Kleine Auferstehung mit Krähen
Seit wie vielen Tagen – oder sind es schon Wochen – rüttelt jetzt der Sturm am Haus? Alles klappert, von den Ziegeln bis zu den Läden. Wie Atemstöße zieht es durch die undichten Stellen, weht eiskalt in meinen Nacken. Draußen ächzt es. Es stöhnt, brüllt, wimmert, seufzt. Tobende Luftmassen. Es ist die Stimme der Erde. Allmählich fühle ich mich wie in Albert Camus’ Roman ›Der Fremde‹. Was ich vorher nie verstanden habe, wie der Wind als Naturkraft einen Menschen so um seine Fassung bringen soll, dass er einen Mord begeht, wird mir jetzt nachvollziehbar. Es ist Groll in diesen Böen und Bosheit in der Luft.
Wladimir Putin und sein Krieg
Ich hatte Wladimir Putins Invasion der Ukraine befürchtet und erwartet; doch als sie am 24. Februar 2022 in der Morgenfrühe tatsächlich begann, war ich, wie wohl die meisten meiner Zeitgenossen, zutiefst schockiert; weil das, was nicht geschehen durfte, eben doch geschah – und ich meine tiefe Ohnmacht spürte. Schon am Vortag hatte die ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ ein Prosa-Gedicht (sozusagen ein ›Gedicht in Prosa‹ à la Turgeniew) von Uwe Kolbe veröffentlicht. Ich zitiere die ersten fünf Zeilen (wobei die erste Zeile auch die Überschrift ist): »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen. / Der ehemalige Sowjetrepubliken beherrschende / vermutlich ehemalige Geheimdienstoffizier tut es / erneut: Angrenzende Gebiete werden angrenzende / Staaten, werden anerkannt, besetzt, einverleibt.«3 Dazu kontrastierend schildert Kolbe Reminiszenzen des inneren, kultivierten, »eigentlichen« Russland und endet wieder mit: »Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen.« Mit der Anfangszeile wird der Bogen zurück zu einem anderen, allgemein bekannten Ereignis geschlagen; denn vor 83 Jahren (das ist genau meine Lebenszeit!), verkündete Adolf Hitler mit diesen Worten, dieser Lüge den Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Anmerkungen zu finsteren Zeiten
Jetzt, da ein Krieg Europa erschüttert und dessen Ausweitung bis hin zum Einsatz von Atomwaffen droht, kann es nicht ausbleiben, dass die täglichen Verrichtungen und Gedanken von sehr grundsätzlichen Fragen bedrängt werden. Wenn mein Blick bei einem Gang nach draußen auf die Birken und Kiefern geht und bei dem sich zwischen den Stämmen und dem Heidelbeerkraut entrollenden Farn hängenbleibt, dann ein paar Schritte weiter bei den Brennnesseln verweilt, die sich am Waldrand zusammenrotten, wenn ich mich später auf der Wiese von den ersten Faltern und Libellen mitnehmen lasse oder, ohne mich zu rühren, der Drossel nachschaue, die über die Gräser hüpft, sooft also meine Aufmerksamkeit von Lebewesen angezogen wird, die von der Welt und den Tagesereignissen naturgemäß und ohne dass sie darüber informiert werden könnten, nichts wissen - wird sie von der Frage durchkreuzt, ob ich mich solchen Bildern seelenruhig hingeben kann, ohne nicht zugleich Vorgänge zu verdrängen, die Grund genug geben, sich Sorgen zu machen. Ob nicht Natur eine Zuflucht bietet, die zur Ausflucht und zum Alibi wird, inmitten von Ohnmacht und Ratlosigkeit, die sich angesichts der Weltereignisse ausbreiten.
Betrachtungen zur Vorgeschichte des Ukrainekriegs und zur Frage der Urteilsfähigkeit gegenüber Zeitereignissen
Jeder vernünftige Mensch würde sich wünschen, der Krieg in der Ukraine sei bald vorbei (oder hätte besser gar nicht erst begonnen). Allerdings wurden, um diesem Ziel nahezukommen, schnell auch wenig vernünftige Ideen entwickelt und Maßnahmen eingeleitet, z.B. die Verstärkung der bisher nur bedingt wirksamen Sanktionen, Aufrufe zum Mord an Wladimir Putin oder die Lieferung schwerer Waffen. Alle genannten Vorschläge und Maßnahmen werden nicht erfolgreich sein. Man mache sich nichts vor - und verzeihe die Anwendung eines Sprichwortes, das der bedrückenden Lage sicher nicht gerecht wird: Das Kind ist in den Brunnen gefallen. Man bekommt es nicht dadurch heraus, dass man mit der Faust auf den Tisch haut. Wenn, wie es heißt, das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist, so ist das zweite offensichtlich die Besonnenheit.
