Freies Geistesleben in der DDR – Teil IV
Jutta Hecker wurde 1904 als jüngste Tochter von Max und Lili Hecker in Weimar geboren. Der Vater, seit 1900 Archivar am Goethe- und Schiller-Archiv, vermittelte ihr die Liebe zur Literatur. Von ihm wusste sie auch, dass Rudolf Steiner von 1890 bis 1897 im Archiv gearbeitet hatte. Sein Direktor Bernhard Suphan (1845–1911) beschwerte sich öfter, dass dieser kein Archivar im peniblem Sinne gewesen war. Steiners Werdegang aber erschien unglaublich: ›Theosophische Gesellschaft (Adyar Madras), die Deutsche Sektion, Generalsekretär: Dr. R. Steiner – Berlin‹, verzeichnete das Weimarer Adressbuch von 1904. Selbst in Weimar hatte sich ein Kreis gebildet! Diese Erzählungen genügten, in Jutta Hecker ein Vorurteil gegen die spätere Anthroposophie zu begründen.
Das Frühwerk Rudolf Steiners mit seiner Entwicklung und Darstellung eines lebendigen Denkens ist einem Samen vergleichbar, der – indem er aufgeht und zur Pflanze sich entfaltet – in die geistige Welt hineinzuwachsen vermag. Steiner hatte gezeigt, dass das menschliche Denken sich so selbst ergreifen und durch innere Kräfte entwickeln kann, dass es eine Brücke zur geistigen Welt bilden kann. Allerdings wurde er in diesem Ansatz nicht verstanden. Dies trug wesentlich zu der Krise bei, die Rudolf Steiner am Ende des 19. Jahrhunderts durchlebte und die in der Fragestellung: »Soll man verstummen?«, wie er sie dann in seinem ›Lebensgang‹ formulierte, gipfelte. Offensichtlich war da ein Schritt in der Geistesgeschichte der Menschheit getan worden, der seiner Zeit vorausging.
Obwohl dem so war und Rudolf Steiner biografisch ab 1900 den Weg über die Theosophische Gesellschaft wählte, die ihrerseits durch ihre Geschichte mit Elementen verbunden war, die nicht aus dem mitteleuropäischen Geistes- und Gedankenleben stammten, entwickelte er die Anthroposophie so, dass sie in der ganzen Art, wie er sie selbst erforschte und darstellte, immer vom Denken getragen war. Das heißt, bei seinem eigenen geisteswissenschaftlichen Forschen ging er vom Denken aus und nutzte dieses als Brücke in die geistige Welt.
Zu ›Das steinerne Herz der Demokratie‹ von Stephan Eisenhut in die Drei 10/2020 // Zu ›Auch eine Sezession‹ von Claudius Weise in die Drei 10/2020
Lebensbedingungen eines Virus
Im Schweizer ›Tagesanzeiger‹ vom 17. April schreibt Kia Vahland, dass es hinsichtlich der kulturellen Bedeutung der Maske – ›Stoff der Zukunft‹ ist der Artikel überschrieben – eines ideologischen Abrüstens bedürfe. Das Tragen von Masken sei ein Zeichen der Hoffnung, die Maske eine »Vorbotin eines möglichen Sieges über die Seuche«. Doch wer Dankbarkeit für ein offenes menschliches Gesicht zu empfinden vermag, wer Ehrfurcht hat vor dem Antlitz des Individuums, wer Freude und Freiheit erlebt unter einander freundlich anlächelnden Mitmenschen – der kann eigentlich nichts Zukünftiges in der gegenwärtigen Entwicklung erkennen, auch wenn die Verordnung oder Empfehlung, eine Maske zu tragen, vom Kopf her als solidarische und der allgemeinen Sicherheit dienende Tat verstanden wird. Das unmittelbare Erlebnis von maskierten Bürgern, von Gleichschaltung und Anonymität, spielt der guten Absicht indes fortwährend einen Streich. Wer muss sich nicht einen Ruck geben, um sich in solch einer Umgebung, in solch einer Art Alltag mit seinen Nächsten wirklich frei und wohlzufühlen? Es strahlt unwillkürlich etwas Unangenehmes und Negatives aus, das zuallererst Kinder spüren und intuitiv als Verstörung und als angstmachend erleben. Was mag es in ihrem Innerem anrichten, wenn sie die Welt als maskiert erfahren, die Maske als das kühl Normale und nicht das spielerisch Verzaubernde? Vor allem, wenn sie auch selbst eine solche Maske aufsetzen müssen.
