Annäherungen an die deutsche Volksgeistigkeit zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys
Die Stadt Utrecht in Holland war im 7. Jahrhundert ein Zentrum der iroschottischen und später der angelsächsischen Mission. Der Heilige Willibrord wirkte hier und wurde der erste Bischof von Utrecht. Bonifatius, der Willibrord aus England kannte, lernte bei ihm, als er seine Missionstätigkeit auf dem Kontinent begann. Die Friesen nördlich und nordöstlich von Utrecht, die sich lange der Christianisierung widersetzten, wurden von hier aus missioniert. Bonifatius – damals noch unter seinem Geburtsnamen Winfried – begann 716 in Utrecht seine Missionstätigkeit und beendete sie auch dort. 754 fand er, der als Apostel der Deutschen verehrt wird, bei Dokkum in Friesland einen gewaltsamen Tod. In Utrecht traf ich auch vor einiger Zeit einen 90-jährigen ehemaligen Waldorflehrer, der die Überzeugung vertrat, dass man, ohne die Bonifatius-Geschichte und die Bedeutung der Iroschotten im 6., 7. und 8. Jahrhundert zu kennen, die Verehrung Adolf Hitlers, dessen Machtergreifung und das nationalsozialistischen Terrorregime nicht verstehen könne. Damit sprach er etwas aus, das in meiner Seele lebte, und ermöglichte mir, meine Gedanken zu diesem Thema darzustellen.
Die Kunst und das Übersinnliche
Das Verhältnis von Joseph Beuys zu Rudolf Steiner und zur Anthroposophie ist bis heute ein heikles Thema. Auch in diesem Jahr, wo man den 100. Geburtstag des Künstlers zum Anlass nimmt, ihn noch einmal zu würdigen, wird es eher verschwiegen oder zur Polemik benutzt als differenziert ausgelotet. Kunsthistoriker und ehemalige Mitarbeiter von Beuys halten sich in diesem Punkt auffällig zurück und spielen dessen starke Verbindung zur Anthroposophie gern herunter. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die esoterische Weltsicht Steiners bis heute von einem Schatten umwölkt ist, dem viele lieber aus dem Weg gehen möchten. Waldorfschulen oder ›Demeter‹-und ›Weleda‹-Produkte werden zwar in der Öffentlichkeit durchaus geachtet, aber die Anthroposophie gilt vielen immer noch als dubiose Okkult-Lehre mit rassistischen Untertönen, die im Widerspruch zu unserer aufgeklärten Welt steht. Dazu hat auch die Beuys-Biographie des Schweizer Autors Hans-Peter Riegel beigetragen, der 2013 versuchte, Beuys als »braun« angehauchten Künstler zu entlarven, der seine Inspirationen dem »völkisch-nationalistischen Wertekanon« von Rudolf Steiner zu verdanken habe. Jüngst hat auch ›Der Spiegel‹ diese Vorwürfe wieder aufgegriffen und Steiner sogar in die Nähe zu dubiosen »Querdenkern« unserer Tage gestellt, die etwa als Verschwörungstheoretiker oder QAnon-Anhänger die Corona-Maßnahmen der Regierung bekämpfen. In dem Artikel wird behauptet, dass Beuys »seine Weltanschauung beim Großesoteriker Rudolf Steiner regelrecht abgeschrieben« und dessen völkischen »Geisterglauben ans Deutsche« mit seinem Werk fortgesetzt habe. Solche plakativen Anschuldigungen wie auch das Herunterspielen des anthroposophischen Hintergrundes des Künstlers an anderer Stelle zeigen nur die große Verlegenheit gegenüber dem komplexen Thema »Beuys und Steiner«, was ich zum Anlass nehmen möchte, einmal genauer hinzuschauen.
