Zur ›Asghar Farhadi-Box‹ der ›trigon-film‹
Der iranische Regisseur und Drehbuchautor Asghar Farhadi ist hierzulande kein ganz Unbekannter. Zumindest Filmenthusiasten kennen den 1972 Geborenen als zweifachen Oscar-Preisträger in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film, zuletzt für das Ehedrama ›The Salesman‹ (2016). Es ist die subtile Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen sowie des mittelständischen Milieus, in dem seine Geschichten verortet sind, mit denen er sich diese und andere Ehren verdient hat. Für westliche Betrachter haben seine Filme den zusätzlichen Reiz, Einblicke in ein Land zu gewähren, das den meisten mehr als Projektionsfläche denn als Realität bekannt sein dürfte.
Zur Ausstellung: ›Ich bin Ich – Paula Modersohn-Becker. Die Selbstbildnisse‹ im Paula Modersohn-Becker Museum zu Bremen
Ihr Blick lässt mich nicht los. Nach dem Besuch dieser Ausstellung stelle ich fest, dass mich ihre weiten Augen offenbar stark beeindruckt haben. Ihr Blick ist aber ganz unterschiedlich: mal neugierig fragend, mal selbstbewusst geradeaus und sogar stolz, oder wie hinter einer Maske verborgen. Zwischen Eindruck und Ausdruck, zwischen Selbstbefragung und Selbstgewissheit. Zum ersten Mal ist eine Ausstellung ausschließlich den Selbstbildnissen Paula Modersohn-Beckers (1876–1907) gewidmet. In elf intensiven Schaffensjahren hat sie die beachtliche Zahl von über 60 Selbstdarstellungen geschaffen, von denen jetzt alle verfügbaren in der Bremer Böttcherstraße ausgestellt werden, das sind rund 50 Gemälde, Zeichnungen und Monotypien. Hinzu kommen einige Fotodokumente. Erstmals kann so ihre biografische und künstlerische Entwicklung in einer Ausstellung an den Bildern ihrer selbst abgelesen werden – wobei sich gleich die Frage stellt, wie weit beides in Deckung ist, anders ausgedrückt: Wieviel Wahrheit enthalten diese Selbstdarstellungen?
Zur Ausstellung ›Impressionismus – Meisterwerke aus der Sammlung Ordrupgaard‹ in der Hamburger Kunsthalle
Eduardo Chillida im Museum Wiesbaden
Es ist unglaublich: Der baskische Bildhauer Eduardo Chillida (1924-2002), dem das Museum Wiesbaden gerade eine umfassende Retrospektive widmet, baut mit der Leere! Er gestaltet mit seinen Materialien nicht nur den umgebenden Raum oder fasst ihn ein, sondern gibt ihm auch eine eigene Standfestigkeit. So steht der tonnenschwere stählerne ›Mesa del arquitecto – Tisch des Architekten‹ (1984) nicht nur auf drei materiellen Beinen, sondern wird auch durch den Raum, der die Ausschnitte in der schweren Tischplatte füllt, gestützt und erhält so erst sein volles Gleichgewicht. Auch in anderen Arbeiten, skulpturalen wie grafischen, verschwimmt immer wieder der Unterschied zwischen dem umfassenden Stoff und dem eingefassten Raum; der Raum selbst verdichtet sich ins Wesenhafte – die Leere füllt sich.
Michael Bockemühl und Raimer Jochims über Farbmalerei und »Identität«
Als Michael Bockemühl in einem Vortrag die Frage stellte, was eigentlich Farbe sei, konnte keiner der Zuhörer eine erhellende Antwort geben. Zum Teil waren die Antworten vom heutigen wissenschaftlichen Denkmodell geprägt, das die Farben als elektromagnetische Strahlung verschiedener Längenwellen definiert, die in unterschiedlicher Weise auf die Rezeptoren unserer Netzhaut wirken. Sehen können wir diese Wellen allerdings nicht, wenn wir auf ein bestimmtes Grün oder Blau schauen. Auch kann uns die Wissenschaft nicht erklären, wie aus den Reizen, die über die Nervenbahnen weitergeleitet werden, das Innenerlebnis wird, das wir beim Anblick einer Farbe empfinden. Bockemühl wählte hier, um sich verständlich zu machen, drastische Worte: Noch nie sei durch eine physiologische Untersuchung in der Gehirnmasse die Farbe entdeckt worden, die im Beschauer als konkret erlebte Qualität eines besonderen Farbtons wahrgenommen wird.
