Der wissenschaftliche Weg zum geistigen Schauen. Zur Rehabilitierung von Herbert Witzenmann
Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie bewegt viele Gemüter im Zusammenhang mit dem Professoren-Trio Hartmut Traub, Helmut Zander und Christian Clement. Diese kleiden ihre Arbeiten in einen traditionellen, weil materialistisch verstandenen Wissenschaftsbegriff, der ihnen den wirklichen Ausblick zum Selbstverständnis der Geisteswissenschaft versperrt. Hier sei u. a. dazu ein kurzer Abriss der Arbeit von Herbert Witzenmann vorgestellt, der in seinen geisteswissenschaftlichen Forschungen Rudolf Steiner nicht nur interpretiert, sondern dessen methodologischen Leistungen verfeinert, vertieft und um wesentliche Beiträge ergänzt hat.
Elisabeth Vreede und die Verbindung der Sternenwelt mit dem Sonnenwesen der Philosophie
Anthroposophie ermöglicht, hinter vielen Rätseln, welche die Menschheit in ihrem Umgang mit der Natur und mit sich selbst bewegen, die mehr oder weniger bewusste Frage nach einem wirklichkeitsgemäßen Verhältnis zum Christus zu entdecken. Eine befriedigende Antwort kann dafür nur in der geistigen Verbindung des realen Menschenlebens mit dem fortwirkenden Zentralereignis der kosmisch-irdischen Evolution und der Menschheitsgeschichte, d.h. mit Leben, Tod und Auferstehung Christi als einer »mystischen Tatsache« gefunden werden. Für Elisabeth Vreede war das die wichtigste Grundlage für die methodische Erneuerung aller Wissenschaften, insbesondere auch für Astronomie und Kosmologie. In Anknüpfung an den im Dezemberheft dieser Zeitschrift erschienenen Artikel soll dies an einem konkreten Beispiel erläutert werden.
Die Erneuerung des sozialen Lebens durch die Verwandlung der Seelenkräfte
Das soziale Beziehungsgefüge wird maßgeblich von der Form der Begegnung geprägt, die den Menschen aufgrund der Beschaffenheit ihres Seelenlebens möglich ist. In der Vergangenheit fand dieses Seelenleben Halt in äußeren Formen des sozialen Lebens. Diese tragen immer weniger. Das Seelenleben der Menschen steht dadurch schutzlos den äußeren und inneren Einflüssen gegenüber. Neue, tragfähige Formen können nicht einfach von außen eingeführt werden. Sie müssen sich in sozialen Prozessen herausbilden. Der Artikel beschreibt, welche Hindernisse dabei im Alltag zu überwinden sind und welche Entwicklungshilfen aus der Geisteswissenschaft in Anspruch genommen werden können. Im Arbeitsalltag kann der Umgang mit den 12 Monatstugenden eine besondere Hilfe für die Selbsterziehung werden.
Anmerkungen zu einem Deutungsproblem
Rudolf Steiners durchaus ambivalente Haltung gegenüber Ernst Haeckel und dessen Monismus spielte in der steinerkritischen Literatur seit jeher eine große Rolle. Schon zu seinen Lebzeiten wurde Steiner vorgeworfen, er habe durch zahlreiche Textänderungen in den Neuauflagen seiner Schriften seine ideologische Kehrtwende vom monistischen Materialisten zum dualistischen Esoteriker nachträglich verschleiern wollen. Vertreter des ›Deutschen Monistenbundes‹ (DMB) glaubten gar beweisen zu können, dass sein Beitritt zur Theosophischen Gesellschaft nur aus einer finanziellen Notlage heraus erfolgt sei. Der folgende Aufsatz möchte einige noch immer kursierende Falschbehauptungen richtigstellen. Wenn der Haeckel- und Steinerbiograph Johannes Hemleben feststellt: »Haeckel hat sich [die] Schützenhilfe Steiners gerne gefallen lassen, bis er erfuhr, daß derselbe ›Theosoph geworden‹ sei (1902)«, so ist das korrekturbedürftig. Das vermeintliche Haeckelzitat (»Theosoph geworden«) ist eine Erfindung des Haeckelschülers Heinrich Schmidt, und die Datierung von Haeckels »Rückzug« muss bezweifelt werden, gehörte doch Steiner noch 1903 zu den Empfängern eines Widmungsexemplars der Volksausgabe von Haeckels ›Die Welträtsel‹.