Ein Faktencheck zum ›Digital Service Act‹
Im Juni 2022 stimmte der EU-Binnenmarktausschuss der ›Verordnung über digitale Dienste‹ zu, die weitreichende Folgen für die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung hat. Unverblümt sprechen die EU-Funktionäre nun auch das zugrunde liegende Weltbild aus: Unwahrheiten verhalten sich wie Viren, weshalb eine gute Regierung die Wahrheit ebenso pflegen muss wie die Volksgesundheit. Und zwar mit denselben Methoden: Verhinderung des Erstkontakts mit Unwahrheiten, Isolierung der infizierten Träger und perspektivisch Impfungen gegen falsche Meinungen. Der folgende Essay erläutert das neue Gesetz und seine Hintergründe.
Zu Ulrike Guérot: ›Wer schweigt, stimmt zu‹
»In diesen ersten Märztagen 2020, als man in Österreich eine Stunde legal joggen durfte, fand ich mich einmal am Donaukanal in Wien, weit und breit allein auf weiter Flur, auf einer Parkbank, den Kopf wie Diogenes gen Frühlingssonne gerichtet, als vier bewaffnete Polizisten mich baten, den öffentlichen Raum zu räumen. Der Vorgang war so bizarr, dass ich ab da der Überzeugung war, dass ein Großteil der der Gesellschaft kollektiv in eine Übersprungshandlung getreten ist. Viele trugen etwa noch im eigenen Auto Masken. Alle drängten voller Panik in einen Zug, der immer schneller an Fahrt aufnahm. Es war der Zug der Corona-Maßnahmen. Wer, wie ich, nicht in diesen Zug eingestiegen ist, hat das Zeitgeschehen von einer anderen Warte aus beobachtet und ist heute von der Gesellschaft entfremdet.« (S. 9f.) Von einer solchen anderen Warte aus hat Ulrike Guérot dieses Buch über die Corona-Zeit geschrieben, das ihr eigener österreichischer Verlag sich weigerte zu drucken, und das jetzt im Frankfurter Westend-Verlag erschienen ist.
Eine Verzweiflung mit Ausblick
Dass wir uns Frieden wünschen, ein gedeihliches Miteinander für alle Menschen und natürlich ganz besonders für das Lebensumfeld, in dem wir uns befinden: Wer würde dem nicht zustimmen? Vor nicht allzu langer Zeit war dies für den mitteleuropäischen Durchschnittsmenschen kein Wunsch, sondern eine glückliche, alltägliche Realität – jedenfalls in Bezug auf unmittelbare kriegerische Auseinandersetzungen. Denn die waren doch eher weiter weg, wenn auch die Bilder in den Medien sie uns oft erschreckend nahebrachten. Krieg – eine der vielen Menschheitsplagen, die als Hungersnöte, Naturkatastrophen und Gewalttaten aller Arten die Welt überfluten und mit Flüchtlingsstr.men, seuchenartigen Krankheiten und dem Klimawandel zuletzt auch bei uns, im seit Jahrzehnten saturierten Westen, so richtig angekommen waren. Es klingt wie eine Beschreibung aus dem Mittelalter, ist aber Lebensrealität im 21. Jahrhundert. Und jetzt auch noch Krieg. In der Ukraine. In Europa. Hier.
Ein Foto steht symbolisch für die türkische Kurdenpolitik
»Wurde je ein Sohn von Ihnen getötet? Lag sein Leichnam tagelang auf der Straße und wurde von hungrigen Hunden zerfetzt? Haben Sie, nachdem Sie die Hoffnung aufgegeben hatten, ihn lebendig wiederzusehen, jahrelang verzweifelt vor den Türen des Staat genannten erbarmungslosen Riesen ausgeharrt, damit er wenigstens ein Grab bekommt? Wurden Ihnen dann mit den Worten: ›Nimm und geh, alles Gute‹, eine Tüte mit Knochen ausgehändigt - die Gebeine Ihres Sohnes? Nein, nichts davon haben Sie erlebt, es hat Sie nicht einmal interessiert. Und falls Sie es doch als verstörende Nachricht gehört haben sollten, haben Sie mit den Schultern gezuckt und gesagt: ›Das sind ja Terroristen, Kurden eben.‹« – Oya Baydar, die Grande Dame der türkischen Literatur, zeigt sich in ihrem Kommentar zu dem Foto, das am 29. August 2022 durch diealternativen und sozialen Medien der Türkei ging, erschüttert, entsetzt aber auch voller Scham ob der eigenen Hilflosigkeit.
