Dies ist ein Heft für Bibliophile. Nicht nur wegen der zahlreichen Buchbesprechungen, zu deren Verfassern dieses Mal u.a. Peter Selg, Konrad Schily und René Madeleyn gehören. Sondern auch deshalb, weil die Schriftkultur selbst in den Blick genommen wird – sei es in dem Kommentar von Jens Göken über deren Zerstörung durch Künstliche Intelligenz, der düstere Diagnosen mit stiller Zuversicht verbindet; in der Rezension, die Ute Hallaschka dem brandneuen Thriller ›Going Zero‹ von Anthony McCarten gewidmet hat, in dem eine Bibliothekarin die Überwachungsmaschinerien unserer Zeit herausfordert; oder in dem facettenreichen kulturhistorischen Aufsatz von Ruedi Bind, in dem geschildert wird, wie die Literatur der Goethezeit unser Verhältnis zur Natur nachhaltig verwandeln half.
und von den anzulegenden Büchergärten der Zukunft
Das Jahr 2022 markiert eine radikale Zäsur in der Geschichte unserer Schriftkultur. Gewiss hat es im Bereich der geschriebenen Texte immer Erscheinungen der Fälschung, der Lüge, der Blendwerke und der Propaganda oder aber der Dummheit, der Oberflächlichkeit und des Irrtums gegeben. Und gewiss ist ein hoher Prozentsatz geschriebener und gedruckter Texte aus dem einen oder anderen Grunde entbehrlich und muss nicht unbedingt für die Ewigkeit aufbewahrt werden. Doch hat diese von Menschen mit ihren Schwächen, ihren Eitelkeiten und niederen Absichten verfasste Literatur noch immer eines zur gemeinsamen Grundlage, das bis dahin, von ersten Ausnahmen abgesehen, selbstverständlich garantiert war: Sie wurde von Menschen gestaltet. Diese irgendwie noch immer an einer Art von Logos orientierte Schriftkultur hört auf, wenn Texte von Maschinen kombinatorisch nach äußerlich definierten Kriterien und also radikal gedankenlos zusammengefügt werden.
Zu Samirah Kenawis Tetralogie: ›Die Quadratur des Geldes‹
Das internationale Geldsystem erzeugt verheerende Krisen. Samirah Kenawi hat in einem vierbändigen Werk die Ursachen ergründet und über Reformmöglichkeiten nachgedacht. An zentralen Stellen kommt sie zu Beobachtungen, die dem sehr ähnlich sind, was Rudolf Steiner vor 100 Jahren zu Geld und Kapital beschrieben hat. Der vorliegende Text vergleicht daher die beiden Ansätze und zeigt, wo sie sich ergänzen oder unterscheiden.
Zur Bedeutung des organisierten Lügens in der Coronakrise
Dieser Artikel vergleicht Aussagen Hannah Arendts über die Bedeutung der Lüge in der Politik mit einer ähnlichen Aussage Rudolf Steiners, auf der die Grundthese des Folgeartikels beruht. Die Tatsachen, die dort beleuchtet werden, sind so erschreckend, dass es der Redaktion sinnvoll erschien, sie in einen Kontext zu stellen, der auch von anderen herausragenden Persönlichkeiten des Geisteslebens beleuchtet wurde. Die Bedeutung der anthroposophischen Geisteswissenschaft liegt darin, dass sie den Menschen einen Weg zeigt, auf dem sie erkennen lernen können, wie sie in ihrem Denken und Handeln immer mit geistigen Wesenheiten verbunden sind. Die Fähigkeit auszubilden, diese Wesenheiten zu erkennen, wird maßgeblich darüber bestimmen, wie harmonsich oder chaotisch sich das soziale Leben in Zukunft gestalten wird. Die Scheu vor einem solchen Erwachen für den Geist ist dabei nicht zu unterschätzen.