In einem kürzlich erschienenen Artikel ging es darum, zu zeigen, wie eine Meditation aussehen kann, deren Grundlage darin besteht, einen Gedanken in einer Anzahl von seelisch-geistigen Entwicklungsschritten aufzubauen und zu durchleben, und die dann in den Meditationssatz mündet: »Ich fühle mich denkend eins mit dem Strom des Weltgeschehens.« Deutlich konnte daran werden, und kann jedem werden, der das erste Kapitel in Rudolf Steiners ›Die Schwelle der geistigen Welt‹ in entsprechender Art und Weise meditativ vertieft, wie die Seele mit dem Denken, dem Vertrauen zu dem Denken und mit dem Gefühls,- Affekt,- und Willensleben Erfahrungen macht, die an Intensität und Vielfalt dem gleichkommen oder sogar das übertreffen, was sonst nur durch die Außenwelt auf sie zukommt.
Ein Beitrag zum Verhältnis zwischen den Religionen
In diesem Beitrag wird versucht, die Aktualität, die Brisanz und das Potenzial eines Begriffs zumindest anfänglich herauszuarbeiten, der hinsichtlich unserer Urteilsbildung eine beträchtliche Relevanz beansprucht: das Wahrheitsgefühl. Der Begriff kommt nicht allzu häufig und dezidiert im Werk Rudolf Steiners vor, und doch war dieser sich bewusst, dass die Rezeption der Anthroposophie auf ein »gesundes Wahrheitsgefühl« bzw. auf rückhaltloses, freies Wahrheitsgefühl« angewiesen sein würde und dass sie letztlich darauf setzt.
Vom Vatergöttlichen zum Ich
Man kann das Vaterunser unter dem Gesichtspunkt betrachten, wie sich die Menschheit darin findet – die alte Menschheit und die neue. Beim Beten des Vaterunsers kann man einen Weg erleben, der mit einem großen kosmischen Teil beginnt, sich dann verinnerlicht, zur eigenen Mitte führt und im letzten Teil, der Doxologie, einen Aufschwung herbeiführen kann. Die Autorin hat sich immer wieder gefragt, was es mit den drei Teilen des Gebets auf sich hat. Im Folgenden entwickelt sie dazu einige Gesichtspunkte.
und die Finanzierung der freien geistigen Arbeit (16b)
Die Leistungen, die ein freies Geistesleben der Gesellschaft erbringen kann, werden systematisch unterschätzt. Ein Kernanliegen Rudolf Steiners war, für ein Verständnis dieser freien Geistestätigkeit so zu werben, dass auch eine sachgemäße Finanzierung derselben möglich wird. Der vorliegende Beitrag skizziert, wie Rudolf Steiner seine Gedanken zur Sozialen Frage zwischen 1904 und 1922 fortentwickelte. Der 13. Vortrag des Nationalökonomischen Kurses verdeutlicht, dass dem Geistesleben die Arbeit an der Natur erspart werden muss, wenn es fruchtbar sein soll. Das rein dem irdischen Leben zugewandte Geistesleben erzwingt diese Ersparnis in einer Form, die zu Not und Elend führt.