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Zum 11. Forschungskolloquium Meditationswissenschaft am 9. November 2019 in Stuttgart
Am 9. November 2019 veranstaltete die Akanthos Akademie im Rudolf Steiner Haus in Stuttgart das 11. Forschungskolloquium Meditationswissenschaft zum Thema ›Von der Natur zur Geisterkenntnis – ein methodischer Vergleich zwischen Goetheanismus und Bildekräfteforschung‹. Durch die Beiträge von Laurens Bockemühl, Ulrike Wendt, Markus Buchmann und dem Verfasser sowie in Gesprächsgruppen und einer Podiumsdiskussion wurden etliche Gemeinsamkeiten, aber auch einige wesentliche Unterschiede zwischen diesen beiden Forschungsmethoden deutlich. Weitere Fragen zu diesem Thema wurden in einer intensiven Nachbesprechung aufgegriffen.
Philosophisch-einvernehmlich
Gelände innen, Gelände außen
›Ekta Parishad‹ als Beispiel einer sozialen Bewegung
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging und unsere Eltern glaubten, wir seien nach Ausbombung, Evakuierung und Flucht »angekommen«, wurden uns Kindern kleine Gartenbeete zum Bestellen und Pflegen zugeordnet. Da wir in diesen ersten Nachkriegsjahren oft Hunger hatten, säten wir schnell Wachsendes und direkt Essbares, Radieschen und Möhren. Neugier und Hunger ließen mich beim Hervorsprießen der ersten Blätter die Pflänzchen herausziehen – wenigstens ein kleines bisschen – um zu sehen, ob sich schon etwas Rotes, Essbares zeigte. Ich lernte aus dieser pädagogischen Maßnahme meiner Eltern, dass die Keimblätter, also die allerersten Blätter, stets anders aussehen als die der späteren Pflanze, und ich erlebte, dass unvorsichtiges Hinschauen einen Wachstumsprozess gefährden und abbrechen kann.
100 Jahre Anthroposophische Medizin
100 Jahre Anthroposophische Medizin. Wir begehen dieses Jubiläum in einer Zeit der Pandemie (von griech. pandēmia = das ganze Volk). Nicht nur das ganze Volk eines Landes, sondern die Weltgemeinschaft steht unter Schock durch ein Virus. Es betrifft uns – mehr oder weniger direkt – alle, weltweit. Millionen von Menschen gelten als gefährdet durch ein Virus, das aller Wahrscheinlichkeit nach von Fledermäusen, womöglich über weitere Wirtsorganismen, hin zum Menschen gelangt ist und sich nun pandemisch ausbreitet. Mit der Corona-Krise wird ein Vorhang gelüftet. Dem Blick öffnet sich eine Art Fratze, ein Gesicht, das in seiner Versehrtheit bloßliegt. Wir blicken auf die Züge einer Gesellschaft, einer Medizin und eines Gesundheitswesens, wie wir das sonst nur punktuell tun, wenn überhaupt.
Vom Erwachen der Platoniker
Ruth Renée Reif im Gespräch mit Alexander Kluge
Alexander Kluge wendet sich in seinem Roman ›Russland-Kontainer‹ (Suhrkamp Verlag, Berlin 2020) dem größten Land der Erde zu. Weit wirft er seine Netze aus und sammelt eine Fülle kurioser, bewegender und verblüffender Geschichten und Beobachtungen. Dabei bezieht er Naturwissenschaft und Technik ebenso ein wie Wirtschaft, Religion, Literatur und Musik. Nicht ein einheitliches Bild Russlands entwirft Kluge, sondern eine Vielfalt an Perspektiven tut sich vor dem Leser auf.