Anmerkungen zur ›Straßenbahnhaltestelle‹
Die Menschheit wandert. Ihre Vorhut geht einem spirituellen Zeitalter entgegen. Hinter ihr liegt eine lange Epoche des Schweigens der geistigen Welt. In der oft entsagungsvollen Stille konnte das freie Selbstbewusstsein des Individuums heranreifen. Die allgemeinen Menschenrechte wurden schließlich proklamiert, aber sie sind längst nicht weltweit etabliert, geschweige denn gesichert und deshalb überall bedroht. Tatsächlich ist gegenwärtig das ganze Leben des Planeten und der Menschheit gefährdet. Eine Bewältigung dieser Gefahr kann von einem Erwachen zur nächsten an die Sinneswelt angrenzenden übersinnlichen Welt erhofft werden – doch das wird keinesfalls einfach sein.Mit neunzig Jahren hat der Sozialphilosoph Jürgen Habermas unlängst ein über anderthalbtausendseitiges zweites Hauptwerk veröffentlicht. Es behandelt das Verhältnis von Glauben und Wissen und repräsentiert das erwachte Selbstbewusstsein des Individuums. In jener Epoche, in der dieses Bewusstsein stark geworden ist, klaffte der Graben zwischen Glauben und Wissen immer weiter auseinander. Künftig wird er dadurch überwunden werden, dass anstelle des Glaubens zunehmend die spirituelleErfahrung treten wird. Die Geisteswissenschaft hat dazu die Grundlage geschaffen. Aber die Übergangszeit wird lange währen. Was Habermas immer noch in der Philosophie ist, war seinerzeit der acht Jahre ältere Beuys in der Kunst: Ein weltweit wirkender gebürtiger Deutscher. Beide stehen für die Aufgabe, jenes Denken und Tun voranzubringen, das einen Übergang zur nächsten Menschheits-Epoche in Freiheit ermöglicht.
Eine Besichtigung
»Global gesehen ist die Coronakrise jedoch, wenn man den Prozentsatz der betroffenen Weltbevölkerung betrachtet, [bisher] eine der am wenigsten tödlichen Pandemien, die die Welt in den letzten 2000 Jahren erlebt hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Folgen von Covid-19 in Bezug auf Gesundheit und Mortalität im Vergleich zu früheren Pandemien relativ gering sein, es sei denn, die Pandemie entwickelt sich noch auf unvorhersehbare Weise.« Nach fast 300 Seiten, auf denen uns Klaus Schwab und Thierry Malleret die Ungeheuerlichkeit der Pandemie erklärt haben, ziehen sie in ihrem Buch ›COVID-19: Der große Umbruch‹ (Originaltitel: ›COVID-19: The Great Reset‹) im Kapitel ›Schlussfolgerung‹ diese Bilanz. Ist das zu verstehen? Und wenn ja, wie?
Eine Betrachtung in Zeiten des pandemiebedingten Exekutivregimes
Im Jahre 2019, einem Jubiläumsjahr unseres Grundgesetzes, wurde in weiten Teilen des politisch-medialen Komplexes das Grundrechtsbewusstsein der Deutschen beschworen. So proklamierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede vom 22. Mai 2019: »Unser Grundgesetz – das ›Lieblingsbuch der Deutschen‹ […] muss sich gerade dann behaupten, wenn es hart auf hart kommt. Hätten wir in einer solchen Phase genügend Verfassungspatrioten? Ich meine Ja.« Dass es seit einem Jahr tatsächlich »hart auf hart« gekommen ist und noch weiterhin kommt, ist offensichtlich. Von den »Verfassungspatrioten« allerdings war bislang – außer auf sogenannten »Hygiene-Demos«, soweit sie von den örtlichen Behörden zugelassen wurden – öffentlich wahrnehmbar eher wenig zu sehen und zu hören. In einem Gastbeitrag in der ›Süddeutschen Zeitung‹ vom 22. Mai 2020, genau ein Jahr nach der bewussten Rede, schrieb Steinmeier, vielleicht als Ermutigung: »Kritik ist nicht reserviert für coronafreie Zeiten.« Dem kann beigepflichtet werden, genauso wie seiner Forderung, dass »wir eine lebendige, strittige Debatte, eine starke Opposition im Parlament und eine kritische Öffentlichkeit« brauchen.