Die Bilanzierung von materieller und geistiger Produktion im Wirtschaftsorganismus
Das größte Rätsel des Nationalökonomischen Kurses ist wie der Gedanke der Geldalterung zu verstehen und umzusetzen ist In diesem - die Serie zum Nationalökonomischen Kurs1 vorläufig abschließenden - Beitrag wird gezeigt dass »abgelaufenes Geld« nicht der Zirkulation entzogen werden darf. Es muss notwendigerweise weiterhin umlaufen, wenn der Bereich der geistigen Tätigkeiten richtig finanziert und das Kaufgeld- und Schenkgeldgebiet in einem vernünftigen Gleichgewicht gehalten werden sollen.
Die Artikelserie kann als Printausgabe oder Pdf-Datei hier bezogen werden:
1. Teil
2. Teil
Grundlegendes zur Waldorfpädagogik
Die Waldorfpädagogik kann nicht ohne Anthroposophie sein. Denn ihr Herzstück, die Menschenkunde, bleibt unverständlich und muss deshalb letztlich verkümmern, wenn die kindliche und jugendliche Entwicklung nicht vor spirituellem Hintergrund verstanden wird. Hier sollen zwei der wichtigsten geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte, die zugleich reale Entwicklungsrichtungen bedeuten, kurz skizziert werden.
Lebensbedingungen der Menschenwürde – I. Teil
»Würde des Menschen - Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. / Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.«1 Dieses Epigramm stammt nicht von Bertolt Brecht, sondern von Friedrich Schiller. Schiller hatte am eigenen Leibe erfahren, nie unwürdig es sein kann, sich das tägliche Brot nur mit Not verdienen zu können. Der Autor und Geschichtsprofessor tat alles, Frau und Kind zu ernähren, und erkrankte dabei lebensgefährlich. Zum Glück gewährten dänische Gönner dem wiedergenesenden Dichter ein großzügiges Stipendium, das ihm die Möglichkeit gab, sich ohne Hunger drei Jahre dem Kantstudium und der Ästhetik zu widmen. Zum Dank und als reife Frucht dieser Jahre schrieb er die -Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen-. Dass sich die Würde nicht von selbst ergibt, wenn durch das Stillen der täglichen Bedürfnisse des Menschen seine Blöße bedeckt ist, wusste auch Schiller. Die Proklamation der Menschenrechte durch die Französische Revolution begeisterte ihn. Als dieselbe Revolution mit den Menschen die Würde enthauptete, war er enttäuscht.
Das Wesen des leibfreien Bewusstseins und einige Kriterien zu seiner Erkenntnis
In letzter Zeit gab es mehrfach Anlass, sich mit dem Thema des leibfreien, übersinnlichen Erkennens auseinanderzusetzen. Eine der Fragen, die dabei entstehen, ist: Führt das, was in diversen anthroposophischen Seminaren als Meditationsübungen praktiziert wird, zu übersinnlichen Erkenntnissen eines leibfreien Bewusstseins, oder handelt es sich lediglich um verfeinerte Sinneserfahrungen? Sind beispielsweise die inneren Bewegungseindrücke und Erlebnisse, die man an der Beobachtung von sprießenden oder welkenden Pflanzen bekommen kann, übersinnlich, oder sind es in das Bewusstsein hinaufgeholte und ästhetisch verfeinerte Eindrücke der »unteren« Sinne, des Tast-, Lebens-, Bewegungs- und Gleichgewichtssinnes?
Medizin, Psychologie und Psychiatrie
Menschliches Kranksein kann sich nach zwei Richtungen hin äußern: nach der Richtung des Leibes und nach der Richtung der Seele. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass körperliche Erkrankungen mit Änderungen des Empfindens und seelischen Erlebens einhergehen, und umgekehrt seelische Erkrankungen eine Grundlage in körperlichen Prozessen haben. Das ist immer weniger beachtet worden, seit sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts an die Felder der körperlichen und der seelischen Krankheiten auseinanderentwickelten. Gegenwärtig stehen die somatischen Fachdisziplinen und die Psychiatrie weitgehend unvermittelt nebeneinander.