Zu Volker Fintelmann & Steffen Hartmann: ›Mit Widar Zukunft schaffen‹
Ich las ›Mit Widar Zukunft schaffen‹ unterwegs, entlang der europäischen Nord-Süd-Achse zwischen Salzburg und Udine, zum ersten Mal nach vielen Wochen hygienisch begründeter Reiseeinschränkungen wieder die aufrichtende geistige Wärme, das seelenbefruchtende Licht empfindend, die diese Achse schenkt. Das Ergebnis war ein wundersamer Zusammenklang zwischen den im Buch vertieften Themen und der sowohl sichtbaren als auch geistesgeschichtlichen Landschaft, die mich umgab: Widars Wirkung auf der Nord-Süd-Achse und die krebsheilende Kraft der Mistel begegneten jener Landschaft, die das Leben des Paracelsus wesentlich prägte und die so reich an Misteln sein kann. Frucht dieser Begegnung ist das Gespräch mit diesem Buch, das hier erklingen möchte – ein Gespräch, keine Besprechung; ein Gespräch mit einem Wesen, das durch dieses Buch seine ichsam unscheinbare, doch gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit für unsere Gegenwart umso wesentlichere Wirkung steigern möchte.
Leiblichkeit und Ich-Erfahrung
Wer bin ich? Diese Frage wird oft mit dem Wort »Identität« verbunden. Allerdings ist dieser Begriff immer schwammiger geworden. Eigentlich fragt »Identität« nach dem Selbst, der unverwechselbaren Wesenheit. Im Kern gleicht mir keiner! Doch inzwischen ist dieser Ausdruck – nicht nur bei der »identitären Bewegung« – geradezu in sein Gegenteil verkehrt worden: meine Identität als Deutscher, als Mann, als ... Immer geht es um Gruppen! Und doch leiden manche unter der Empfindung: »Ich bin nicht ganz Ich selbst«, und diese Erfahrung hat zunächst mit Nähe oder Fremdheit im Menschenumkreis zu tun. Viele Kinder spielen um ihr zehntes Lebensjahr mit der Vorstellung, sie könnten nur versehentlich in ihre Familie geraten sein, vertauscht in der Geburtsklinik oder adoptiert. Wenn sich das bis in die Jugend hinein fortsetzt, kann es sich zu der starken Vorstellung steigern: »Ich bin in der falschen Familie gelandet.« Viel tiefgreifender wird es für den, der bis ins Erwachsenenalter hinein zu wissen meint, dass er den unpassenden Körper hat, also z.B. sichtlich als Mädchen geboren wurde und sich entgegen allen Rollenerwartungen als Mann fühlt – oder umgekehrt sich als Frau in einem männlichen Körper versteckt meint. Diese Vorstellung gab es vereinzelt wohl schon in vorigen Jahrhunderten, aber sie scheint zuzunehmen. Denkbar wäre auch, dass Menschen sich in Zeiten abnehmender Rollenzwänge häufiger trauen, ihre »Identität« öffentlich zu bekennen. Man sollte nicht vorschnell und schneidig Urteile darüber fällen.
Impressionen vom schwedischen Sonderweg
Kann man allen Ernstes in diesen Zeiten nach Schweden in den Urlaub fahren? Soll man das gebuchte Ferienhaus stornieren, nur weil einige Wochen vor Abfahrt im Raum stand, dass jeder Schwedenurlaub-Heimkehrer in vierzehntägige Quarantäne muss, da die Fallzahlen dort angeblich stark angestiegen seien?