Eine anthroposophische Zumutung
Das gegenwärtige Alltagsleben ist so tief wie nie in der Geschichte von flächendeckenden hygienischen Zwangsmaßnahmen geprägt. Diese Maßnahmen begleitet ein bemerkenswertes Phänomen: Viele Vertreter spiritueller Strömungen sind bemüht, ein Bild der von ihnen jeweils repräsentierten Strömung zu vermitteln, das so gut wie möglich mit jenen Maßnahmen konvergiert. Auf diese Weise entstehen groteske Inszenierungen, die ihresgleichen suchen: Geistliche Würdentr.ger, die Gotteshäuser schließen, Seelsorge verweigern, sich öffentlich impfen lassen oder ein totalitäres Gesundheitsregime befürworten, waren bis vor Kurzem kaum vorstellbar gewesen. Warum? Weil das Menschenbild, von dem ausgehend die flächendeckenden hygienischen Zwangsmaßnahmen in Windeseile das gegenwärtige Alltagsleben umgekrempelt haben, die schrillsten Widersprüche zu jenem offenbart, das alle spirituellen Strömungen bisher als grundlegend voraussetzten. Dieses Menschenbild ist nämlich – wenn vorurteilslos und quellenbewusst wahrgenommen – mit einem »großen Umbruch« der Gesellschaft absolut unvereinbar, der sich zuvörderst an obsessiver Angst vor Krankheit und Tod orientiert.
War Joseph Beuys der erste deutsche Querdenker? So fragte unlängst besorgt ›Der Spiegel‹. In früheren Zeiten wäre dergleichen ein verklausuliertes Kompliment gewesen. Heutzutage, wo der Begriff des »Querdenkers« von einer Bewegung vereinnahmt wird, die auch zweifelhafte Elemente mit einschließt, und gleichzeitig das juste milieu einem rigorosen Konformismus huldigt, ist das ein schwerwiegender Vorwurf. Geistiges Abweichlertum wird in unserer FDGO inzwischen fast so hart verurteilt wie weiland im real existierenden Sozialismus, als Diamat und Histomat das Denken regulierten – mit dem Unterschied, dass der gegenwärtige Materialismus weder historisch noch dialektisch fundiert ist. Wozu auch? Anders als die Marxisten der Vergangenheit sehen sich die modernen Glaubenswächter nicht mehr im Wettbewerb verschiedener Weltanschauungen und reflektieren auch nicht, dass sie Materialisten sind, sondern wähnen sich einfach auf Seiten der »Wissenschaft«. Schon das Grundmotiv der Dialektik, dass man zur Wahrheit nur durch den Widerspruch gelangt, ist im Zeitalter der Alternativlosigkeit überholt. Wer auf der richtigen Seite steht, braucht von der anderen nur zu wissen, dass sie falsch ist.
Zum Jubiläumsheft ›100 Jahre die Drei‹ 1/2021
Gemeinsame Vergangenheit und heutige Konflikte
Reisen des Geistes in Raum und Zeit
Existenzielle Auseinandersetzung
Please. Was für ein schönes, was für ein liebenswürdiges und zugleich starkes Wort! So viele Male habe ich das Wort gehört und gesagt und bin ihm doch nie wirklich begegnet. Es beginnt mit einer Explosion und endet inständig und leise. Es besteht nur aus einer einzigen Silbe, und doch sagt diese alles, was es zu sagen gibt. Das Wort hat etwas Unausweichliches, Eindringliches, vielleicht sogar Forderndes, aber es sagt es auf die sanfte Art. Ohne Umschweife wendet es sich an das angesprochene Du.
Anmerkungen zu Heiner Müller (1929–1995)
Ich habe ihn in der Tat erst in den vorrevolutionären Wochen von 1989 für mich entdeckt; natürlich nicht den ganzen Heiner Müller. Vorerst waren es, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, die Teile I bis III der ›Wolokolamsker Chaussee‹, packend inszeniert vom Ensemble des Potsdamer Hans-Otto-Theaters, das damals noch im bald für marode erklärten Haus in der Zimmerstraße auftrat. So dicht, so auf uns zugeschnitten – das gilt auch für die zur selben Zeit gezeigten Stücke der Perestroika-Autoren Tschingis Aitmatow und Wladimir Tendrjakow – habe ich Theater nie wieder erlebt, meilenweit entfernt von der nachrevolutionären Beliebigkeitskost, die mich erstmals veranlasste, eine Vorstellung vorzeitig zu verlassen.
