Anmerkungen zum Literaturnobelpreisträger Peter Handke
Als bekannt wurde, dass der österreichische, nahe Paris lebende Schriftsteller Peter Handke mit dem Literaturnobelpreis 2019 ausgezeichnet werden sollte, hagelte es Kritik an dieser Entscheidung der Schwedischen Akademie. Der US-amerikanische Autorenverband P.E.N. zeigte sich .sprachlos. über die Auswahl und beklagte, mit Handke werde einem Schriftsteller der Literaturnobelpreis verliehen, der »historische Wahrheiten« untergrabe und den »Ausführenden eines Genozids Beistand geleistet« habe. Ähnlich äußerte sich der Preisträger des Deutschen Buchpreises Sasa Stanisić in seiner ›Wut-Dankesrede‹, indem er Handkes Auslassungen in Texten wie ›Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise‹ (1996), ›Unter Tränen fragend‹ (2000) und ›Die Tablas von Daimiel‹ (2005) einen Hang zur Lüge attestierte. Überhaupt kam im Vorfeld der Verleihung des Buchpreises eine Debatte in Gang, die zum einen wie eine Neuauflage und Kopie verschiedenster Handke-Debatten der Vergangenheit anmutete, und zum anderen mehr oder minder unfreiwillig Argumentationsmuster und Diffamierungsstrategien freilegte, auf die Handke in seinen die Jugoslawienfrage tangierenden Schriften immer wieder hingewiesen hat. Denn Handkes Analyse der medialen Berichterstattung über dieses Thema und ihrer suggestiv-manipulativen Mechanismen in Wort und Bild scheint der wahre – und zugleich lässig ignorierte – Grund zu sein, weshalb sich seine Kritiker an ihm abarbeiteten und den alten Vorwurf einer angeblichen Unterstützung des »Schlächters Milosević« reproduzierten.
Heute hat Ahmed Dienst, mein Lieblingskellner im türkischen Café. Es wird betrieben von einem großen Clan. Alle sind miteinander verwandt, unzählige Brüder, Onkel, Cousins – nur Männer bedienen hier. Ich kenne die meisten seit Jahrzehnten, hart arbeitende Menschen in ihrem Alltag, alles andere als kriminell. Aber das ist nur die eine Ansicht eines Vexierbildes. Wenn man es kippt, erscheint eine andere Figur: die Clanstruktur. Dieses Cafe ist, neben anderen Gastronomiebetrieben der Kleinstadt, Teil einer Geldwäschemaschinerie. Zu Beginn wurden die wirklichen Verhältnisse gelegentlich sichtbar. Es kamen drei graue Männer – das ist nicht metaphorisch gemeint, sie sahen tatsächlich so aus, irgendwie identisch, hochgewachsene Gestalten in grauen Anzügen. Wenn sie auftauchten, gingen die Jungs in die Knie und küssten ihnen die Hände mit den dicken Ringen. Szenen wie aus einem Mafia-Spielfilm. Inzwischen lassen sich die Geschäfte aus der Ferne steuern, der Hintergrund bleibt unsichtbar. Ich höre nur gelegentlich, dass wieder ein Onkel aus Istanbul einen Betrieb zugekauft hat. Dann wandert ein Teil der Kellner dorthin und eine neue Besetzung erscheint in meinem Café. Ich arbeite hier, ebenso wie die Jungs. Alle kennen die sonderbare Frau, die im Wintergarten für Raucher sitzt und schreibt.
Die erweiterte Demokratie – Teil III
Für den Liberalismus ist Gemeinschaft nicht das Ergebnis eines bewussten gemeinsamen Wollens, sondern in sich absichtsloser Einzeltaten. Dem steht der Demokratismus entgegen, der die Gemeinschaft nach menschlichen Ideen konstruieren will. Für ihn werden die individuellen Handlungen erst mittels der sie verbindenden, gemeinsam beschlossenen Ideen zu Elementen eines sozialen Ganzen. Anstelle des als naturähnlich empfundenen »Marktmechanismus« tritt hier das menschliche Ideal, das mit Hilfe der Staatsgewalt auch gegen sich widersetzende Minderheiten durchgesetzt wird. Beide Lager können sich mit ihrer Meinung auf beobachtbare Tatsachen stützen. Soziale Einrichtungen wie die Menschenrechte, das Eigentum oder die Sozialversicherung sind unzweifelhaft Produkte des menschlichen Geistes und verdanken ihre Wirksamkeit der staatlichen Gewalt. Sobald er sich wirtschaftlichen Zusammenhängen zuwendet, stößt der Demokratismus jedoch an eine natürliche Grenze. Hier stehen seinem Universalanspruch die ökonomischen Instinkte entgegen, welche die Fruchtbarkeit individueller Freiheit notgedrungen anerkennen müssen. Mag der auf Meinungsbildungs- und Abstimmungsverfahren trainierte Verstand auch leugnen, dass ökonomische Prozesse nicht demokratisch geregelt werden können – die leiblichen Bedürfnisse sprechen doch ihre eigene Sprache.