Aristoteles war der erste Denker, der das Herz naturwissenschaftlich erforschte. Allerdings konnte er dieses noch als einen Mittler zwischen übersinnlicher und irdischer Welt begreifen. Die moderne Naturwissenschaft hingegen schaut das Herz rein unter äußeren Gesichtspunkten an. Ein zentrales Anliegen von Joseph Beuys war es, Kunst und Naturwissenschaft zu verbinden. Der vorliegende Beitrag zeigt, wie er in dieser Intention an den Herzbegriff des Aristoteles anknüpfte.
oder: Zurück in die Zukunft
Im Gegensatz zur erfolgreichen Science Fiction-Filmtrilogie ›Back to the Future‹, in der ein Akteur die Vergangenheit zu seinen Gunsten verändern will, haben wir keinen Anlass, eine Zeitreise zu unternehmen, um die hundert Jahre alten Ausführungen und Anregungen Rudolf Steiners aus der Gründungszeit der Waldorfpädagogik zu verändern. Im Gegenteil: Er hat damals zukunftsträchtige Hinweise gegeben, die gegenwärtig in eine neue Diskussionsrunde einmünden.
Der Grundsteinspruch in der Entwicklung des jungen Menschen
Die Grundstein-Meditation Rudolf Steiners besteht aus vier Teilen. Die ersten drei entfalten ein rhythmisch gegliedertes Bild der Menschenseele in ihrem Verwobensein mit Leib und Geist, mit irdischer Menschenwelt und geistigem Kosmos. Aus diesem geistig strahlenden Bild ertönt eine zu höchster Differenzierung entwickelte und in höchster Vereinfachung zusammengefasste Weisheit, die zunächst fast kristallin-unzugänglich erscheint, doch schon nach anfänglicher meditativer Beschäftigung beginnt, inneres Leben zu entfalten und Seele zu atmen. Der vierte Teil – im Duktus ganz anders als die ersten drei – erzählt wie ein Ur-Märchen mit einfachsten Worten den historischen wie innerlichen Weg des Welten-Geistes-Lichtes in das Innere des Menschen hinein, zum Ziel der Verwirklichung des Guten.
Offenbarung und Auserwählung im jüdischen Selbstverständnis – I. Teil
»Das auserwählte Volk« – die Formulierung irritiert. Das ist verständlich. Wie und warum sollte einem bestimmten Volk ein Sonderstatus unter allen anderen Völkern zustehen? Bezieht sich nicht ein Begriff wie »Auserwählung« – sofern er überhaupt brauchbar und nicht abgelebter religiöser Aberglaube ist – bestenfalls auf Individuen, keineswegs auf ein Kollektiv? Sind nicht alle Menschen, wenn schon nicht »auserwählt«, so doch zumindest »berufen«? Und ist nicht, im christlichen Verständnis – und auch im islamischen – die Gottesgefolgschaft prinzipiell von jedem Volkszusammenhang längst losgelöst?
Die Umwandlung des Bewusstseins
Die illusionäre Welt der Wohlstandsgesellschaft zerbricht gerade vor unseren Augen. Corona-Krise, Umweltkrise, Bildungskrise, Wirtschaftskrise ... Die Auswahl ist groß. Was geschieht da mit uns? Hat das alles eine Bedeutung? Ich behaupte: Ja. Das eigentliche Geschehen ist, dass die Umwandlung des menschlichen Bewusstseins durch innere Arbeit schon längst fällig ist, wir uns aber mit allem anderen beschäftigen, nur damit nicht.