Zu Agnes Hirschi & Charlotte Schallié (Hrsg.): ›Unter Schweizer Schutz‹
Dramatische Umstände bringen es bisweilen mit sich, dass durch ein bestimmtes Ereignis oder an einem bestimmten Ort Schicksalsfäden wie durch einen Knoten verbunden werden. Solch ein Ort war 1944 in Budapest das sogenannte »Glashaus«, in dem damals die Auswanderungsabteilung der Schweizer Gesandtschaft residierte und wo seit 1942 Carl Lutz (1895– 1975) als Vizekonsul tätig war. Zu dieser Zeit wurden die Juden in Ungarn durch eine Vielzahl von Gesetzen drangsaliert, die durchaus ähnlich den Nürnberger Rassegesetzen waren. Innerhalb von zwei Jahren organisierte Lutz die legale Ausreise von ca. 10.000 jüdischen Kindern nach Palästina. Mit der Besetzung durch die Deutschen im März 1944 wurde die Lage der ungarischen Juden vollends prekär: Adolf Eichmann reiste persönlich an, und binnen Wochen wurden Hunderttausende deportiert. Schon Ende Juli existierte lediglich in Budapest noch eine jüdische Gemeinde.
Zu Max Brod: ›Heidentum – Christentum – Judentum‹
Wenn wir versuchen wollen, Max Brod (1884– 1968) und sein vor 100 Jahren erschienenes Buch ›Heidentum – Christentum – Judentum‹ zu verstehen und zu bewerten, müssen wir uns in die damalige Zeit hineinversetzen. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel 1918 die österreichisch-ungarische Monarchie auseinander und Prag, Brods Heimat, wurde Hauptstadt der Tschechoslowakei. Brod bemühte sich um die Rechte der jüdischen Minderheit, indem er im neugegründeten Jüdischen Nationalrat mitarbeitete, einige Zeit lang als Vizepräsident. Es fragt sich, ob die Reihenfolge der Weltanschauungen im Titel bereits eine Wertung enthält, denn man ist geneigt, ›Heidentum – Christentum – Judentum‹ als eine Steigerung anzusehen. Das war bei Brod nicht der Fall, wie dieses kämpferische Werk deutlich macht.
Zu Judith von Halle: ›Schwanenflügel – Eine spirituelle Autobiographie‹
Das Phänomen Judith von Halle erregte – und erregt vielleicht auch immer noch – die anthroposophischen Gemüter. Sie hatte im Jahre 2004, während ihrer Tätigkeit als Sekretärin im Berliner Arbeitszentrum der Anthroposophischen Gesellschaft, Stigmata bekommen. Fragen brachen auf: Ist es angemessen, derart starke übersinnliche Erlebnisse zu haben? Und dann noch Stigmata? Ist das auf dem anthroposophischen Schulungsweg überhaupt so vorgesehen? Ist es »sauber«? Vor allem in den Jahren 2004 bis 2006 haben sich viele Anthroposophen dazu positioniert. Judith von Halles eigenes Verhalten im Zusammenhang mit dem anderer Vertreter der Anthroposophischen Gesellschaft, oder auch einfach ihr So-Sein, führte zu einem tiefen Riss im Berliner Arbeitszentrum, ja zu einem Skandal, der es bis in die Schlagzeilen des ›Spiegel‹ schaffte. Seit 2006 lebt Judith von Halle in Dornach und hat dort, auf dem Fundament ihrer übersinnlichen Forschungen, zahlreiche Bücher publiziert. – Mit alledem im Hintergrund habe ich ihre Autobiografie ›Schwanenflügel‹ gelesen. Dabei war es mir wichtig, diese Kenntnisse auch tatsächlich im Hintergrund zu halten und sie nicht in mein Lese-Erlebnis hineinspuken zu lassen.
Zu Sergej O. Prokofieff: ›Rudolf Steiner – Fragment einer spirituellen Biografie‹
Wie das vor zwei Jahren hier ebenfalls besprochene Buch ›Rudolf Steiner und die Meister des esoterischen Christentums‹1 erschien im vergangenen Jahr posthum ein weiterer Titel von der Hand Sergej O. Prokofieffs: ›Rudolf Steiner – Fragment einer spirituellen Biografie‹. Fragment blieb diese 1984 begonnene Arbeit über frühere Inkarnationen Rudolf Steiners, weil der Autor die geplanten Kapitel über Ephesos, Athen, die Gralszeit und das scholastische Hochmittelalter zu Lebzeiten nicht hatte ausführen können. Zu den erhaltenen drei Kapiteln über die Menschheitslehrer und die Mission Rudolf Steiners, über das Gilgamesch-Epos sowie über Enkidu und die nathanische Seele fügte er im Jahr 2014, kurz vor seinem Tod, ein viertes Kapitel hinzu, in dem er den karmischen Werdegang Rudolf Steiners zusammenfassend betrachtet – anstelle der ungeschriebenen Teile. Dieses letzte Kapitel verfasste er in deutscher Sprache, während die drei zuerst genannten Kapitel von Hans Hasler aus dem Russischen übersetzt wurden. Das ist erwähnenswert, weil die durch Hasler erreichte deutsche Sprachform dem Leser erfreulich entgegenkommt.