Weitere Aspekte zur Sozialen Dreigliederung in methodischer Hinsicht
Rudolf Steiners Schrift ›Die Kernpunkte der sozialen Frage‹ (GA 23) und überhaupt seine gesamten sozialwissenschaftlichen Äußerungen erfordern eine Vertiefung des Denkens. Erst dadurch können ihre hochaktuellen Willensmotive und letztendlich ihre Bedeutung für ein neues Rechtsempfinden erfasst werden, wie in einem früheren Aufsatz darzustellen versucht wurde. Der folgende Aufsatz widmet sich einigen Aspekten sozialer Gestaltung, wie sie aus Steiners eigenem sozialen Wirken unmittelbar abgelesen werden können.
Vom »leeren Phantom« der Wahlfreiheit zur freien Entscheidung
Es ist nicht leicht, den beweglich-prozesshaften Gedanken Rudolf Steiners im ersten Kapitel seiner ›Philosophie der Freiheit‹ zu folgen. Dort setzt er sich mit David Friedrich Strauß, Herbert Spencer und Baruch de Spinoza als Freiheitsgegnern auseinander. Eva-Maria Begeer-Klare führt in einer feinen und überzeugenden Art einen Weg durch diese Gedanken und Argumente, sie ruht auf ihnen, wendet sie in die eine und die andere Richtung. Was bei Steiner in wenigen Seiten abgehandelt ist, entwickelt sich in ihrem abwägenden Denken zu einer ganzen Welt.
Forum für Auszubildende & Studierende
Unmittelbar nachdem die ›Philosophie der Freiheit‹ erschienen war, überbrachte Rudolf Steiner sie am 14. November 1893 persönlich dem von ihm hochgeschätzten Eduard von Hartmann. Dieser machte sich sogleich an die Lektüre und konnte Steiner seinerseits schon eine Woche später sein mit ausführlichen Randbemerkungen versehenes Exemplar zur Ansicht übersenden. In diesen Randbemerkungen kommt Hartmann zu einer wahrhaft vernichtenden Beurteilung der ›Philosophie der Freiheit‹, die er zusammenfassend als »Unphilosophie« bezeichnet. Mit diesem Urteil setzte sich Steiner erst 1917 in dem Aufsatz ›Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die gegenwärtige Erkenntnistheorie. Persönlich-Unpersönliches‹ auseinander. Dort meint er, Hartmann habe zwar geahnt, dass die ›Philosophie der Freiheit‹ aus dem Begrifflichen hinausführe, doch höre für diesen jede Philosophie dort auf, wo für ihn das beginne, was er später als die höheren Erkenntnisarten beschreiben sollte.
Johannes Rudbeck (*1581 in Ormästa/Örebro – †1646 in Västerås)
Der Mälarsee verbindet Stockholm mit der 80 km entfernten, mehr als tausendjährigen Stadt Västerås. Mit einer schwedischen Reisegruppe besichtige ich die 1271 erbaute riesige Domkirche, deren Turmspitze 100 m hoch in den Himmel strebt. 1417 erhielt sie mit rotem und weißem Backstein ihr heutiges Aussehen. Der Innenraum wirkt intim. Besonders fallen das große Kruzifix auf, das schon 700 Jahre auf dem Lettner steht, der Sarkophag von König Erik XIV. (1533–1577) – einem Sohn Gustav I. Wasas, der von seinen Halbbrüdern Johann und Karl entmachtet wurde – und die drei farbigen Glasfenster der Künstlerin Randi Fisher (1920–1997) aus dem Jahr 1961 ›De tre stegen‹ (Die drei Stufen), deren Licht eine fast überirdische Stimmung hervorruft. Doch mahnt die Reiseleiterin zur Eile, und beim Heraustreten auf den Domvorplatz erst bemerke ich die Bronzeskulptur einer offenbar bedeutenden Persönlichkeit. Darunter steht der Name »Johannes Rudbeck«. Ein kleiner Engel auf seiner Schulter spricht zu ihm und weist auf die Sonne. Mit halbem Blick sehe ich noch die langgestreckten Gebäude hinter dem Dom und den Biskops gård, den Bischofshof. Der Bus wartet schon, und so bleibt nur die Frage: Was habe ich da eigentlich gesehen?