Künstliche Intelligenz simuliert menschliche Fähigkeiten immer besser
Die Dinge entwickeln sich mit bedächtiger Schnelle. Zuerst sind sie bloß Science-Fiction: Schriftsteller lassen ihrer Fantasie freien Lauf. Einige Jahre später treten Wissenschaftler auf, die diese Fantasien technisch realisieren wollen, und wieder einige Jahre später scheinen die geschaffenen Geräte das zu können, von dem die Schriftsteller fantasierten. – Als Mitte der 1940er-Jahre die Computer erfunden wurden, sprach man sehr bald von ihnen als den künstlichen Gehirnen. Das Magazin ›Der Spiegel‹ schrieb z.B. 1950 unter dem Titel ›Maschinengehirn. Beängstigend menschlich‹ über die aus heutiger Sicht sehr primitiven Computer. In dem Bericht tauchen Worte auf, wie »Denkmonster«, »Supergehirn«, »Rechenwunder«, »übermenschliche Gehirnarbeit«. Und dann auch Sätze wie: »Tatsächlich aber mußten die Wissenschaftler feststellen, daß im Verhalten der Maschinengehirne beängstigend menschliche Züge hervortreten.« Der Bericht endet mit dem Satz: »Es könnte die Zeit kommen, da diese Supergehirne herrschen. Vielleicht, ohne daß die Menschen es merken.«
Ein Beitrag zur Bewusstseinsbildung im Wirtschaftsleben
In der sechsten Seminarbesprechung zum ›National.konomischen Kurs‹ am 5. August 1922 sagte Rudolf Steiner: »Was wird denn das Geld dadurch, daß sich das realisiert, was ich sage? Dadurch wird das Geld nichts anderes als die durch das ganze Wirtschaftsgebiet durchlaufende Buchführung. Sie könnten nämlich, wenn Sie eine Riesenbuchhaltung einführen wollten, die nicht notwendig ist, dieses ganze Hin- und Hergehen des Geldes ganz gut an einer entsprechenden Stelle verbuchen. Dann würden immer die Posten an den entsprechenden Stellen stehen. Was in Wirklichkeit geschieht, ist nämlich nichts anderes, als daß Sie den Posten aus der betreffenden Stelle herausreißen und dem Betreffenden den Schein geben, so daß die Buchhaltung wandert. Das Geld ist in fluktuierendem Sinn eine Buchhaltung.«
Manipulative Medienpädagogik auf dem Vormarsch
Am 5. Juli 2022 stimmte das EU-Parlament dem ›Digital Services Act‹ zu. Die dramatischen Folgen für die Möglichkeiten freier Meinungsbildung und -äußerung habe ich hier bereits aufgezeigt. Die meisten der damit beschlossenen Maßnahmen treffen jegliche Art von »Falschbehauptung« – unabhängig davon, ob sie absichtlich oder unabsichtlich getätigt wurde, und ob sie legal oder illegal ist. Von solchen »Falschbehauptungen« im Allgemeinen unterscheidet die EU-Kommission jedoch gezielte »Desinformationen«. Diese seien Elemente der »hybriden Kriegsführung« seitens Russlands. Mit dieser Argumentation werden NATO, Bundeswehr und Geheimdienste bereits seit 2015 am »Kampf« gegen »Fake-News« beteiligt. Welche Volksmeinungen die Wahrheitskrieger aktuell als das Werk Wladimir Putins verstanden wissen wollen, kann der Datenbank der ›East Strat-Com Task Force‹ entnommen werden.