Zu Andrej Belyj: ›Istorija stanovlenija samosoznajuščej duši‹ [= ›Geschichte des Werdens der Selbstbewusstseinsseele‹]
Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass das Erscheinen von Andrej Belyjs bislang nur fragmentarisch bekannter, monumentaler ›Geschichte des Werdens der Selbstbewusstseinsseele‹ an ein Wunder grenzt und in die Zuständigkeit nicht nur der Philologie, sondern auch der Archäologie fällt. Wie ein Skriptorium nimmt es sich aus, entdeckt bei einer Ausgrabung am Toten Meer, obgleich die Zeitspanne, die seine Niederschrift von unserer Gegenwart trennt, keine hundert Jahre beträgt. In seiner Heimat wie im Westen ist der Autor von ›Die silberne Taube‹ (1910) und ›Petersburg‹ (1913) vor allem als Dichter und Romancier bekannt. Man stellt ihn in eine Reihe mit James Joyce, Marcel Proust und John Dos Passos oder auch William Faulkner, zumal – schon ob seines zeitlichen Vorrangs – als primus inter pares. Weniger bekannt ist er als Kulturphilosoph und Zeitkritiker: als Autor der Studie ›Rudolf Steiner und Goethe in der Weltanschauung der Gegenwart‹ (1917) etwa, des meisterhaften Versuchs einer kritisch-philosophischen Letztbegründung der Anthroposophie, oder der drei zwischen 1916 und 1918 verfassten »Krisen« (›Die Krisis des Lebens‹, ›Die Krisis des Gedankens‹, ›Die Krisis der Kultur‹), die cum grano salis als Vorwegnahme von Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹ gelten dürfen.
Wie stehen wir heute in der Welt?
Ein kleiner Ausflug in die Sprache zu Beginn. Denn das Wort, das geteilte – an dem man miteinander Anteil nimmt – ist unsere In-Formation. Darin sind wir, wie die Zugvögel, auf Himmels- und Erdenreise. Wer fragt, nimmt Anteil am Leben des anderen. Wer dazu etwas sagt, spricht nicht über sich, sondern von sich aus – in den anderen hinüber. Darin sind beide eins im Gespräch. In der Formation, im Geist der Reise, im Unterwegssein des geistigen Lebens. Letzteres ist Begegnung: Intuition von Wesen, die einander durchdringend sich selbst erkennen, eins im anderen. Dieses große Du-Geschehen üben wir im Ich auf Erden, im Wort. Darum danke ich dir für deine Frage, die diesen Text entstehen lässt.Im Grunde sind es deine Worte, die – geistig ausgeflogen mit mir – nun wieder heimkehren zu dir. Aber es ist noch ein Dritter im Spiel, und wie wunderbar, dass du mit diesem ebenfalls in Kontakt stehst und so seinem Wort unmittelbar begegnen kannst: Rudolf Steiner, dem die zunächst folgenden Gedanken verdankt sind.
Zu Rudolf Steiners Holzskulptur des ›Menschheitsrepräsentanten‹
Wer ist der »Menschheitsrepräsentant« – eine der vielen Begriffe, mit denen Rudolf Steiner die Mittelfigur seiner neun Meter hohen Holzplastik bezeichnete? Bin auch ich es? Ist es der durch Tod und Auferstehung gegangene Christus? Kann ich es werden, wenn ich mich mit ihm verbinde? Die Holzskulptur stellt diesen Menschheitsrepräsentanten in das Spannungsfeld zweier antagonistischer Kräfte, die zu Wesenheiten verdichtet sind: den sich ins Licht wie auflösenden Luzifer und den sich an die Erde bindenden Ahriman. Ersterer bleibt ganz im eigenen Innenraum von Kopf und Brust, ohne Verbindung zur äußeren Welt; mit ihm nimmt die schöpferische Phantasie ihren freien Lauf. Letzterer ergibt sich ganz den irdischen Kräften, die ihn zum Skelett erstarren lassen; seine fledermausartigen Flügel lassen keine geistigen Höhenflüge zu, wohl aber pragmatisches Denken und Handeln. Anders ausgedrückt: Folge ich allein Luzifer, gerate ich in eine Welt gefühlvoller Gedanken, die zur Illusion werden; folge ich ausschließlich Ahriman, schaffe ich eine automatenhafte Wirklichkeit, aus der das eigentlich Menschliche verschwindet.