Ein norwegischer Gymnasiast interviewt Rudolf Steiner
In seinen Ansprachen für die Jugend wies Rudolf Steiner mehrfach darauf hin, dass diese seit der Jahrhundertwende unbewusst den Beginn einer neuen Epoche fühle. »Da rüttelt etwas erdbebenartig an der Entwicklung der Menschheit«, sagte er dazu am 20. Juli 1924. Als nach dem Ersten Weltkrieg vermehrt Angehörige der Jugendbewegung zur Anthroposophie fanden, hielt er das für einen Glücksfall, denn das gemeinsame Ziel beider Bewegungen war die fundamentale Erneuerung aller Lebensbereiche. Das unbewusste Jugenderlebnis sollte Steiner zufolge durch das Zusammenwachsen mit der Anthroposophie zu einem bewussten werden. 1924 wurde am Goetheanum eine ›Sektion für das Geistesstreben der Jugend‹ gegründet. Auch Kirchen und Parteien, die der Anthroposophie zum Teil ablehnend gegenüberstanden, versuchten damals, die Jugend in eigenen Bünden zusammenzuschließen.
Nächstes Jahr wird diese Zeitschrift hundert Jahre alt. Sie ist damit weltweit das älteste noch existierende Publikationsorgan der anthroposophischen Bewegung – knapp vor der Wochenschrift ›Das Goetheanum‹, die nur ein halbes Jahr später aus der Taufe gehoben wurde. Ein solches Jubiläum ist ein Anlass, dankbar zurückzublicken – und darüber nachzudenken, wie die Zukunft dieser Zeitschrift möglichst langfristig gesichert werden kann.
Weitere Aspekte zur Sozialen Dreigliederung in methodischer Hinsicht
Rudolf Steiners Schrift ›Die Kernpunkte der sozialen Frage‹ (GA 23) und überhaupt seine gesamten sozialwissenschaftlichen Äußerungen erfordern eine Vertiefung des Denkens. Erst dadurch können ihre hochaktuellen Willensmotive und letztendlich ihre Bedeutung für ein neues Rechtsempfinden erfasst werden, wie in einem früheren Aufsatz darzustellen versucht wurde. Der folgende Aufsatz widmet sich einigen Aspekten sozialer Gestaltung, wie sie aus Steiners eigenem sozialen Wirken unmittelbar abgelesen werden können.
Zum Gedenken an Martin Basfeld (24. April 1956 bis 12. Oktober 2020)
»Es gibt die Wahrheit. Man kann sie nicht haben, aber in ihr leben. Es gibt nicht viele Wahrheiten im Sinne von unterschiedlichen voneinander isolierten Wahrheiten, sondern unendlich viele Teilansichten von ihr …« – Diese Sätze von Martin Basfeld fanden sich in Notizen, die er am 10. November 2019, ungefähr elf Monate vor seinem Tod, aufgeschrieben hatte. Sie bringen etwas zum Ausdruck, was sehr unmittelbar mit ihm als Mensch verbunden war, ja ihn als Menschen ausmachte, und zugleich weit über ihn hinausreicht. Er hatte durch seine sehr ausgeprägte Orientierung am Denken, von der Schul- und Studentenzeit an geschult am Werk Rudolf Steiners, einen tiefen Bezug zur Wahrheit. Zwei Aussagen aus der ›Philosophie der Freiheit‹ wurden daherals Martins Lebensmotto der Todesanzeige vorangestellt: »Das gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt, ergreift somit der Mensch in seinem Denken.« – »Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott.«
100 Jahre ›Geisteswissenschaft und Medizin‹
Wenn in diesem Jahr in Deutschland und wohl auch an vielen anderen Orten auf der Welt das 100-jährige Jubiläum der Anthroposophischen Medizin feierlich begangen wird, so ist das nur bedingt richtig. Vor 100 Jahren hielt Rudolf Steiner vom 21. März bis zum 9. April 1920 seinen ersten Fachkurs für Ärzte und Medizinstudenten. Die 20 Vorträge dieses Kurses wurden später unter dem Titel ›Geisteswissenschaft und Medizin‹ in schriftlicher Form zusammengefasst. War das der Beginn der Anthroposophischen Medizin? Und ist dieser Begriff angemessen für die Impulse, die Steiner der damals gültigen, streng naturwissenschaftlich geprägten Medizin geben wollte?