Israel hat (schon wieder) gewählt
»Du nahmst meine Hand in deine und hast zu mir gesagt: / Lass uns in den Garten gehen. / Du nahmst meine Hand in deine und hast zu mir gesagt: / Was man von dort sieht – ist von hier aus nicht zu sehen.« – So lautet die erste Strophe eines in Israel dauerpopulären Songs aus dem Jahr 1979. Die vierte Zeile wurde, zuweilen in ihrer Umkehrung, zum Sprichwort: »Was du von hier aus siehst, ist von dort aus nicht zu sehen.. Mit diesem Satz wird jede Kritik, die vom Ausland an Israel gerichtet wird, abgewiesen. Als Israeli mit europäischem Blickwinkel pendle ich zwischen der ursprünglichen und der umgekehrten Variante. »Hier« und »Dort« spiegeln einander, sind Abbild und Realität zugleich. Die sozio-politischen Entwicklungen in Europa, wie der aufkommende Rechtspopulismus, werden in Israel meist nur unter der Lupe des Antisemitismus wahrgenommen. Man sieht sie dort allzu oft überhaupt nicht, und schon gar nicht so, wie sie von hier gesehen werden. Die Intensität und Lautstärke der Ereignisse dort beeinträchtigen die Ressourcen und Kapazitäten, andere Perspektiven einzunehmen. Man hat genug, nein, viel zu viel mit den eigenen Herausforderungen und ungelösten Problemen zu tun.
Anmerkungen zur Schulpflicht in Deutschland
Deutschland ist eines der wenigen europäischen Länder, in denen es eine Schulpflicht gibt, welche die Anwesenheit in einem Schulgebäude zwingend erforderlich macht. Bis zu den Lockdown-Maßnahmen der Jahre 2020/21 war sie derart tief in unserem Selbstverständnis verankert, dass sie so gut wie nie in Frage gestellt wurde – sichert sie doch auch den Besuch der Waldorfschulen und damit indirekt, durch die staatlichen Zuschüsse, deren Bestand. Mit dem ersten Lockdown im März 2020 geschah das bis dahin Unvorstellbare: Die Schulen wurden bundesweit geschlossen, nur in ganz besonderen Ausnahmefällen durften Kinder die Schulgebäude noch betreten. Durch diese für die Familien ganz neue häusliche Lernsituation trat auch eine schon länger bestehende Bewegung stärker ins Bewusstsein: Die Bewegung der Freilerner, die keine Schule im bei uns üblichen Sinne besuchen.
Stimm(ung)en aus Russland im Spätsommer 2022
Dieses Mal ist alles ganz anders: die Vorbereitungen, die Ungewissheit, die Reiseroute und der Verbrauch an Nerven. Ich fahre wieder weit in den Osten an den Baikalsee in Sibirien, der mich schon so viele Jahre begleitet. Nachdem ich das Chaos am Frankfurter Flughafen verlassen habe, verläuft alles ruhig und normal, zuerst nach Istanbul, dann von dort nach St. Petersburg – zu horrendem Preis, wohlgemerkt, da alle Direktflüge sanktioniert wurden. Das herrschaftliche St. Petersburg ist ein sehr beliebtes Touristenziel, und dieses Jahr wird es auch von vielen jungen Menschen besucht, die jetzt nicht ins Ausland reisen oder an einem Kulturaustausch teilnehmen können, was sie zum großen Teil gar nicht verstehen. Hier können sie ihre Sehnsucht nach europäischer Kultur ein wenig stillen.
Zu Oliver Nachtwey & Carolin Amlinger: ›Gekränkte Freiheit‹
Das Buch ›Gekränkte Freiheit‹ von Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger erschien im Oktober 2022 im renommierten Suhrkamp Verlag. Zwischenzeitlich hat es dieses Werk auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von DLFKultur, ZDF und ›Zeit‹ geschafft. Sein Thema ist die Herausbildung einer neuen politischen Tendenz: des »libertären Autoritarismus«, den die Autoren auch in anthroposophischen Zusammenhängen verorten. Nachtwey hatte mit einem kleinen Team bereits im Dezember 2020 eine Studie zur ›Politischen Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg‹ vorgelegt, die einige häufig kolportierte Mythen zum Charakter der »Querdenken«-Bewegung widerlegte. So konnte er herausarbeiten, dass die Mitglieder dieser Bewegung tatsächlich eher links orientiert, weiblich, gut ausgebildet, in festen Arbeitsverhältnissen beschäftigt und spirituell aufgeschlossen sind. Die Folgepublikation ›Quellen des Querdenkertums‹ verortete die geistigen Ursprünge dieser Protestbewegung dann unter den Anthroposophen, aber auch im bürgerlichen Milieu, im Alternativmilieu und unter evangelikalen Christen. Dabei wurden überraschenderweise doch stärkere Bezüge zu rechtsextremen Einstellungen und Verschwörungstheorien festgestellt.