Der folgende Beitrag lenkt den Blick auf das Mysterium der Materie. Diese lässt sich erst verstehen, wenn der Leibbegriff richtig gebildet wird. Draußen in der Welt sehen wir keine Materie, sondern nur Erscheinungen, die wir gewohnt sind, als »materiell« zu bezeichnen; sie hängen geistig jedoch mit dem zusammen, was wir selbst sind. Die Materie hingegen ist eine geistige Tatsache, die wir nur seelisch-innerlich in unserem Leibe aufsuchen können.
Über das Werden einer neuen Menschheit
Die Vorträge, die Rudolf Steiner über karmische Zusammenhänge im Jahre 1924 gehalten hat, stehen in einem besonderen Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nicht nur werden darin einzelne schicksalhafte Beziehungen von der Vergangenheit her bis zum ersten Viertel des 20. Jahrhundert aufgerollt, sondern wir werden auch mit Fragen konfrontiert, die unsere Gegenwart und Zukunft betreffen. Das ist vor allem der Fall, wenn wir an das gegenwärtig verstärkte, evolutionswidrige Erwachen von Rasseninstinkten und Nationalismen denken oder an die angestrebten, technisch veränderten biologischen Lebensformen wie den Cyborg oder an den viel diskutierten Transhumanismus. Denn in diesen Vorträgen geht es auch um die Stellung des Sonnenerzengels Michael bei der Frage der Bildung einer neuen Menschheit, jenseits des luziferisch inspirierten Rassismus oder Nationalismus und ahrimanischer Zukunftsvisionen. Ersterer ist Erbe einer vorindividuellen Seelenentwicklung und letzteres die Vorschau einer entindividualisierten Menschheit.
Ein Hinweis auf den anthroposophischen Kabbala-Forscher Ernst Müller
Dass Rudolf Steiner ein außerordentlich positives Verhältnis zu seinen jüdischen Schülern hatte, ist durch das Beispiel der beiden Stuttgarter Anthroposophen Carl Unger und Adolf Arenson weitläufig bekannt. Beide waren säkularisierte Juden, die wegen ihrer intellektuellen und philosophischen Begabungen schon in den frühen Jahren der anthroposophischen Arbeit Steiners Anerkennung und im Falle von Unger eine anhaltende, intensive Förderung erfahren haben. Beide waren überdies als Redner für die Verbreitung der Anthroposophie umfassend tätig. Während Unger nach dem Ersten Weltkrieg auch auf den wissenschaftlichen Kongressen der anthroposophischen Bewegung sprach, bemühte sich Arenson vor allem um die Erschließung des Vortragswerkes Rudolf Steiners. Unger publizierte überdies im Laufe seines Lebens zahlreiche philosophische Werke, die eine eigenständige Erschließung der Anthroposophie zum Ziel hatten und von Rudolf Steiner geschätzt wurden. Weniger bekannt ist hingegen, dass Rudolf Steiner auch religiöse Juden zu seinen Schüler zählte, die er ebenso förderte, und zwar im Hinblick auf die Erforschung des esoterischen Judentums, insbesondere der Kabbala. Um die Zusammenarbeit Rudolf Steiners mit einem solchen Schüler, dem aus Wien stammenden Ernst Müller, soll es im Folgenden gehen.
Udi Levy im Gespräch mit Israel Koren
Das über tausend Seiten starke, zweibändige Werk ›Judentum und Anthroposophie – Alte Streitigkeiten in neuem Gewand‹ (Tel Aviv 2019) von Israel Koren enthält eine tiefgreifende Darstellung und Kritik der Anthroposophie aus der Sicht eines jüdischen Religionswissenschaftlers, der diese aus innerer Erfahrung und durch gründliche Ausbildung kennt. Das folgende Gespräch erschien zuerst in der israelischen Zeitschrift für Waldorfpädagogik und Anthroposophie ›Adam Olam‹ Nr. 69 vom September 2020. Es wurde von Udi Levy geführt und auch von ihm aus dem Hebräischen übersetzt.