Zur Ausstellung ›Elementarteile‹ im Sprengel Museum Hannover
Was ist Kunst? Wie entsteht sie? Woraus besteht sie? Worauf bezieht sie sich? Wovon erzählt sie? – Diese Ausstellung wirft unzählige Fragen auf und gebiert mit jedem Versuch einer Antwort doch nur neue Fragen. Der Titel ›Elementarteile‹ allerdings könnte zu einer falschen Antwort verleiten – als ob Kunst aus der Summe der Teile erklärbar wäre. Das ist sie eben nicht. Es gehört vielmehr zu ihrem Wesen, dass künstlerische Werke als Ganzes wirken und sich nicht durch Zerpflücken erklären lassen.
Freies Geistesleben in der DDR – Teil II
Bückware. Wer in der DDR aufgewachsen ist, kennt diesen Begriff. Sie war nicht so leicht zu haben, oft eben nur unterm Ladentisch. Dass sich der damit angezeigte Mangel auch auf Bücher bezog, und nicht nur auf Bananen etc., verweist auf einen aus heutiger Sicht nachgerade beneidenswerten Bedarf der Bürger dieses Leselandes (wie es sich, übrigens nicht zu Unrecht, offiziell gern nannte). Die seit den 70er Jahren in regelmäßigen Abständen erscheinenden literarischen Tagebücher Hanns Cibulkas (1920–2004) gehörten zu dieser so begehrten Bückware. Ihre Titel verweisen meist auf ihre landschaftliche Bezogenheit, auf Rügen und Hiddensee sowie die thüringische Wahlheimat des in den Nachkriegswirren aus dem sudetischen Altvatergebirge Ausgesiedelten: ›Sanddornzeit‹, ›Dornburger Blätter‹, ›Seedorn‹, ›Swantow‹ ... Diese schmalen Büchlein haben auf eine stille und konsequente Weise vorbereiten geholfen, was heute mit Recht als friedliche Revolution gerühmt wird. Worin aber bestand die ganz besondere Brisanz dieser Bücher? Was war ihre Botschaft und wie war sie »verpackt«, damit sie im zensierten Buchmarkt der DDR überhaupt erscheinen konnte?
Das theosophische Fotoalbum Wilhelm von Hübbe-Schleidens
Fotoalben sind zumeist höchst persönliche Sammelstellen für Dokumente eines individuellen Lebensganges. Vom Reisebericht bis zur Familienchronik machen sie private – und oft auch mehr als nur private – Geschichte sichtbar. Das Rudolf Steiner Archiv beherbergt mehrere eigens angelegte Fotoalben mit thematischer oder personeller Orientierung, etwa solche mit historischen Aufnahmen vom Bau des ersten Goetheanums oder mit Bildern ehemaliger Mitarbeiter der Nachlassverwaltung. Ein ganz besonderes, schon als Objekt historisch wertvolles Exemplar ist ein 2009 an das Archiv gekommenes Fotoalbum aus dem Nachlass Wilhelm von Hübbe-Schleidens, einem der Pioniere der theosophischen Bewegung in Deutschland, das insgesamt über fünfzig Fotografien und Postkarten der bekanntesten Persönlichkeiten dieser Bewegung enthält, immer wieder mit handgeschriebenen Widmungen, etwa für den »lieben [theosophischen] Bruder« (dear brother) Hübbe-Schleiden versehen.
Zum 11. Forschungskolloquium Meditationswissenschaft am 9. November 2019 in Stuttgart
Am 9. November 2019 veranstaltete die Akanthos Akademie im Rudolf Steiner Haus in Stuttgart das 11. Forschungskolloquium Meditationswissenschaft zum Thema ›Von der Natur zur Geisterkenntnis – ein methodischer Vergleich zwischen Goetheanismus und Bildekräfteforschung‹. Durch die Beiträge von Laurens Bockemühl, Ulrike Wendt, Markus Buchmann und dem Verfasser sowie in Gesprächsgruppen und einer Podiumsdiskussion wurden etliche Gemeinsamkeiten, aber auch einige wesentliche Unterschiede zwischen diesen beiden Forschungsmethoden deutlich. Weitere Fragen zu diesem Thema wurden in einer intensiven Nachbesprechung aufgegriffen.