Zur Forschungskonferenz ›Goetheanismus & Medizin‹ in Dornach vom 8.-10. März 2019
Wo steht heute der naturwissenschaftliche Goetheanismus, inwiefern befruchtet er die anthroposophische Medizin, und welche Rolle kann er in der Ausbildung von Ärzten spielen? Diese wichtigen Fragen standen im Zentrum der Forschungskonferenz, die gemeinsam von der Medizinischen und der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum ausgerichtet wurde. Gleichsam eingerahmt von Beiträgen der ehrwürdigen Vorkämpfer Wolfgang Schad (›Was alles ist Goetheanismus?‹) und Jochen Bockemühl (›Lebt die Welt in mir? – Von der Möglichkeit spiritueller Erkenntnisentwicklung‹) gestalteten führende anthroposophische Forscher und Ausbilder vor rund 100 Teilnehmenden eine intensive und gut komponierte kollegiale Begegnung. Dabei wurden sowohl Forschungsergebnisse als auch methodische Aspekte zur gegenseitigen Wahrnehmung gebracht.
Er ist eine der schillerndsten Figuren im aktuellen Kunstbetrieb. Der »Erzkünstler«, wie er sich nennt, Jonathan Meese polarisiert das Publikum. Vor einiger Zeit gab es einen Bruch in seiner künstlerischen Laufbahn. Da reckte er in einer Podiumsveranstaltung des ›Spiegel‹ die Hand zum Hitlergruß. Für diese Geste, die als Kritik im Rahmen einer künstlerischen Aktion gemeint war, wurde er angeklagt und später freigesprochen. Künstlerische Freiheit, ausdrücklich bestätigt als Ergebnis eines Strafprozesses – das ist einerseits ganz im Sinne von Meeses Erzkunstverständnis, andererseits hat ihn dieses Missverständnis seiner Kunst schwer beleidigt. Ihm, auch im wörtlichen Sinne, Schaden zugefügt: Kündigung seiner Galerie, Rauswurf aus Bayreuth, wo er den ›Parsifal‹ gestalten sollte und wohl auch gerne wollte, denn er verehrt Richard Wagner über alles.
Zum Film ›Becoming Animal‹ von Emma Davie und Peter Mettler
Zu ›CaRabA – #LebenohneSchule‹ von Joshua Conens
So also soll es aussehen und sich anfühlen, wenn die leidige deutsche Schulpflicht aus dem 19. Jahrhundert, die in unserer zopfigen Form nur in wenigen Ländern existiert, endlich ausgehebelt ist – nicht etwa durch Revolution oder Subversion, sondern durch das Bundesverfassungsgericht. Bei dem legt eine Schülerin eine Beschwerde ein und bekommt im Jahr 2020 recht. Sämtliche Schulen werden daraufhin mit Stumpf und Stiel abgerissen. Was übrig bleibt, ist eine wohltuend grüne Wiesenwüste. Auf der beginnt ›CaRabA – #LebenohneSchule‹ – nach den Worten seines Initiators Bertrand Stern ein Film, der die Frage nach der Schule überwunden haben will und Möglichkeiten für Menschen aufzeigt, sich frei zu bilden.
Zur Ausstellung ›Moderne Jugend? Jungsein in den Franckeschen Stiftungen 1890–1933‹ in den Franckeschen Stiftungen in Halle a.d. Saale
Zu Andree Mitzner: ›Karlfried Graf Dürckheim‹
Mystik heute? – Ja, im Westen wie im Osten! Am Ausgangspunkt dieses Buches über Karlfried Graf Dürckheim (1896-1988) steht die Frage: War er ein Mystiker? Die schon 1993 vorgelegte religionswissenschaftliche Dissertation des Psychotherapeuten Andree Mitzner wurde zu Dürckheims 30. Todestag wieder aufgelegt. Obwohl Dürckheim mehr als 20 Bücher über Mystik schrieb, ist er in der Religionswissenschaft kaum bekannt, eher im populärwissenschaftlichen Umfeld. Oft wird er in einem Atemzug mit den C.G. Jung-Schülern Viktor E. Frankl und Erich Neumann genannt. Mitzners Buch betrachtet Dürckheims Leben, Lehre und Impulse in ihrer gegenseitigen Bedingtheit.
