeiter der deutschen Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und soziales Leben namens die Drei aus Stuttgart war, das bekam ich erst sp ter mit. Ich habe noch die Aufforderung jenes Brieffreundes im Ohr – es war Alfred-Richard Walther, der spätere Schriftsteller, ein enger Geistesfreund und freier Mitarbeiter von Karl Otto Schmidt (1904–1977): »Schreib doch mal was!« Im Sommer dann gesagt, getan: Zwei, drei veröffentlichte Beiträge gelangen andernorts, bis man es wagte, den schon damals so genannten »Anthroposophenhügel« in Stuttgart zu erklimmen. Im Rudolf Steiner-Haus suchte ich am 31. August 1973 erstmals Hermann Schütz auf, anfragend, ob eigene Beiträge für die Drei möglich seien. Der väterlich wirkende Redakteur war mir sogleich sympathisch und erweckte mein Vertrauen.
Das Wort Ruhe spricht nicht vom Zustand, den es bezeichnet, sondern wie es dazu kommt, vom »Zur-Ruhe-Kommen«. Das Wort verweist ganz allgemein auf die Abwesenheit von Bewegung und Hörbarem. Aber wie ließe sich Unbewegtes mit Bewegung ausdrücken? Wie Lautloses mit Lauten? Das englische hush für »Lautlosigkeit« meldet sich zwar nicht lautstark zu Wort, sondern eher wie ein flüsternder, flüchtiger Windzug, kommt aber wie alle Worte an der Verlautbarung kaum vorbei.
Zur Tagung ›Wirtschaft und Christentum‹ vom 8. bis 10. Oktober 2021 in Hannover
Unter dem Motto ›Wirtschaft und Christentum: voneinander lernen – miteinander leben – füreinander arbeiten‹ fand vom 8. bis 10. Oktober 2021 eine Tagung der Christengemeinschaft für Nord- und Nordwestdeutschland in Hannover statt. Diese Regionaltagung verstand sich als Vorbereitung für die internationale Tagung zu 100 Jahren Christengemeinschaft, die im Oktober 2022 in Dortmund stattfinden wird.
Zu Juli Zeh: ›Über Menschen‹
Die Juristin und Schriftstellerin Juli Zeh ist eine wichtige Stimme in unserer Zeit. In ›Spieltrieb‹ (2004) gelang es ihr, in eindringlicher Weise die Haltlosigkeit menschlicher Existenzen, wie sie sich seit Jahrzehnten immer offener zeigt, in Gestalten und Vorgänge zu bringen; und angesichts der Corona-Krise und des gesellschaftlichen Umgangs damit mutet ihr 2009 erschienener Roman ›Corpus Delicti. Ein Prozess‹ geradezu prophetisch an.
Zu Hans-Heino Ewers: ›Michael Ende neu entdecken‹
Michael Endes Werk gilt als bessere Literatur des Genres Fantasy, dem bekanntlich auch viele weniger angesehene Werke angehören, wie die populärsten Filme und Computerspiele der Massenkultur. Der Literaturwissenschaftler Hans-Heino Ewers interpretiert Endes Werk im Kontext der Psychologie C.G. Jungs und zeigt auf: Fantasy kann für das Wohlergehen der modernen Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sein – im Guten wie im Bösen.
Tausend Jahre Merseburger Dom (1021–2021)
Merseburg zu DDR-Zeiten – was war das schon? ›Buna‹, ›Leuna‹, chemische Industrie, zerstörte Landschaft. Jeder konnte froh sein, dort nicht zu wohnen und auch nicht hinzumüssen. Merkwürdig nur, dass eine Studienfreundin, die aus Merseburg stammte, so ganz anders sprach. Wir andern glaubten es nicht recht. Das Einzige, was ebenfalls dagegen sprach, waren die Merseburger Zaubersprüche, von denen wir in der Schule gehört hatten, und die uns so seltsam berührten, fremd und doch anziehend, vielleicht gerade weil wir sie kaum verstanden. Aber das war uralt, in einer für uns unvorstellbar lange zurückliegenden, heidnischen Zeit, noch vor der Christianisierung. Von letzterer, die man allerdings zur Kenntnis nehmen musste, hielt man ja in der DDR nicht viel.