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Betrachtungen einer Reservatsbewohnerin
Als die Welt noch jünger war – wie lange ist das her? Dieses Gefühl der Unbefangenheit dem Leben gegenüber, erst recht im Bewusstsein. Im Willen, der sich, kaum gefasst, nicht sogleich bedroht fühlte von Platzangst oder Erstickungsempfindung. Vielleicht ist das erst rund 25 Jahre her. Das klingt kurz – oder ein Vierteljahrhundert, das scheint etwas länger, obwohl es sich um denselben Zeitraum handelt, nur die Bezugsgröße ist eine andere. Auf kosmische Zeitverläufe bezogen ein Tropfen im Meer, und doch zugleich wieder im menschlichen Maßstab: Aktuell liegt rund ein Drittel der fünften nachatlantischen Entwicklungsperiode hinter uns. Wie dringend müssten wir uns verjüngen im zwischenmenschlichen Leben? Wie könnte sie aussehen, die Jugendlichkeit der Weisheit? Denn das ist ja die kulturelle Zukünftigkeit. Was hereinkommt ins Leben mit der Geburt und der Gebürtlichkeit, an übersinnlichen Impulsen und Energien, ist das eine – das andere ist die Verfasstheit unserer Zivilisation.
Zwischentöne zum Zeitgeschehen
Vor über einem Jahr ist der Krieg mit aller Gewalt über die Ukraine hereingebrochen. Meine Verzweiflung darüber habe ich mir im Sommer 2022 von der Seele geschrieben. Das hat damals einige positive Resonanz bewirkt, da offensichtlich viele Menschen dieselben Fragen in sich bewegten: Wie kann ich für Frieden eintreten und gleichzeitig wollen, dass dieses Land ausreichend militärische Unterstützung bekommen, um nicht unterzugehen? Ein unauflösbares Dilemma, bis heute. Nach dem Artikel wurde ich eingeladen, im ›Forum 3‹ in Stuttgart meine Gedanken zum Thema darzulegen. Der Vortrag fand im Februar 2023 statt, ein halbes Jahr später – und die allgemeine Stimmung hatte sich verändert. Nun bekam ich im Vorfeld der Veranstaltung E-Mails, in denen mir Kriegstreiberei vorgeworfen wurde und ich als »Peinlichkeit« für die anthroposophische Bewegung apostrophiert wurde. Das hat mir zu denken gegeben, in zweierlei Hinsicht: Erstens wurde das Fragezeichen in der Ankündigung einfach ignoriert (»Dienen Waffen dem Frieden?«). Und zweitens hat man mich ziemlich beschimpft – im Namen des Friedens. Wie, so frage ich mich, sollen Kriegsparteien zu einer Lösung kommen, wenn wir uns schon unter Anthroposophen – also Menschen, die sich der Weisheit vom Menschen verpflichtet fühlen! – so unfriedlich begegnen?
Erscheinungsformen des Materialismus heute und vor 100 Jahren
Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags stehen zwei Vorträge aus dem Zyklus ›Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha‹ (GA 175). Rudolf Steiner hat diese Vorträge am 27. Februar 1917 und am 6. März 1917 in Berlin gehalten. In dem Vortrag vom 27. Februar spricht Steiner am Schluss über den Kinematographen (was wir heute Film nennen). Da heißt es: »Ein besonders hervorragendes Mittel, den Menschen in den Materialismus hinein zu jagen, ist das, was von diesem Gesichtspunkte aus kaum bemerkt wird: der Kinematograph. Es gibt kein besseres Erziehungsmittel zum Materialismus als den Kinematographen.«
Zu Philip Kovce & Birger P. Priddat (Hrsg.): › Selbstverwandlung‹*
Seit einem Vierteljahrhundert wird von Kennern der technischen Entwicklung immer wieder die Sorge geäußert, dass die von uns erschaffenen Technologien uns Menschen abschaffen. Im Frühjahr des Jahres 2000 veröffentlichte Bill Joy, der Mitgründer von Sun-Microsystems, im US-Magazin ›Wired‹ seinen berühmten Aufsatz ›Why The Future Doesn’t Need Us‹, der weltweites Aufsehen erregte. Darin beschrieb er die Entwicklung der verschiedenen neuen Technologien, vor allem der intelligenten Maschinen, und stellte am Ende die Frage, wie groß das Risiko sei, dass wir uns selbst durch diese Technologien ausrotten – es ist sehr hoch.