Zur Ausstellung ›Van Dyck‹ in der Alten Pinakothek in München
Über ein verdecktes Motiv in der Ausstellung ›Now is the Time – 25 Jahre Sammlung Kunstmuseum Wolfsburg‹
Unter dem Slogan ›Now is the Time‹ gibt das Kunstmuseum Wolfsburg zum 25-jährigen Bestehen einen repräsentativen Einblick in seine Sammlungsbestände, die internationale künstlerische Positionen der letzten 40 Jahre bergen und zuletzt 1999 umfänglich ausgestellt wurden. Mit einem kleinen Leitfaden in der Hand und wenigen Wandtexten mit Hintergrundinformationen, aber ohne einer offensichtlichen Museumsdidaktik verpflichtet zu sein, suchen Besucher und Besucherinnen ihre Wege durch diese Ausstellung, welche das ganze Haus bespielt. Um es vorweg zu sagen: Nichts Spektakuläres, eher Dokumentarisches aus der Sammlungsgeschichte des Museums ist zu erwarten. Dennoch lassen die Anordnungen der Kunstwerke und Ensembles vielfältige, teils neue Sinnzusammenhänge vermuten, zumal einige Werke bisher meist in Themen- oder Künstlerausstellungen integriert zu sehen waren. Darin liegt denn auch der Reiz: das einer bestimmten zeitgenössischen Kunstströmung Verpflichtete erneut zu entdecken und hinsichtlich Ästhetik und Erkenntnisgewinn zu befragen.
Zu Rembrandts letztem Gemälde
»Nun entlässt du, o Gebieter, deinen Knecht in Frieden, wie du es verheißen. Denn meine Augen haben dein Heil gesehen.« (Lk 2,29-30) So lauten die Worte des alten Simeon, die er angesichts des Jesuskindes ausspricht, denn ihm wurde geweissagt, dass er erst sterben werde, wenn er Christus1 gesehen habe. Erlöst im Anblick des Erlösers darf er nun in Frieden aus dem Leben scheiden. Rembrandt malte dieses Erlösungsgeschehen, bevor er selbst – am 4. Oktober 1669 – in die geistige Welt einging. Das Gemälde soll auf seiner Staffelei gestanden haben, als er starb. Obwohl es eine Auftragsarbeit war, wirkt es wie eine Art Vermächtnis; nicht nur wegen des Motivs, sondern vor allem wegen der ganz eigenen anschaulichen Wirkungsgestalt des Bildes.
Zum IV. Kongress ›Meditation und Wissenschaft‹
550 Teilnehmer waren am ersten Adventswochenende 2018 nach Berlin zum vierten Kongress ›Meditation und Wissenschaft‹ unter dem Titel: ›Meditation zwischen Abgrund und Nirvana‹ gekommen und diskutierten vor allem zwei Fragen: Wieweit lässt sich die Meditation – unter der in diesem Kontext grundsätzlich die buddhistisch inspirierte Achtsamkeits- oder die säkularisierte Zen-Meditation verstanden wird – zu Zwecken der Selbstoptimierung nutzen? Und: Wieweit wird das, was mit dieser Art der Meditation ursprünglich gesucht wurde, nämlich ein tieferes und wahres Verstehen der eigentlichen Natur der Welt und damit auch des eigenen Selbst, dadurch verraten, dass man Achtsamkeit im Sinne eines wirtschaftlichen und gesundheitlichen Effektivitätsdenkens instrumentalisiert? Der Kongress sollte mithin ein Statement gegen »Achtsamkeit light« sein.
Zur Ausstellung ›Samurai – Pracht des japanischen Rittertums‹ in der Kunsthalle München
In der Kunsthalle München bietet sich die seltene Gelegenheit, Einblick zu nehmen in eine weit entlegene Kultur. ›Samurai – Pracht des japanischen Rittertums‹ ist wirklich eine Augenweide, ein Schauspiel, in dem der Betrachter sich ganz seiner sinnlichen Erfahrung anvertrauen kann. Das ermöglichen die rund hundert Exponate der Sammlung Ann und Gabriel Barbier-Mueller, die erstmals in Deutschland gezeigt werden. Die Objekte stammen aus dem 7. bis 19. Jahrhundert und wurden größtenteils in Europa erworben. Doch handelt es sich nicht um Raubkunst. Nach der Auflösung des Shogunats wurden die Rüstungen und Waffen der Samurai zu Repräsentationsobjekten, die als Ehrengeschenke für ausländische Gäste verwendet wurden. Das ist das erste, woran die Augen sich gewöhnen müssen: Gerätschaften des Krieges als Kunstwerke zu sehen.
Zu Rüdiger Sünner: ›Engel über Europa. Rilke als Gottsucher‹
Der Filmemacher Rüdiger Sünner ist erfreut, dass wir trotz des extrem heißen Septembertags »zur Gottessuche« in die Berliner Urania gekommen sind. Kurz spricht er seine letzten Filme an: über Joseph Beuys, Paul Celan und jetzt Rainer Maria Rilke, alle drei sehr spirituelle Persönlichkeiten. Ihre Suche galt dem göttlichen Funken in der Welt. Sünner erzählt, wie er Rilke erst in den letzten zehn Jahren wirklich kennenlernte, obwohl schon sein Vater ihm Rilkes Gedichte vermittelt hatte. Das Dorf Raron im schweizerischen Wallis, wo Rilke begraben liegt, habe er als magischen Ort empfunden. Dort, im Rilkemuseum, wurde sein Film ›Engel über Europa. Rilke als Gottsucher‹ – der bisher einzige Film über den Dichter – zuerst gezeigt.