Zur Tagung ›Das Problem Beuys‹ am 15. und 16. Oktober in Düsseldorf
Am 15. und 16. Oktober 2021 fand in Düsseldorf im Haus der Universität am Schadowplatz die Tagung ›Das Problem Beuys‹ statt, in der Experten über strittige Fragen zu Werk und Wirken dieses Künstlers debattierten. Geladen waren u.a. der Filmemacher Andres Veiel, der Anthroposoph Walter Kugler, die Kunsthistoriker Benjamin Buchloh, Beat Wyss und Philip Ursprung, der Religionshistoriker Helmut Zander, der Theologe Alf Christophersen, der Künstler Albert Markert sowie der Autor Hans-Peter Riegel, der eine vierbändige Beuys-Biografie veröffentlicht hat. Über Live-Stream konnte ich die 12 Stunden des Symposiums mitverfolgen, was zu einer der spannendsten Online-Erfahrungen meines Lebens wurde. Ich kann hier nur Zusammenfassungen von Schwerpunkten geben sowie ein paar kritische Bemerkungen vor dem Hintergrund meiner eigenen langen Beschäftigung mit Joseph Beuys. Es ging auch um die Medienrezeption dieses Künstlers und um aktuelle Urheberrechtsfragen – aber am interessantesten waren die Themenfelder ›Der Hang zum Esoterischen‹ und ›Zum Rechtsideologischen‹. Die Kuratoren Eugen. Blume und Catherine Nichols hatten, wohl getrieben von vielen kritischen Stimmen zum Beuys-Jubiläumsjahr 2021, diese Tagung organisiert, um sich solchen Vorwürfen zu stellen. So fragte man nach Beuys’ Aktivitäten im Nationalsozialismus, seinen umstrittenen Äußerungen zu dieser Zeit, seinen häufigen Kontakten zu Männern mit NS-Vergangenheit und nach seinem Verhältnis zur Anthroposophie.
Zur Beuys-Rezeption in zwei anthroposophischen Zeitschriften
Ja, Joseph Beuys war tatsächlich im Goetheanum, wohl zweimal. Über seinen ersten Besuch im Jahre 1951 berichtet sein Studien- und Künstlerkollege Günther Mancke (1925–2020) im Gespräch mit Rudolf Bind, das 1994 im ›Goetheanum‹ – nun ist die Wochenschrift gemeint – wiedergegeben wurde. Auf diese bezieht sich auch der Titel des kürzlich erschienenen Buches ›Beuys im Goetheanum‹. Anlass ist ein Beuys-Symposium, das im Juni 2021 im Goetheanum hätte stattfinden sollen, wegen der Corona-Pandemie aber verschoben wurde und nun für den 12. bis 15. Mai 2022 angesetzt ist. Das Buch enthält alle in der Wochenschrift zwischen 1973 und 2021 erschienenen Texte über Beuys und gibt somit einen Einblick in die anthroposophische Beuys-Rezeption. Als ehemaliger Redakteur von die Drei, die wie ›Das Goetheanum‹ im Geburtsjahr von Beuys gegründet wurde, werde ich auch auf die Beuys-Rezeption in dieser Zeitschrift eingehen.
Seltsame Wege nimmt die Geschichte mancher Wörter. Die Vorstellungen, die heute allgemein mit bestimmten Wörtern einhergehen, unterscheiden sich oft enorm von den Vorstellungen und Referenzen, die ursprünglich oder in früheren Zeiten damit verbunden waren. Wald ist so ein Wort. Schwer und gewichtig, dunkel und nahezu gewaltig kommt es daher wie eine mächtige Woge, die über Land geht und an der Stelle, wo sie zur Ruhe kommt, einen Wald zurücklässt, der sich dann weiter ins Land hinein ausbreitet.
Zu Lambert Wiesing: ›Ich für mich. Phänomenologie des Selbstbewusstseins‹
Lambert Wiesing, Professor für Bildtheorie und Phänomenologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hat jüngst eine Monografie vorgelegt, die sich in fünf Kapiteln der Phänomenologie des Selbstbewusstseins widmet. Wiesing geht – wie er im Vorwort schreibt – davon aus, dass sich die »Wirklichkeit des Selbstbewusstseins […] weder erklären noch verstehen [lässt]. Sie ist – wie Goethe sagen würde – ein Urphänomen.« (S. 10) Entsprechend lautet sein Ziel, »das Urphänomen Selbstbewusstsein […], die selbst erlebte Wirklichkeit meines eigenen Selbstbewusstseins auf ihre Charakteristika hin anzuschauen. […] Ich beschreibe kein Ich, sondern ein Mich. In diesem Buch denke ich mich, mein Dasein, als erlebte Folge der Wirklichkeit meines Selbstbewusstseins.« (S. 10f.)