Eine Einweihungskrise in Briefen
Wie aus einer anderen Welt
Gibt es Spiel ohne Ernst?
Zur Ankündigung der ›Steiner Studies‹ in die Drei 11/2019 // Zu Johannes Mosmann: ›Der blinde Fleck der Gesellschaftskritik – Die erweiterte Demokratie Teil I‹ in die Drei 11/2019
Der anthroposophische Schulungsweg bildet eines der Kernthemen unserer Zeitschrift. Dabei ist es uns ein Anliegen, authentische Erfahrungsberichte und konkrete Übungsvorschläge zu veröffentlichen, die nachvollziehbar machen, wie dieser Weg begangen werden kann. Und auch, dass dieser Weg nicht von der Welt entfremdet, sondern im Gegenteil erst recht mit ihr vertraut macht, indem er eine Begegnung mit ihrem wahren Wesen ermöglicht.
Die erweiterte Demokratie – Teil IV
Der moderne Mensch stellt sich der Welt als ein Ich gegenüber. Innerhalb seines Ich erlebt er die Ideenwelt. Was sich demgegenüber vor seinen Sinnen ausbreitet, zählt er zu einer unabhängig von seinem Ich existierenden Außenwelt. Sein Nachdenken über die Sinneswahrnehmungen führt ihn allerdings dazu, in diesen Modifikationen seines Gehirns durch eine Außenwelt zu sehen, die ihrerseits nicht unmittelbar wahrnehmbar ist. Die Wirklichkeit hinter der Farbe Rot etwa stellt er sich als Prozess auf molekularer, photochemischer und elektrischer Ebene vor. Ein solcher Zusammenhang ist nicht den Sinnen als Wahrnehmung, sondern dem Denken als Idee gegeben. Statt dem Inhalt seiner Sinneswahrnehmungen spricht er somit seiner Idee eine vom Bewusstsein unabhängige Existenz zu. Sie ist für ihn ein unveränderliches »Naturgesetz«. Ganz anders dagegen die Kulturideen, von den religiösen Inhalten bis zu den Menschenrechten: Diese erlebt der Gegenwartsmensch als willkürliche Produkte seines Geistes.
›Ekta Parishad‹ als Beispiel einer sozialen Bewegung
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging und unsere Eltern glaubten, wir seien nach Ausbombung, Evakuierung und Flucht »angekommen«, wurden uns Kindern kleine Gartenbeete zum Bestellen und Pflegen zugeordnet. Da wir in diesen ersten Nachkriegsjahren oft Hunger hatten, säten wir schnell Wachsendes und direkt Essbares, Radieschen und Möhren. Neugier und Hunger ließen mich beim Hervorsprießen der ersten Blätter die Pflänzchen herausziehen – wenigstens ein kleines bisschen – um zu sehen, ob sich schon etwas Rotes, Essbares zeigte. Ich lernte aus dieser pädagogischen Maßnahme meiner Eltern, dass die Keimblätter, also die allerersten Blätter, stets anders aussehen als die der späteren Pflanze, und ich erlebte, dass unvorsichtiges Hinschauen einen Wachstumsprozess gefährden und abbrechen kann.