Ein Rückblick auf eine fortdauernde Krise
Die Coranapandemie hat eine extreme Spaltung in der Gesellschaft erzeugt. Von Seiten politischer und wissenschaftlicher Autoritäten wurden immer wieder Behauptungen aufgestellt, die ein kritisch-rationales Denken hinterfragen musste und sich im Nachhinein auch als falsch erwiesen haben. Doch ein großer Teil der Gesellschaft war nicht bereit, ein solches Hinterfragen zu leisten. Stattdessen wurden selbst ausgewiesene Sachverständige diffamiert und ausgegrenzt, wenn sie sich gegen die staatlich verordnete Auffassung stellten.Thomas Külken untersucht dieses Phänomen und zeigt auf, dass es sich hier um mehr als nur um eine probate Taktik der massenpsycholpgischen Beeinflussung handelt Der vorangehende Artikel hat schon darauf hingedeutet, dass Rudolf Steiner 1920 eindringlich vor dem Einsatz solcher Mittel warnte.
Klänge eines totalitären Rechtslebens
In zwei anregenden Beträgen hat Matthias Fechner, auf Deutschland konzentriert, ungeschminkt die - oft als zu heikel betrachtete - Frage nach den Gründen erörtert, warum die meisten Hochschulen als Institutionen in den Corona-Jahren unfähig gewesen sind, eine umfangrache kritische Diskussion der weltgeschichtlich erstmaligen, sei es menschlich, sei es wissenschaftlich, sei es rechtlich, sei es wirtschaftlich tief problematischen Corona-Politik zu fördern. Denn es gab natürlich einzelne, mancherorts sogar nicht ganz wenige Akademiker, die eine solche Diskussion anregen wollten. Ihre Versuche wurden jedoch von den jeweiligen Institutionen im besten Fall ignoriert, allzu oft aber zensiert, boykottiert und diffamiert.
Der Philosoph Johannes Kreyenbühl (1846–1929) gehört zu den vergessenen Denkern der Geistesgeschichte. Rudolf Steiner rechnete seinen Aufsatz ›Die ethische Freiheit bei Kant‹ »zu den bedeutsamsten Erzeugnissen der gegenwärtigen Philosophie, namentlich der Ethik.« Denn in diesem sah er eine sachge mäße Beschreibung des reinen Denkens als Triebfeder unsers Wollens gegeben. Bei der Behandlung der praktischen Vernunft im IX. Kapitel seiner ›Philosophie der Freiheit‹ weist er auf Kreyenbühl mit folgenden, seine Hochschätzung ausdrückenden Worten hin: »Am klarsten hat von dieser Triebfeder des Wollens Kreyenbühl [...] gehandelt. […] Kreyenbühl bezeichnet die in Rede stehende Triebfeder als praktisches Apriori, d.h. unmittelbar aus meiner Intuition fließender Antrieb zum Handeln.«
Über Jahrhunderte hinweg wurden die Alpen als schreckliche, angsterregende Gegenden erlebt, als Stücke eines über einen Haufen geworfenen großen Gebäudes, Ruinen einer zertrümmerten Welt, ohne jede Regularität, wo die Natur alle ihre übriggebliebene, unnütze Materie auf einen Haufen geschüttet hatte. Wie gelang nun die Wende zum Erleben des Schönen und Erhabenen? Wie kam es, dass man das Gebirge mit anderen Augen anzusehen in der Lage war? Durch neue Horizonte im Naturerleben, die Jean-Jacques Rousseau, aber auch Edmund Burke eröffnet hatten – und durch die Taten Goethes.
Zwei Findlinge in der deutschsprachigen Literatur und der Mysterienhintergrund ihrer Werke – Teil III
Kleist und Büchner sind Solitäre in ihrer Zeit und ihrer kulturellen Umgebung, zwei Unangepasste, zu früh Inkarnierte. Beide sind intelligente, wortgewandte Genies, sind 1,72 m groß und haben – wenn man der Schwester Büchners glaubt und nicht der Polizei – kastanienbraune Haare, beide sind im Oktober geboren, sind ungewöhnlich jung verlobt mit einer Wilhelmine, die sie nicht heiraten werden, und beide sterben früh. Aber damit ist es mit den Gemeinsamkeiten auch schon ziemlich am Ende. Bleiben die Gegensätze.