Zu Gerd Koenen: ›Im Widerschein des Krieges‹*
Jeder Mensch, der heute nicht nur bloß dahinlebt, ist betroffen und belastet durch den Krieg in der Ukraine; als verheerendes Unwetter, als Entsetzen, als dunkles Rätsel hängt er über Europa und der Welt. Dieser Krieg hat inzwischen eine Flut von Büchern hervorgebracht, die ihn erklären, Thesen vertreten, Emotionen und Hass schüren, Friedensappelle an die Welt richten und kluge Diskurse darüber führen, wie es dazu kommen konnte. Kein Buch aber – soweit ich das überblicke – gibt Kunde von einem »Nachdenken über Russland« angesichts eines Krieges, dessen mörderischen Schein uns die Medien zeitnah und unmittelbar ins Haus bringen. Als Widerschein im menschlichen Denken, Betrachten und Beurteilen sich spiegelnd, wird dieser Krieg zwar nicht weniger höllisch, ist aber kein lähmendes Fatum mehr.
Zu Silke Müller: ›Wir verlieren unsere Kinder‹
Dieses Buch handelt von einer Welt, welche durch die elektronischen Medien und die entsprechenden Empfangsgeräte entstanden ist. Solange die Medien analog waren, haben sie – zumindest überwiegend – über die Welt und die Ereignisse in ihr berichtet. Es kam gelegentlich vor, dass Ereignisse so arrangiert wurden, dass gute Bilder entstanden. Das war aber doch eher die Ausnahme. Für die Inhalte des vorliegenden Buchs gilt ausschließlich: Sie würden gar nicht existieren, gäbe es die durch die elektronischen Medien entstandenen Möglichkeiten und Bedürfnisse nicht. (Wenn ich hier von »Medien« spreche, ist das ein irreführender Notbehelf. Es fehlt ein passendes Wort.)
und von den anzulegenden Büchergärten der Zukunft
Das Jahr 2022 markiert eine radikale Zäsur in der Geschichte unserer Schriftkultur. Gewiss hat es im Bereich der geschriebenen Texte immer Erscheinungen der Fälschung, der Lüge, der Blendwerke und der Propaganda oder aber der Dummheit, der Oberflächlichkeit und des Irrtums gegeben. Und gewiss ist ein hoher Prozentsatz geschriebener und gedruckter Texte aus dem einen oder anderen Grunde entbehrlich und muss nicht unbedingt für die Ewigkeit aufbewahrt werden. Doch hat diese von Menschen mit ihren Schwächen, ihren Eitelkeiten und niederen Absichten verfasste Literatur noch immer eines zur gemeinsamen Grundlage, das bis dahin, von ersten Ausnahmen abgesehen, selbstverständlich garantiert war: Sie wurde von Menschen gestaltet. Diese irgendwie noch immer an einer Art von Logos orientierte Schriftkultur hört auf, wenn Texte von Maschinen kombinatorisch nach äußerlich definierten Kriterien und also radikal gedankenlos zusammengefügt werden.
Zu Samirah Kenawis Tetralogie: ›Die Quadratur des Geldes‹
Das internationale Geldsystem erzeugt verheerende Krisen. Samirah Kenawi hat in einem vierbändigen Werk die Ursachen ergründet und über Reformmöglichkeiten nachgedacht. An zentralen Stellen kommt sie zu Beobachtungen, die dem sehr ähnlich sind, was Rudolf Steiner vor 100 Jahren zu Geld und Kapital beschrieben hat. Der vorliegende Text vergleicht daher die beiden Ansätze und zeigt, wo sie sich ergänzen oder unterscheiden.