Über die Anthroposophie, das Judentum und Israel
Die Anthroposophie setzt beim anthropos an. Der Mensch steht in ihrem Zentrum – und im Zentrum des Menschen sein Ich. So einzigartig dieses ist, so einzigartig können auch die Haltungen jener Individuen sein, die sich mit Rudolf Steiners Werk und seinem geistigen Erbe – bald hundert Jahre nach seinem Ableben – befassen. Das Ich, schreibt Steiner, lebt in der Seele; diese vermittelt ihm über die Sinneswahrnehmung die äußere Welt. Wahrnehmungen sind aber in ihrer seelischen Verarbeitung auch von kollektiven Konventionen geprägt. Die Individualpsychologie ist kein hermetisches Revier, ebensowenig wie die Prägung des individuellen Umgangs mit Spiritualität. An ihren Rändern bestehen fließende Übergänge zur Sozialpsychologie, zur Meinungsbildung und zum Verhaltensstil von Kollektiven. So entstehen persönliche Bezüge zur Anthroposophie, die von in einer Gemeinschaft gängigen Haltungen und kulturellen Konventionen beeinflusst und gestaltet sind.
Zum Pangermanismus-Vorwurf gegen Rudolf Steiner
Wer sich heute zu gewissen, von Rudolf Steiner verwendeten Begriffen wie »Mitteleuropa«, »deutscher Geist« oder »Volksseele « anders als kritisch verhält, gerät schnell in den Verdacht, mit völkischen oder rechtspopulistischen Kreisen zu sympathisieren. Zu den unermüdlichen Fahndern nach solchen – heutzutage mehr oder weniger obsoleten – Begriffen gehören die Wortführer der sogenannten Skeptikerbewegung, deren Ursprung und Methoden Georg Soldner 2019 treffend darstellte. Die »Skeptiker« berufen sich dabei auf Wissenschaftler wie Helmut Zander, der Steiner als überzeugten Nationalisten bezeichnet, weil er das deutsche Vorgehen im Ersten Weltkrieg verteidigt habe, oderden US-Historiker Peter Staudenmaier, der behauptet, schon der junge Steiner habe eine »pan-German nationalist period« in Verbindung mit Antisemitismus durchgemacht. Der gegen Steiner erhobene Pangermanismus-Vorwurf ist indes nicht neu. Er wurde schon vor und während des Ersten Weltkriegs von englischen, belgischen und französischen Theosophen gegen Steiner und seine Anhänger erhoben. Die damals verbreiteten Anschuldigungen waren de facto ein Verschwörungsmythos, der besagte: Rudolf Steiner und seine Anhänger hätten beabsichtigt, die Theosophische Gesellschaft unter ihre Kontrolle zu bringen und im Sinne einer deutschen Weltherrschaft zu instrumentalisieren. Davon soll im Folgenden die Rede sein.
Rassismuskritische Hermeneutik der Anthroposophie
Es war eine bemerkenswerte Intuition, welche die deutsch-iranische Komikerin Enissa Amani dazu brachte, als Reaktion auf den unsäglichen WDR-Talk ›Die letzte Instanz‹ vom 29. Januar 2021 ein eigenes Fernsehformat aus dem Boden zu zaubern und über ›Youtube‹ anzubieten. Nicht nachhallende Kritik an der Tatsache, dass in besagter Talk-Show Vertreter der Mehrheitskultur verständnis- und geschmacklos über diskriminierungssensible Themen palaverten, sollte es sein. Nein, etwas Konstruktives: ein Gespräch mit profilierten Vertreterinnen und Vertretern von Minderheitskulturen, deren Stimmen an solcher Stelle allererst gefragt sind. Die Sendung wurde, auf diesen Anlass anspielend, kurzerhand und selbstbewusst ›Die beste Instanz‹ betitelt. Wofür dieser Vorgang und diese Sendung ein Exempel bot, das war, ein Feld der Lernerfahrungen und der Bewusstwerdung von Haltungen und Urteilsgewohnheiten zu schaffen, die unsere Mehrheitskultur durchziehen und die besonders sensibel in Schulen, im öffentlichen Leben und in jeder Begegnung zwischen Menschen wirksam sein können.