Zu Philip Kovce: ›Ich schaue in die Welt. Einsichten und Aussichten‹
Früher war alles besser. Vor allem war das Frühe das Beste. Danach konnte nur noch der Abstieg kommen. Früher musste er kommen. Als Tod, als Krise, als Epigonentum oder ständige Selbstreproduktion und als Manierismus. Heute liegt das Schlechte schon hinter uns, kaum dass wir zu schreiben beginnen. Peter Handke nannte es in einem Interview einmal »eine ungeheure Geläufigkeit«, gerade in der jüngeren Generation, die im Schreiben heute da sei, »einerseits erfreulich, andererseits fragwürdig«1. Auch deshalb hatte ich zunächst nicht so recht Lust, ein Buch zu rezensieren, das kein richtig neues war, sozusagen keine Schöpfung aus dem Nichts, sondern eine Schöpfung aus dem ›Goetheanum‹, genauer gesagt dem Verlag am Goetheanum, und alle diese Texte waren zudem als Kolumnen in der gleichnamigen Dornacher Wochenschrift erschienen.
Über ›Falling‹ von Viggo Mortensen und ›Ich bin dein Mensch‹ von Maria Schrader
Erstaunlich im Grunde, dass es diese Einrichtung immer noch gibt: Wildfremde Menschen begeben sich körperlich zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort, um dort gemeinsam einen Film zu sehen. Das schon so oft totgesagte Kino ist offenbar nicht umzubringen. Kino als Erlebnisgemeinschaft verschafft einen Eindruck von der Intimität des Öffentlichen. Astrale Wogen und Welten, ein Fühlen, das nicht individuell von innen, sondern äußerlich ausgelöst, technisch aus der Peripherie über die Zuschauer kommt – das ist ein interessantes Studienfeld. Ist man sich dessen bewusst, wie der Zuschauerorganismus als Klaviatur oder Instrument bespielt wird, lässt sich umso leichter einsehen, was den Zeitgeist gerade bewegt.
Ein Theaterprojekt über die Corona-Pandemie
Am Jagdschloss Grunewald in Berlin, vor der Kulisse des Grunewaldsees und der immer dunkler werdenden Silhouette des Waldes sitzen wir, die Theaterzuschauer. Nur das Rauschen der nahen Autobahn stört die Idylle. Die Bühne, so scheint es, ragt in den See hinein. Ein offener Ort. ›Offen lag die Welt – oder: Wir klatschen unsere Laptops an die Wand und gehen spielen‹ heißt denn auch der Titel des Stücks, das da von dem deutsch-syrischen Theaterkollektiv ›syn:format‹ gespielt wird.
Sir Walter Scott (1771–1832) zum 250. Geburtstag
Durch Selma Lagerlöf erfuhr ich zum ersten Mal von Walter Scott in dem Sinne, dass man ihn kennen muss: ›Ivanhoe‹ hatte sie zuerst bezaubert. Im Bücherschrank ihres Onkels fand sie Scotts Werke. Von Scott wurden Edward Bulwer-Lytton, George Eliot, Victor Hugo, Wilhelm Hauff und Theodor Fontane inspiriert. Goethe war von ›Waverley‹ begeistert. Als wir eine Schottland-Reise planten, las ich zuvor ›Ivanhoe‹ und ›Waverley‹. Im Übrigen spielte auch Theodor Fontane mit herein: durch die Fontane-Ausstellung 2019 in Potsdam und sein Buch ›Jenseit des Tweed‹ (1860), in dem er seine Schottlandreise von 1858 beschrieb. »Nach Schottland also!«3 Mit diesen Worten beginnt das Buch. Wir waren somit neben Scotts auch auf Fontanes Spuren.