Anmerkungen zum Literaturnobelpreisträger Peter Handke
Als bekannt wurde, dass der österreichische, nahe Paris lebende Schriftsteller Peter Handke mit dem Literaturnobelpreis 2019 ausgezeichnet werden sollte, hagelte es Kritik an dieser Entscheidung der Schwedischen Akademie. Der US-amerikanische Autorenverband P.E.N. zeigte sich .sprachlos. über die Auswahl und beklagte, mit Handke werde einem Schriftsteller der Literaturnobelpreis verliehen, der »historische Wahrheiten« untergrabe und den »Ausführenden eines Genozids Beistand geleistet« habe. Ähnlich äußerte sich der Preisträger des Deutschen Buchpreises Sasa Stanisić in seiner ›Wut-Dankesrede‹, indem er Handkes Auslassungen in Texten wie ›Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise‹ (1996), ›Unter Tränen fragend‹ (2000) und ›Die Tablas von Daimiel‹ (2005) einen Hang zur Lüge attestierte. Überhaupt kam im Vorfeld der Verleihung des Buchpreises eine Debatte in Gang, die zum einen wie eine Neuauflage und Kopie verschiedenster Handke-Debatten der Vergangenheit anmutete, und zum anderen mehr oder minder unfreiwillig Argumentationsmuster und Diffamierungsstrategien freilegte, auf die Handke in seinen die Jugoslawienfrage tangierenden Schriften immer wieder hingewiesen hat. Denn Handkes Analyse der medialen Berichterstattung über dieses Thema und ihrer suggestiv-manipulativen Mechanismen in Wort und Bild scheint der wahre – und zugleich lässig ignorierte – Grund zu sein, weshalb sich seine Kritiker an ihm abarbeiteten und den alten Vorwurf einer angeblichen Unterstützung des »Schlächters Milosević« reproduzierten.
Vielleicht ist es so, dass das gemeinsame Leiden an unserer Verschiedenheit so stark geworden ist, dass wir letztere nicht länger als Quell der Humanität nutzen können, sondern ausbaden in tödlicher Zersetzung. Von der Virusentzweiungsdiskussion mit einem Freund bis hin zur großen Weltpolitik: Blöcke! Überall Blöcke. Fraktionen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Wer das nicht will, steht ganz im Abseits, allein auf sich gestellt. Das ist auch kein menschenwürdiger Zustand. Ich suche Hilfe dort, wo ich sie immer suche, in der einigenden Ideenwelt. Diese Formulierung stammt aus der ›Philosophie der Freiheit‹.
Die Individualisierung der Lebensformen, Sexualitäten und Identitäten
In den westlich-freiheitlich geprägten Industrieländern haben die letzten 50 Jahre für drei Gruppen von Menschen einen enormen Fortschritt gebracht: für solche, a) die andere Menschen des gleichen Geschlechts lieben, b) deren geschlechtliche Identität nicht eindeutig ist oder c) dem Geschlecht ihres Körpers widerspricht. Angefangen hat es mit der Homosexualität: 1969 wurde in der Bundesrepublik § 175 des Strafgesetzbuches zum ersten Mal reformiert, 1973 ein zweites Mal und 1994 wurde er ganz abgeschafft. 122 Jahre lang hatte er im Deutschen Reich, in der Weimarer Republik, in der Nazidiktatur und in der Bundesrepublik dafür gesorgt, dass homosexuelle Handlungen von Männern mit Gefängnis bestraft wurden, nach einer Verschärfung unter den Nazis in »schweren Fällen« sogar mit Zuchthaus. In diesem halben Jahrhundert wandelte sich das, was noch in den 1950er Jahren vom Bundesverfassungsgericht als »gesundes Volksempfinden« zum moralischen Maßstab erhoben worden war, grundlegend. Allerdings nicht überall: Etwa 20 Prozent der Staaten der Welt bestrafen homosexuelle Handlungen weiterhin, teils sogar mit dem Tode. Reden wir also erst mal nur über die anderen 80 Prozent der Welt, speziell über Deutschland. Hier hatten wir in den letzten Jahren mehrere schwule Ministerpräsidenten (besonders bekannt wurden sie in Berlin und Hamburg) und nicht wenige schwule oder lesbische Bundesminister*innen, darunter sogar einen Außenminister.