und sein Zusammenhang mit dem Ereignis der Begegnung Goethes mit Schiller
Am 1. September 1919 schrieb Rudolf Steiner seinem jungen Mitarbeiter Hans Kühn einen vierzeiligen Spruch als Widmung in dessen Exemplar seiner im Frühjahr 1919 erschienenen Schrift ›Die Kernpunkte der sozialen Frage‹. Auch im Kontext des gesamten Reichtums der sogenannten ›Wahrspruchworte‹ Rudolf Steiners zeigt dieser Spruch eine besondere Beziehung zur sozialen Frage, weil er in methodischer Klarheit die Notwendigkeit »innerer« Seelenentwicklung mit dem zu entwickelndenVermögen »äußerer« sozialer Gestaltung verbindet: »Suche im Innern das Lichtvolle / Und du findest die Welt; / Suche im Äußern das Sinnvolle / Und du findest dich selbst.« Es ist kein Zufall, dass Steiner diesen Spruch mit dem Weg nach »Innen« beginnt, vielmehr zeigt sich darin etwas Grundlegendes seiner »Freiheitsmethode«. In seinem philosophischen Hauptwerk ›Die Philosophie der Freiheit‹ bemerkt er in Bezug auf Schillers an Goethe gerichtetes Gedicht ›Die Übereinstimmung‹: »Von Schillers bekannten zwei Wegen: ›Wahrheit suchen wir beide; du außen im Leben, ich innen / In dem Herzen, und so findet sie jeder gewiß. / Ist das Auge gesund, so begegnet es außen dem Schöpfer, / Ist es das Herz, dann gewiß spiegelt es innen die Welt‹ wird der Gegenwart vorzüglich der zweite frommen. Eine Wahrheit, die uns von außen kommt, trägt immer den Stempel der Unsicherheit an sich. Nur was einem jeden von uns in seinem eigenen Innern als Wahrheit erscheint, daran mögen wir glauben.«
Das Frühwerk Rudolf Steiners mit seiner Entwicklung und Darstellung eines lebendigen Denkens ist einem Samen vergleichbar, der – indem er aufgeht und zur Pflanze sich entfaltet – in die geistige Welt hineinzuwachsen vermag. Steiner hatte gezeigt, dass das menschliche Denken sich so selbst ergreifen und durch innere Kräfte entwickeln kann, dass es eine Brücke zur geistigen Welt bilden kann. Allerdings wurde er in diesem Ansatz nicht verstanden. Dies trug wesentlich zu der Krise bei, die Rudolf Steiner am Ende des 19. Jahrhunderts durchlebte und die in der Fragestellung: »Soll man verstummen?«, wie er sie dann in seinem ›Lebensgang‹ formulierte, gipfelte. Offensichtlich war da ein Schritt in der Geistesgeschichte der Menschheit getan worden, der seiner Zeit vorausging.
Obwohl dem so war und Rudolf Steiner biografisch ab 1900 den Weg über die Theosophische Gesellschaft wählte, die ihrerseits durch ihre Geschichte mit Elementen verbunden war, die nicht aus dem mitteleuropäischen Geistes- und Gedankenleben stammten, entwickelte er die Anthroposophie so, dass sie in der ganzen Art, wie er sie selbst erforschte und darstellte, immer vom Denken getragen war. Das heißt, bei seinem eigenen geisteswissenschaftlichen Forschen ging er vom Denken aus und nutzte dieses als Brücke in die geistige Welt.
Ich-Wille und Himmelsgaben im Denkprozess
Die allgemeine Auffassung von den Möglichkeiten und dem Wesen des Denkens beschränkt sich heutzutage fast flächendeckend auf dessen intellektuelle Komponenten – wie das Sammeln von Gedanken und Wissen, das Verfassen kritischer Analysen, das Auffinden von Kausalitäten oder das Erstellen von Meinungen und Urteilen. Spirituelle Kräfte des Denkens bleiben dabei unbeachtet, sei es aufgrund einer materialistischen Leugnung des Geistigen überhaupt oder einer Unkenntnis vom Denken als Ganzem in vielen, auch spirituell offenen Kreisen.
So widerfährt dem Denken eine Missachtung. Da für den spirituellen Fortschritt der reine Intellekt verständlicherweise als Hindernis erlebt wird, will man häufig das Denken überhaupt vermeiden. Andererseits wird wenig gezögert, den Intellekt in Form einer berechnenden Raffinesse bis zum Äußersten auszureizen, um damit egoistische Ziele wie beispielsweise wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen. Der Respekt dem Denken gegenüber ist somit weitgehend geschwunden, und so scheint es auch kein besonderer Schritt zu sein, digitale Funktionen an dessen Stelle setzen zu wollen. Auf diese Weise verliert aber der Mensch den Bezug zu seinem eigenen Denken. Es entgleitet ihm und stürzt ab. Dem Einzug von Lügen und der weit verbreiteten Fake-News sind damit alle Türen geöffnet.
Tore der Seele zur Bildekräftewahrnehmung
Wer sich mit Fragen der inneren Schulung beschäftigt, schaut auf ein weites Feld verschiedenster Aspekte und Ansätze. Ich möchte mich in diesem Beitrag auf einen kleinen Ausschnitt beschränken. Dabei gehe ich von Erfahrungen in der Bildekräfteforschung aus.