Zum Pangermanismus-Vorwurf gegen Rudolf Steiner
Wer sich heute zu gewissen, von Rudolf Steiner verwendeten Begriffen wie »Mitteleuropa«, »deutscher Geist« oder »Volksseele « anders als kritisch verhält, gerät schnell in den Verdacht, mit völkischen oder rechtspopulistischen Kreisen zu sympathisieren. Zu den unermüdlichen Fahndern nach solchen – heutzutage mehr oder weniger obsoleten – Begriffen gehören die Wortführer der sogenannten Skeptikerbewegung, deren Ursprung und Methoden Georg Soldner 2019 treffend darstellte. Die »Skeptiker« berufen sich dabei auf Wissenschaftler wie Helmut Zander, der Steiner als überzeugten Nationalisten bezeichnet, weil er das deutsche Vorgehen im Ersten Weltkrieg verteidigt habe, oderden US-Historiker Peter Staudenmaier, der behauptet, schon der junge Steiner habe eine »pan-German nationalist period« in Verbindung mit Antisemitismus durchgemacht. Der gegen Steiner erhobene Pangermanismus-Vorwurf ist indes nicht neu. Er wurde schon vor und während des Ersten Weltkriegs von englischen, belgischen und französischen Theosophen gegen Steiner und seine Anhänger erhoben. Die damals verbreiteten Anschuldigungen waren de facto ein Verschwörungsmythos, der besagte: Rudolf Steiner und seine Anhänger hätten beabsichtigt, die Theosophische Gesellschaft unter ihre Kontrolle zu bringen und im Sinne einer deutschen Weltherrschaft zu instrumentalisieren. Davon soll im Folgenden die Rede sein.
Vor gut 60 Jahren verließ mein Vater Ibrahim Abouleish Ägypten, um in Europa zu studieren. Er verließ ein Land, in dem 18 Millionen Menschen lebten, gute Bildung genossen und in dem es ein florierendes kulturelles Leben gab. Als er Ende der 1970er Jahre zurückkehrte, war in Ägypten von all dem kaum noch etwas zu spüren. Die Bevölkerung hatte sich beinahe verdoppelt. Die Wirtschaft und das soziale System kamen nicht mehr hinterher. Heutzutage sieht es noch schwieriger aus. Die gegenwärtige Situation Ägyptens erscheint auf den ersten Blick deprimierend und wenig hoffnungsvoll. Angefangen bei der stark bedrohten Umwelt, über die wirtschaftliche Abhängigkeit und politische Instabilität bis hin zum mangelhaften Bildungssystem und dem kaum zu findenden Raum für Geistesleben – Ägypten scheint in allen Bereichen ausgetrocknet wie die Wüste selber.
Der »Ausbruch« des Virus als »Einbruch« in unser Bewusstsein
Wenn mir jemand zum Jahreswechsel 2019/20 gesagt hätte, dass in wenigen Wochen die Regierungen weltweit Kontaktsperren ausrufen würden, dass man Ländergrenzen, Schulen, Läden, Restaurants, Büros, Betriebe und Klubs schließen würde, und dass sich über die Medien eine täglich erneuerte Flut von Angst über die Menschen ergießen würde – wegen eines Virus, der Krankheit und Tod bringen soll, millionenfach; wenn mir jemand gesagt hätte, dass jedes Hinterfragen des Virus-Geschehens ignoriert oder als .Verschwörungstheorie. gebrandmarkt werden würde; wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich hier in Deutschland eigenartig vermummten Gestalten begegnen würde, die einander auf der Straße ausweichen und auf Abstand bleiben; wenn mir jemand gesagt hätte, dass von der Politik isolierte Alte vor Einsamkeit den Selbstmord wählen würden, so wie jene, die sich aus Angst vor der Krankheit umbringen; wenn mir dies jemand gesagt hätte: Ich hätte es ihm nicht geglaubt. Ich hätte ihn wegen seiner wilden, abstrusen Phantasie verlacht und keine Minute über seine Prophezeiung nachgedacht.