Zum Urbild und Selbstverständnis der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Eine Neuerscheinung
Die Frage nach den Zielsetzungen und Aufgabenstellungen der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft fast einhundert Jahre nach ihrer Begründung bietet neben der Frage nach dem Selbstverständnis der von Rudolf Steiner inaugurierten Freien Hochschule für Geisteswissenschaft Raum für unterschiedliche Beobachtungen, Deutungen und Urteilsbildungen. Gleichwohl unterliegen Zielsetzungen und Intentionen von Weihnachtstagungsgesellschaft und Hochschule keiner Beliebigkeit, sondern wurden in Gestalt der sogenannten Gründungsstatuten der Nachwelt übermittelt. Offenbare Geheimnisse ihres auf den ersten Blick eher unscheinbaren Gehalts sollen im Folgenden freigelegt werden, ehe sich der Rezensent einigen, ihm besonders erörterungsbedürftig erscheinenden Aspekten eines kürzlich erschienenen Sammelbandes zur freien Hochschularbeit widmet.
Drei Kolloquien und eine Woche der Inspiration und Begegnung
Der Klimawandel – aufgrund seines schnellen Verlaufs auch »Klimabruch« genannt – ist ein brennendes Problem, nicht nur für die junge Generation, die sich ihrer Zukunft beraubt fühlt, sondern für jeden Menschen, den die Not der Erde und ihrer Bewohner aufrüttelt. Die naturwissenschaftlichen Fakten sind in vereinfachter Form in aller Munde, die »Feinde« identifiziert. Und so wird einerseits radikaler Verzicht gefordert, oder man hofft auf technische Lösungen, die das Desaster wieder richten sollen. In beiden Fällen bleiben viele ungelöste Probleme. Es ist spürbar, dass sich etwas verändern muss, aber wie kommt das in Gang? Und wo bleibt die geistig-spirituelle Perspektive?
Der kalte Hauch der Freiheit
Ich-Wille und Himmelsgaben im Denkprozess
Die allgemeine Auffassung von den Möglichkeiten und dem Wesen des Denkens beschränkt sich heutzutage fast flächendeckend auf dessen intellektuelle Komponenten – wie das Sammeln von Gedanken und Wissen, das Verfassen kritischer Analysen, das Auffinden von Kausalitäten oder das Erstellen von Meinungen und Urteilen. Spirituelle Kräfte des Denkens bleiben dabei unbeachtet, sei es aufgrund einer materialistischen Leugnung des Geistigen überhaupt oder einer Unkenntnis vom Denken als Ganzem in vielen, auch spirituell offenen Kreisen.
So widerfährt dem Denken eine Missachtung. Da für den spirituellen Fortschritt der reine Intellekt verständlicherweise als Hindernis erlebt wird, will man häufig das Denken überhaupt vermeiden. Andererseits wird wenig gezögert, den Intellekt in Form einer berechnenden Raffinesse bis zum Äußersten auszureizen, um damit egoistische Ziele wie beispielsweise wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen. Der Respekt dem Denken gegenüber ist somit weitgehend geschwunden, und so scheint es auch kein besonderer Schritt zu sein, digitale Funktionen an dessen Stelle setzen zu wollen. Auf diese Weise verliert aber der Mensch den Bezug zu seinem eigenen Denken. Es entgleitet ihm und stürzt ab. Dem Einzug von Lügen und der weit verbreiteten Fake-News sind damit alle Türen geöffnet.