Zur Ausstellung ›Die Welt der Himmelsscheibe von Nebra – Neue Horizonte‹ im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle a.d. Saale
Das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle a.d. Saale und das British Museum in London haben in enger Kooperation eine spektakuläre Ausstellung mit rund 400 kostbaren Artefakten und Leihgaben aus 15 Ländern zusammengetragen. Die zum Teil erstmals in Deutschland ausgestellten Objekte beleuchten mit der Zeit von etwa 2500 v. Chr. bis 1000 v.Chr. das Ende der Stein- und den Großteil der Bronzezeit – eine noch kaum bekannte Epoche der Menschheitsgeschichte. Die Ausstellung präsentiert 20 Jahre neuer Forschungsergebnisse rund um die Himmelsscheibe von Nebra (um 1750 v.Chr.) und zeigt ein Netzwerk vielfältiger Einflüsse und Zusammenhänge im gesamteuropäischen Raum auf, bis nach Ägypten und Mesopotamien. Und sie stellt die Frage nach staatlichen Strukturten im schriftlosen (!) Mitteldeutschland zur Zeit der Himmelsscheibe.
Joseph Beuys als Raumkurator in der Stuttgarter Staatsgalerie
Voller Erwartung betrete ich den Beuys-Raum im Stirling-Bau der Staatsgalerie in Stuttgart. Mein Blick fällt als erstes auf die Gebilde aus sprödem Gips und massigem Wachs, die dort herumliegen, und auf die durch den Raum schwingende Filzrolle – als Teile des ›dernier espace avec introspecteur‹ (Letzter Raum mit Introspecteur, 1964-1982). Von der Installation ›Plastischer Fuß Elastischer Fuß‹ (1969-1986) ragen nur vier auf dem Boden liegende Stahlplatten von links her in den Raum, auf denen drei große Autobatterien und eine Luftpumpe in einer Linie aufgereiht stehen. Die zwei großen Matten an der linken Wand fallen nicht gleich ins Auge. Erst recht nicht die beiden kleinen Plastiken, die Joseph Beuys zu beiden Seiten des Eingangs installiert hat: rechts auf einem Sockel die ›Kreuzigung‹ (1962/63) aus ärmlichen Materialien, linker Hand in einem in die Wand eingelassenen Kasten der goldene ›Friedenshase‹ (1982) samt Sonnenkugel, die aus den auf dem schmalen Boden des Safes drapierten Preziosen herausragen. Diese beiden Objekte, die kaum unterschiedlicher sein könnten, setzen das Thema dieses 1984 von Joseph Beuys eingerichteten Raumes: Polarität, die im Menschen ihre Steigerung erfährt.
Zum Tode von Heinz Georg Häussler (1939–2021)
Am 5. Juli 2021 verstarb in Weimar mein geschätzter Freund und Lehrer, der Bildhauer Heinz Georg Häussler. 1939 in Göppingen geboren, stammte er aus einfachen Verhältnissen und studierte an der Kunstakademie in Stuttgart Bildhauerei. In seinem universal angelegten Denken spielte die Anthroposophie von jeher eine große Rolle. Zunächst verdingte er sich als Kunst- und Werklehrer. 1973 begründete er, zusammen mit anderen Künstlern, die Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. Die Vision der Pioniere: die Errichtung einer Hochschule, in der die Kunst für die höchste Vollendung des Menschseins steht, und die das Gespräch der Künste dergestalt befruchtet, dass in diesem der ganze Mensch im Mittelpunkt steht.
Muximiches ist ein Wort, das es nicht gibt. Ich habe es einmal aufgeschrieben und später vergeblich in den Wörterbüchern danach gesucht. Auch Googles große Suchmaschine wusste nicht weiter: »Es wurden keine mit deiner Suchanfrage übereinstimmenden Dokumente gefunden.« Ich habe das Wort wohl geträumt. Es scheint aus einer Sphäre zu stammen, wo die Wörter entstehen. Ein Kindersprachgelände und Sprachkindergelände, wo die Wörter noch frei umherlaufen und die Bedeutungen nur lose an ihnen haften, ein Land, wo die Begriffe noch beweglich sind. Muximiches. Das Wort schien nicht arretiert von einer verbindlichen Bedeutung, war noch offen für dies und das und also kaum lexikontauglich.
Zum Tod von Friederike Mayröcker (* 20. Dezember 1924; † 4. Juni 2021)
Ein Nachruf für Friederike Mayröcker kann nicht anders als kunterbunt verzettelt sein. So lebte sie, die Wiener Dichterin, die am 4. Juni 2021 mit 96 Jahren gestorben ist. Jahrzehntelang lebte sie mit ihrem Lebens- und Kunstgefährten Ernst Jandl (1925–2000) im selben Haus, aber nicht in derselben Wohnung. Das wäre unmöglich gewesen, denn beider Lebensraum war buchstäblich die Sprache – durchaus bis ins Leibliche zu verstehen.