Westliche Spiritualität und die Sinneswelt
Es wird berichtet, dass der Hl. Columban von Iona (521-597) immer wieder Orte in der Natur aufsuchte, wo er sich in Einklang mit Gott bringen konnte. Der Kontakt zu sich selbst und zu spirituellen Quellen wurde im frühen irisch-keltischen Christentum gerne im Freien, draussen in der Natur gesucht. Auch in der ›Vita Columbani‹, der Biografie Columbans des Jüngeren (Columban von Luxeuil, 540-615) oder in der Biografie des Hl. Gallus (550-640) heisst es, dass sich die iro-schottischen Mönche öfters für längere Zeiten in HoÅNhlen oder Wald-Einöden zurückzogen, um dort Kraft zu sammeln, sich und Gott in der Meditation zu finden und erneut inneren Anschluss an ihre Mission zu erfahren. Schon vor der Strömung des iro-schottischen Christentums im 5. bis 8. Jahrhundert, in der druidischen Kultur der Kelten, war diese Haltung selbstverständlich, aber noch weniger an Innerlichkeit gebunden. Der Geist war draussen in der Natur, in den Elementen gegenwärtig und wurde auch dort in den druidischen Gottesdiensten verehrt.
Der Einfluss anthroposophischer Ideen auf das Triptychon von Wassilij Watagin: ›Die Evolution der Weltanschauungen‹
Wassilij Alexejewitsch Watagin (1884–1969) ist in erster Linie als Begründer der zeitgenössischen russischen Tiermalerei bekannt. Das künstlerische Erbe des Meisters ist sehr vielfältig: Er war als Bildhauer, Grafiker und Maler tätig, schuf Illustrationen zu Büchern und monumentale Skulpturen. Zu Recht gilt er als einer der Mitbegründer des Staatlichen Darwin-Museums (Gosudarstwennyj Darwinowskij musej = GDM), wo er 45 Jahre lang arbeitete – von 1908 bis 1953. Mit dem ersten Direktor des Museums, Alexander Fjodorowitsch Kohts (1880–1964), war er seit der Schulzeit im Gymnasium bekannt. Aus dieser Bekanntschaft der Kinderzeit erwuchsen eine langjährige Freundschaft und Jahre fruchtbarer Zusammenarbeit, dank derer eine einzigartige Kollektion von Kunstwerken geschaffen wurde. Aktuell bewahrt der Fond des GDM 158 Skulpturen, 372 Gemälde und 136 Grafiken von Watagin. Das Darwin-Museum verfügt also über eine stattliche Sammlung der Werke des Meisters. Neben den Tierdarstellungen Watagins befindet sich in der Kollektion ein Triptychon mit dem Titel ›Die Evolution der Weltanschauungen‹, das aus der naturwissenschaftlichen Ausrichtung des übrigen Werks herausfällt.
Zum trinitarischen Wesen des Ich
Die erste explizite, bisher nie angemessen betrachtete Vertiefung des Verständnisses der Trinität durch Rudolf Steiner erfolgte schon in den ersten Jahren seiner Tätigkeit innerhalb der Theosophischen Gesellschaft. Bereits 1903 bis 1905 finden wir, sowohl in Niederschriften als auch in Aufzeichnungen aus Vorträgen und privaten Lehrstunden zahlreiche Hinweise und Erläuterungen zu der Trinität »Bewusstsein/Vater – Leben/Sohn – Form/Heiliger Geist«. Der Vater ist hier das aus dem Nichts schaffende, noch unmanifestierte, seiner selbst bewusste All(Welt)bewusstsein. Er ist, anders ausgedrückt, das Übersein, der schöpferische Ungrund,6 aus dem die Welt ohne Warum – weil ein Warum Zwang bedeuten würde –, durch eine freie Opfertat entsteht. Er ist »in sich ruhend, da und nicht da, über dem Sein, niemals wahrnehmbar [...], das absolut Verborgene, Okkulte [...], weil über alle Offenbarung erhaben«. Der Vater ist, in anderen Worten, der Offenbarer9 – gleichsam das absolute Selbst/Ich in jeder Offenbarung –, die »in sichselbst leuchtende Unendlichkeit« vor jeder »Differenzierung und Individualisierung«.