Zu Abdel-Hakim Ourghi: ›Die Juden im Koran‹
Diese Rezension hatte ich fast fertig geschrieben, als am Morgen des 7. Oktober – einem Schabbat, an dem das jüdische Fest Simchat Tora (Freude der Tora) gefeiert wurde – die radikal-islamistische Hamas vom Gazastreifen her in den Süden Israels einfiel, über tausend Israelis tötete und über hundert als Geisel nach Gaza verschleppte. Der Anlass ist bedeutend genug. Ich füge meinem Text deshalb nun einige Ergänzungen hinzu, die das Thema von Abdel-Hakim Ourghis Buch über Antisemitismus im Islam unmittelbar betreffen. Während ich dies schreibe, befinden sich Menschen allen Alters – Kinder, Mütter, Jugendliche, Greise – noch in der Gewalt der terroristischen Organisation. Sie sind offensichtlich nicht nur ein Unterpfand für einen eventuellen Austausch mit palästinensischen Gefangenen, sondern in erster Linie menschliche Schutzschilde, um die unausbleiblichen Vergeltungsmaßnahmen durch die israelische Armee zu erschweren. Der Schock ist groß in Israel und weltweit.
Wenn »Entkolonialisierung« in die Logik des Nationalismus mündet
An einem wundersam warmen und klaren Septemberabend habe ich während eines Straßenmusikfestivals den Dreadlocks tragenden Tiroler Musiker Mario Parizek mit entspannter Freude bei einer seiner Aufführungen wahrgenommen. Wie es sich häufig ergibt, wurde ich neugierig, und somit habe ich, wieder nach Hause zurückgekehrt – ich gehöre zu den Retros, die nicht smartphonisiert leben, und dabei sogar außerordentlich zufrieden sind –, in voller Heiterkeit an meinem Schreibtisch nach Mario gegoogelt. Nie hätte ich den Verdacht hegen können, dass ein Auftritt von ihm, ungefähr ein Jahr davor, aufgrund der von ihm, einem weißen Musiker, getragenen Dreadlocks abgesagt worden war, nach Angaben des aufführenden Lokals mit einer finanziellen Entschädigung, da einige auch zum Team des Lokals zugehörigen Personen sich bei einem solchen Auftritt nicht wohl gefühlt hätten. Dabei trägt der Musiker – so seine Erklärung in einem Video – Dreadlocks, seitdem er 13 Jahre alt ist, und dies als Reaktion auf die »rechte« Atmosphäre in dem Tiroler Dorf, in dem er aufwuchs. In anderen Worten, den Kommentar des enttäuschten Musikers zusammenfassend: Von einem »linken« Lokal wird sein Auftritt wegen etwas abgesagt, das eigentlich von einer aufrichtig »linken« Gebärde gegen eine »rechte« Umgebung getragen wurde und weiterhin wird.
Wirklichkeitsverlust und totalitäre Tendenzen
Die Ereignisse der Corona-Zeit haben die Gesellschaft in bisher ungekanntem Maß gespalten. Prinzipiell waren sowohl kritische Positionen als auch die Ergreifung von Vorsichtsmaßnahmen und die Angst vieler Menschen vor einer Infektion verständlich. Zu denken gibt im Rückblick zum einen die Radikalität – bis hin zu Grundrechtseinschränkungen – und fehlende Evidenz mancher Maßnahmen, zum anderen, dass sie dennoch von vielen Bürgern und Medien, bis hin zur offenen Anfeindung kritischer Zeitgenossen, verteidigt wurden.Ähnliches erlebt, wer gegenwärtig an die Vorgeschichte des Ukrainekrieges erinnert und die Politik des Westens kritisch befragt. Dabei hatten doch viele Menschen, wie auch Medien und Politik, die militärischen Interventionen im Kosovo, in Libyen oder in Syrien gutgeheißen, weil dort (angeblich) Minderheiten gegen staatliche Repression kämpften. Nun waren die russischsprachigen Bewohner des Donbass seit dem Abkommen von Minsk (2015) in der gleichen Lage und erhofften sich Hilfe von Russland. Viele Menschen hierzulande wissen das bis heute nicht oder stufen es als unbedeutend ein. Wie aber ist das Nichtwissen oder Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen, das Messen mit zweierlei Maß zu deuten, das ja auch ein Zeichen fehlender Reflexion von Denkwidersprüchen ist? Und warum führte bei »Corona« ein allgemeiner Vertrauensverlust in die Politik nicht zu einer realistischeren Abschätzung von Gefahren und Bedrohungen? Woher kommt die Bereitschaft, kaum glaubliche Deutungen auffälliger Phänomene, unrealistische Zukunftsprognosen oder offenbar widersinnige Maßnahmen zu akzeptieren?