35 Aphorismen
1. Doppelgänger machen alle Gänge doppelt.
Ein Beitrag zur Frage der »Entkolonialisierung« des Waldorf-Lehrplans
In der Gestalt von »Leitsätzen« hat Rudolf Steiner gegen Ende seines Wirkens das Wesen und die Aufgabe der Anthroposophie in äußerster Verdichtung zum Ausdruck gebracht. So heißt es im ersten Leitsatz: »Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte.« Es gilt aber auch, was Rudolf Steiner ebenfalls sehr verdichtet formuliert hat, »dass im Jahre 869 auf dem achten allgemeinen ökumenischen Konzil von Konstantinopel der Geist abgeschafft worden ist.« Nach tausend Jahren, im Zeitalter Michaels, soll nun in unserer Zeit der Geist ganz neu zum Wegleiter der Menschheit werden. Eine neue Erde wird so entstehen, eine Schule, in der die Menschheit strebend und lernend immer mehr ihre eigene Entwicklung mit verantwortet.
Zu Michael Debus: ›Das Rätsel der Trinität‹
Es gibt eine jahrhundertealte schematische Darstellung der göttlichen Dreieinigkeit, in welcher sich in der Mitte Gott befindet und um ihn herum in einem gleichseitigen Dreieck angeordnet Vater, Sohn und Geist. Alle drei sind auf die beiden jeweiligen »Nachbarn« in der Darstellung bezogen durch die Worte »ist nicht« – und auf Gott in der Mitte bezogen durch das Wort »ist«. – Diese Darstellung veranschaulicht die Schwierigkeit, die sich auftut, wenn man sich dem Problem der Trinität definitorisch mit den Kategorien »Sein« und »Nicht-Sein« nähern will: Klare und abgrenzende Aussagen sind wohl möglich, werden aber letztlich allzuschnell Selbstzweck und damit inhaltsleer. – So erschöpft sich vieles, was in neuerer Zeit zu diesem Thema veröffentlicht worden ist, entweder in Abstraktionen oder in Analogien. Und wer es unternimmt, Neues dazu vorbringen zu wollen, steht zunächst vor der Frage, welches die angemessene Kategorie, welches die angemessene Forschungsmethode sei.
Zu Judith von Halle: ›Das Wort‹
Seit Ende vergangenen Jahres gibt es eine bemerkenswerte Novität auf dem anthroposophischen Büchermarkt: ›Das Wort in den sieben Reichen der Menschwerdung – Eine Rosenkreuz-Meditation‹. Es handelt sich um ein fünfbändiges, 2.777 Seiten umfassendes Werk der Autorin Judith von Halle – man kann es durchaus ihr Opus Magnum nennen.
Zu Wolfgang Schad: ›Der Geist der Erde‹
Wie soll man als Rezensent einem solchen Werk gerecht werden? Wolfgang Schads letztes, postum erschienenes Buch ›Der Geist der Erde – Unsere Welt als lebendiges Wesen‹ ist ja nicht bloß einer von den unzähligen Beiträgen im fortlaufenden Prozess einer globalen Forschungsmaschinerie, sondern das Vermächtnis eines umfassend gelehrten Mannes, eines Wissenschaftlers, der sein Leben für den Goetheanismus in Forschung und Lehre, für Menschenbildung und -erziehung eingesetzt hat. Und: Es ist nicht irgendein Thema, dem sich dieses Vermächtnis widmet, sondern eines, wie es umfassender kaum zu denken ist: Die Erde als ein individualisiertes Lebewesen im Weltall.
Zu Anthony McCarten: ›Going Zero‹
Nehmen wir Begriffe beim Wort – Rudolf Steiner hat das oft und gerne getan, um sich verständlich zu machen. Das bekannteste Beispiel ist die »Entwickelung«, man sieht sie förmlich vor sich. Darin liegt eine der Stärken der deutschen Sprache: die Leichtigkeit der imaginativen Wortbildung, auch wenn das Wort selbst aus einer anderen Sprache einverleibt wurde. In-Formation ist ein wundervoller Ausdruck, für das, was an den Zugvögeln am Himmel, oder im Fischschwarm sehen, im Bienenstock oder im Ameisenhaufen. Alles ist informiert, in die entsprechende Form seines Seins gebracht, im Fall der Tiere spielt sich dies als sichtbare Bewegung in der Zeit ab. Zeitverlauf als kosmisches Informationsbild – jeden Morgen geht die Sonne auf. Auch wenn es bekanntlich die Erde ist, die sich dreht. Selbst die Geister und Götterwesen, die wir Hierarchien nennen, erscheinen – nicht zuletzt aufgrund dieses Ordnungsbegriffes – informiert.