Anmerkungen zur ›Straßenbahnhaltestelle‹
Die Menschheit wandert. Ihre Vorhut geht einem spirituellen Zeitalter entgegen. Hinter ihr liegt eine lange Epoche des Schweigens der geistigen Welt. In der oft entsagungsvollen Stille konnte das freie Selbstbewusstsein des Individuums heranreifen. Die allgemeinen Menschenrechte wurden schließlich proklamiert, aber sie sind längst nicht weltweit etabliert, geschweige denn gesichert und deshalb überall bedroht. Tatsächlich ist gegenwärtig das ganze Leben des Planeten und der Menschheit gefährdet. Eine Bewältigung dieser Gefahr kann von einem Erwachen zur nächsten an die Sinneswelt angrenzenden übersinnlichen Welt erhofft werden – doch das wird keinesfalls einfach sein.Mit neunzig Jahren hat der Sozialphilosoph Jürgen Habermas unlängst ein über anderthalbtausendseitiges zweites Hauptwerk veröffentlicht. Es behandelt das Verhältnis von Glauben und Wissen und repräsentiert das erwachte Selbstbewusstsein des Individuums. In jener Epoche, in der dieses Bewusstsein stark geworden ist, klaffte der Graben zwischen Glauben und Wissen immer weiter auseinander. Künftig wird er dadurch überwunden werden, dass anstelle des Glaubens zunehmend die spirituelleErfahrung treten wird. Die Geisteswissenschaft hat dazu die Grundlage geschaffen. Aber die Übergangszeit wird lange währen. Was Habermas immer noch in der Philosophie ist, war seinerzeit der acht Jahre ältere Beuys in der Kunst: Ein weltweit wirkender gebürtiger Deutscher. Beide stehen für die Aufgabe, jenes Denken und Tun voranzubringen, das einen Übergang zur nächsten Menschheits-Epoche in Freiheit ermöglicht.
Von der Wirklichkeit der Freiheit im therapeutischen Tun
»Psychotherapie der Freiheit« – diese Formulierung lässt den Titel eines Grundwerkes Rudolf Steiners, ›Die Philosophie der Freiheit‹, anklingen. Es ist die Beschreibung eines gedanklichen Weges, wie der Mensch sich in seiner Fähigkeit zur Freiheit erkennen und diese Fähigkeit handelnd verwirklichen kann. Im Folgenden beschreibe ich, welche konkrete Bedeutung in meinem Beruf als Psychotherapeut die Suche nach einem Handeln aus frei geschöpften Intuitionen hat. Ich beziehe mich zum einen auf meine spezifischen Erfahrungen in der therapeutischen Tätigkeit. Zum anderen befrage ich diese auf dem Hintergrund einzelner essenzieller Erkenntnisse der ›Philosophie der Freiheit‹. Manche meiner Gedanken lassen sich wahrscheinlich gut auf andere medizinisch-therapeutische sowie auf heil- und sozialpädagogische Berufsfelder übertragen.
Rekonstruktion und Reflexion von Hannah Arendts Machtbegriff
Erschließung und Popularisierung von Hannah Arendts Lebenswerk gehen seit Jahren Hand in Hand: 2020 widmet ihr das Deutsche Historische Museum in Berlin die Ausstellung ›Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert‹; 2018 avanciert ihr posthum veröffentlichter Essay ›Die Freiheit, frei zu sein‹ zum Bestseller, außerdem erscheint der erste von bisher drei und insgesamt 17 geplanten Bänden der ›Kritischen Gesamtausgabe‹; 2012 macht Margarethe von Trottas Spielfilm ›Hannah Arendt‹ sie einem Millionenpublikum bekannt. Im Folgenden wird mit dem Machtbegriff ein zentraler Topos des Arendt’schen – und abendländischen – Denkens erhellt und angedeutet, dass Arendts Machtverständnis Teil einer Freiheitsphilosophie ist, deren Radikalität Rudolf Steiners ›Philosophie der Freiheit‹ in nichts nachsteht.