In der Bildekräfteforschung wird ein innerer Übweg veranlagt, der zur Wahrnehmung im Bereich des Ätherischen und der angrenzenden Gebiete des Seelisch-Geistigen befähigen soll. Dieser Übweg trägt alle Charakteristika, die einen anthroposophischen Schulungsweg kennzeichnen: Er strebt eine bewusste, Ich-geführte Umgestaltung des eigenen Wesensgliedergefüges an, um nach und nach eine Verwandlung von Denken, Fühlen und Wollen zu ermöglichen.
Dabei wird zunächst und in besonders intensiver Weise an einem durchschaubaren Verhältnis zum eigenen Denken gearbeitet. Die Bedeutung einer Verlebendigung des eigenen Denkens hat Rudolf Steiner in immer wieder neuen Aspekten an seine Zuhörer und Leser herangebracht, er ist eines der zentralen Themen in seinem Werk.
Zu den Erlebnisstufen des anthroposophischen Meditationsweges
Früh erlebte ich es als sehr beschämend, wenn es hieß, Rudolf Steiner habe wohl geistig schauen können, seine Schüler aber seien Epigonen, und die von ihm gelehrten übersinnlichen Forschungsfähigkeiten seien bei ihnen ausgeblieben. Der Schulungsweg wurde mir umso wichtiger. Er vollzog sich dann in 12-Jahres-Stufen mit folgenden Schwerpunkten: 12 Jahre Studium, ethisches Bemühen, phänomenologische Wahrnehmung, verschiedene Übungen, Schwellenkrisen und erste geistige Erlebnisse (1976 bis 1988); 12 Jahre – nach Einrichtung eines kontinuierlich täglichen Meditationslebens – Erfahrungen meditativen Wahrnehmens an Übungen aus ›Wie erlangt man ...?‹, erste Wesenserlebnisse (1989 bis 2001); 12 Jahre Differenzierungsarbeit im anfänglichen Erleben der Imagination, Inspiration und Intuition an Sozialem, der Natur und dem Jahreslauf (2003 bis 2015); und – vermutete – 12 Jahre des Einlebens in Beziehungen zu verschiedenen Wesen (2015 bis 2027). Dabei bestätigte sich mir im Erleben die Stufung des anthroposophischen Schulungsweges:3 1. Studium; 2. Imagination; 3. Inspiration; 4. Intuition; 5. Beziehungsbildung zwischen Mikrokosmos (Ich) und Makrokosmos (geistige Welt und ihre Wesen); 6. Einswerden mit dem Makrokosmos; 7. Gottseligkeit, als Weg vom verfeinerten Wahrnehmen zur verfeinerten Verbundenheit.
Zu Andreas Neider: ›Denken mit dem Herzen – Wie wir unsere Gedanken aus dem Kopf befreien können‹
Viele Entwicklungsschritte, die heute notwendig sind, kann man auch an deren Gegenbildern und den damit zusammenhängenden Gegenwelten erkennen. Gerade wenn man mit der Frage lebt, wie wichtig bestimmte Entwicklungsschritte sind, kann der Blick auf die Gegenbilder von zentraler Bedeutung sein.
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Zu Anna Seydel: ›Stirb und Werde‹
An die Seite ihres vor zehn Jahren erschienenen spirituell-praktischen Büchleins ›Ich bin du. Kindererkenntnis in pädagogischer Verantwortung‹ (Stuttgart 2009) stellt die erfahrene Klassenlehrerin Anna Seydel nun eine Reihe von Studien vor, die aus ihrer anthroposophischen Grundlagen-Arbeit hervorgegangen sind. Sie vereinigen sich unter dem Gesichtspunkt des von Rudolf Steiner beschriebenen rosenkreuzerischen Schulungs- und Erkenntnisweges.
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Ein Bekenntnis
Seit Jahrzehnten dasselbe Erlebnis: Ich schaffe es nicht, die sogenannte Willensübung durchzuführen. Warum? Weil mir das Gleiche widerfährt wie im Sportstudio auf Laufbändern, Fahrrädern oder anderen Ertüchtigungsgeräten. Ich leide am Stumpfsinn der Tätigkeit, sie langweilt mich in ihrer Routine. Über kurz oder lang fühle ich mich wie in einer Warteschleife, gebannt in einen sinnlosen, künstlichen Ablauf.