Zum Andenken an Dag Hammarskjöld (29. Juli 1905 in Jönköping – 18. September 1961 bei Ndola, Sambia)
Er war der jüngste von den vier Söhnen des schwedischen Premierministers Hjalmar Hammarskjöld (1862–1953). Der Name des Kindes »Dag« bedeutet Tag im Sinne von Tageslicht. Hammer und Schild: Der Hammer als Sinnbild für das Vorwärtsdringen, der Schild, um sich zu schützen im Kampf. Es war ein verliehener Adelstitel von König Karl IX. an einen seiner Soldaten für dessen hervorragenden militärischen Einsatz. Der ursprüngliche Name der Familie lautete Michilsson.
Eine Erfahrung
Rilkes berühmtes Sonett ›Archaïscher Torso Apollos‹ endet einigermaßen überraschend mit dem Satz: »Du mußt dein Leben ändern« – eine Konsequenz, die aus der Schönheit der Kunst erwächst. Der Leser sieht sich aufgefordert, seine mehr oder weniger passive Haltung zu verlassen und zu Neuem aufzubrechen.
Die Bewegung, von der das Wort spricht, vollzieht sich in ihm. Eine maßvolle, gleichmäßige und stetige Fortbewegung, die ins Offene und Weite führt. Es nimmt einen mit, dieses Wort, es bringt einen in Fahrt, sobald man sich seiner Bewegung überlässt. Ist man erst einmal in Fahrt gekommen, ergibt sich der Weg fast von selbst. Es will immer weiter, das Wort, in eine Ferne, die nie aufhört, Ferne zu sein.
Ermutigung für den Lebensweg
Vom Schiffbruch der Erzählung
Einen Atmungsprozess miterleben
Zum Beitrag von Uwe Todt im Leserforum in DIE DREI 3/2023
Zu Frank Steinwachs: ›Waldorfpädagogik – mittendrin im Politischen!‹ in DIE DREI 4/2023
Wie es sich für eine anthroposophische Zeitschrift gehört, hatten wir uns in der Redaktion schon seit langem darauf verständigt, das vorliegende Heft der Weihnachtstagung von 1923/24 zu widmen. In der Tat haben wir so viele Beiträge zu diesem Thema zusammenstellen können, dass es auch den Schwerpunkt des nächsten Heftes bilden wird. Doch wollen wir trotz dieses erhebenden Jubiläums an den oft niederdrückenden Zeitereignissen nicht vorbeigehen. Ich bin János Darvas sehr dankbar dafür, dass er seine Rezension des Buches ›Die Juden im Koran‹ von Abdel-Hakim Ourghi nach dem Überfall der Hamas auf Israel überarbeitet und berührende Worte gefunden hat, die von Versöhnung sprechen, ohne vom muslimischen Antisemitismus zu schweigen. Im Anschluss weist Salvatore Lavecchia auf problematische Aspekte der sogenannten Entkolonialisierung hin, die inzwischen auch dadurch offensichtlich geworden sind, dass mit dieser Idee oft eine beunruhigende Tendenz zur Relativierung terroristischer Gewalt einhergeht. Und Bernd Brackmann denkt über ›Wirklichkeitsverlust und totalitäre Tendenzen‹ als Krisensymptome unserer Demokratie nach.
Zu Abdel-Hakim Ourghi: ›Die Juden im Koran‹
Diese Rezension hatte ich fast fertig geschrieben, als am Morgen des 7. Oktober – einem Schabbat, an dem das jüdische Fest Simchat Tora (Freude der Tora) gefeiert wurde – die radikal-islamistische Hamas vom Gazastreifen her in den Süden Israels einfiel, über tausend Israelis tötete und über hundert als Geisel nach Gaza verschleppte. Der Anlass ist bedeutend genug. Ich füge meinem Text deshalb nun einige Ergänzungen hinzu, die das Thema von Abdel-Hakim Ourghis Buch über Antisemitismus im Islam unmittelbar betreffen. Während ich dies schreibe, befinden sich Menschen allen Alters – Kinder, Mütter, Jugendliche, Greise – noch in der Gewalt der terroristischen Organisation. Sie sind offensichtlich nicht nur ein Unterpfand für einen eventuellen Austausch mit palästinensischen Gefangenen, sondern in erster Linie menschliche Schutzschilde, um die unausbleiblichen Vergeltungsmaßnahmen durch die israelische Armee zu erschweren. Der Schock ist groß in Israel und weltweit.