Wegmarken einer Verirrung
Was wir zur Zeit an Kriegsereignissen erleben, ist kaum noch zu fassen. Nach all unserer Kenntnis über das Grauen des Kolonialismus, der beiden Weltkriege, des Korea- und des Vietnamkrieges, des Jugoslawien- und des Tschetschenienkriegs, des »Krieges gegen den Terror« usw. geschehen nun wieder Gräuel, die den früheren nicht nachstehen. Auch wenn keine sogenannten Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden, sterben dennoch Massen von Menschen durch militärische Gewalt. Russland hat durch die Unterstützung der Donbass-Republiken die Ukraine noch tiefer ins Elend getrieben, während durch die Ukraine selbst – wie auch durch Israel – der Begriff der »Selbstverteidigung« ad absurdum geführt wird. Die Ukraine verteidigt sich gewissermaßen zu Tode, eine »soziale Verteidigung« des Landes (als passiver Widerstand gegen die Besatzer) hätte erträglichere Zustände herbeigeführt; und selbst wenn Israel in Gaza Zerstörungen unvorstellbaren Ausmaßes bewirkt, wird es den Hass seiner Feinde nicht auslöschen und somit sein eigenes ständiges Bedrohtsein nicht beenden. Beide Kriege sind die Folge nicht ergriffener Chancen oder fehlenden Willens, vorab sinnvolle Lösungen zu suchen oder vorliegende vernünftige Vorschläge anzunehmen. Aber auch die Eroberung der armenischen Enklave Bergkarabach durch Aserbaidschan und die Vertreibung von ca. 100.000 Armeniern aus ihrer Heimat, die türkische Okkupation kurdischer Gebiete in Nordsyrien mit Zerstörung der Energie- und Wasserversorgung sowie Vertreibung der Bevölkerung, und alle anderen Kriege in verschiedenen Teilen der Welt zeugen weiterhin von hemmungsloser Gewaltanwendung für fragwürdigste Ziele. Und in allen diesen Konflikten werden die Not und das elende Sterben unzähliger Soldaten und Zivilisten in Kauf genommen. Mitleid mit den gequälten Menschen fehlt den Verantwortlichen.
Zu Valentin Tomberg: ›Vom Völkerrecht zur Weltfriedensordnung‹
Wer durch die grauenvollen Berichte aus dem bald zwei Jahre andauernden Russland-Ukraine-Krieg nicht gänzlich abgestumpft ist, dem muss es ungemein schwer fallen, die Möglichkeit und Legitimität eines »gerechten« Krieges grundsätzlich für denk- und rechtfertigbar zu halten. Erschwert wird eine rechtsethische Legitimation »gerechter« Kriege dadurch, dass unter den Bedingungen einer modernen Kriegsführung mehr denn je zwangsläufig das unerwünschte Phänomen des »Fog of war« auftritt, sich also als empirische Tatsache zeigt, dass
1. allen Parteien der Kriegsverlauf entgleitet und prinzipiell keine Kontrolle über die Entwicklung eines Krieges gegeben ist,
2. immer unvermeidbare, erhebliche sogenannte Kollateralschäden gegenüber Unschuldigen und Zivilisten entstehen und
3. mit dem Einsatz moderner Waffen das prinzipielle Dilemma einhergeht, dass diese - insbesondere Flächenbomben und Minen - grundsätzlich keine Unterscheidung von Feind und Freund, von Soldat und Zivilist ermöglichen.
Zum Nicht-Verstehen der Lage im Nahen Osten
Schon zu Beginn dieses Aufsatzes lässt sich ein Widerspruch nicht vermeiden. Jeglicher Bericht, der seit dem 7. Oktober letzten Jahres über dessen Folgen geschrieben wird, beginnt nämlich mit einer kurzen Wiederholung im Sinne von: »Zuerst überfielen Hamas-Kämpfer (bzw. Terroristen) israelische Siedlungen, verbrannten Häuser, töteten 1.200 Menschen und nahmen einige als Geiseln. Daraufhin überfiel das israelische Militär den Gazastreifen, hinterließ unfassbare Zerstörungen und tötete etwa 30.000 Palästinenser.« Dann folgt eine Stellungnahme, je nach Verfasser der einen oder der anderen leidenden respektive Leid erzeugenden Partei sich zuneigend. Ich wollte ja nicht so beginnen – und dennoch tat ich es.