Eine Spurensuche
Geht man auf die Suche nach den Rosenkreuzern in den Niederlanden des siebzehnten Jahrhunderts, dann trifft man zunächst auf eine Fülle von Hinweisen, von denen sich die wenigsten konkretisieren lassen. Eine gewisse Klarheit bringt die als Buch publizierte Dissertation von Govert Snoek: ›De Rozenkruisers in Nederland‹. Dieser hat mit unendlicher Geduld die entlegensten Ecken der Archive durchsucht, alte Nachlassverzeichnisse durchstöbert sowie Briefe und Biografien studiert, um die Fäden des verworrenen Gewebes zu ordnen.
Zur Ausstellung ›Tizian und die Renaissance in Venedig‹ im Frankfurter Städel Museum
Das Thema Renaissance scheint in der Luft zu liegen. Nach der großen Florentiner Schau in der Münchner Pinakothek widmet sich nun das Frankfurter Städel Museum mit einer Sonderausstellung zu ›Tizian und die Renaissance in Venedig‹ diesem Kapitel der europäischen Kunstgeschichte. Mit über hundert Meisterwerken sind die Künstler der Lagunenstadt vertreten, die im 16. Jahrhundert einen eigenständigen Stil entwickelten. Sie setzten vor allem auf rein malerische Mittel, die Wirkungen von Licht und Farbe. Diese Ausstellung zeigt nun die ganze Bandbreite der venezianischen Malerei. Neben Tizian, der mit über 20 Werken präsentiert wird, die umfangreichste Auswahl, die je in Deutschland gezeigt wurde, sind vor allem Tintoretto und Paolo Veronese vertreten. In acht thematischen Kapiteln untersucht die Ausstellung aber auch eine Polarität, die schon in der zeitgenössischen Rezeption des 16. Jahrhunderts eine Rolle spielte: der Gegensatz von disegno (Zeichnung) in Florenz und Rom sowie colorito (Farbe) in Venedig.
Zur Ausstellung ›fontane.200/Brandenburg – Bilder und Geschichten‹ im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam
Der 200. Geburtstag Theodor Fontanes (*30. Dezember 1819; † 20. September 1898) wird gegenwärtig in Berlin und Brandenburg unter der Überschrift ›fontane.200‹ mit einer Fülle von Veranstaltungen begangen, darunter die am 7. Juni eröffnete Ausstellung ›fontane.200/Brandenburg – Bilder und Geschichten‹ im ehemaligen Kutschstall am Neuen Markt in Potsdam, der heute als Haus der Brandenburgisch- Preußischen Geschichte dient. Sie ergänzt die seit dem 30. März 2019 laufende Leitausstellung ›fontane.200/Autor‹ in Neuruppin und eine Reihe kleinerer Ausstellungen.
Zeichnungen von Eva Hesse im Museum Wiesbaden
Das Werk der deutsch-amerikanischen Künstlerin Eva Hesse (1936–1970) wirkt erstaunlich gegenwärtig. Sie hatte sich künstlerisch entwickelt, als in den USA die Minimal Art als Gegenbewegung zum Abstrakten Expressionismus entstand. Mit wichtigen Vertretern dieser neuen Richtung wie Sol LeWitt, Donald Judd, Carl Andre und Dan Flavin war sie zum Teil eng befreundet; der wie ihre Familie aus Deutschland geflohene Bauhäusler Josef Albers war einer ihrer Lehrer. Doch hat sie bald ihren ganz eigenen Weg gefunden, der sich auch in ihren Zeichnungen widerspiegelt, die jetzt im Zentrum der von Jörg Daur verantwortlich kuratierten Wiesbadener Ausstellung stehen. Die Leihgaben, zumeist aus dem Eva Hesse-Archiv des Allen Memorial Art Museum in Oberlin/OH, werden ergänzt durch das beachtliche Ensemble von Gemälden, Skulpturen und auch Zeichnungen aus dem Besitz des Museums Wiesbaden selbst. Gezeigt wird das ganze Spektrum von frühen Studienblättern aus College-Zeiten bis hin zu Skizzen für konkrete Skulpturen.
Zur Ausstellung ›Emy Roeder. Das Kosmische allen Seins‹ im Landesmuseum Mainz
Mit einer Sonderausstellung würdigt das Landesmuseum Mainz aktuell eine der profiliertesten Bildhauerinnen des 20. Jahrhunderts – für die meisten dürfte sie jedoch eine Unbekannte sein. ›Emy Roeder. Das Kosmische allen Seins‹ zeigt mit rund 140 Exponaten eine umfassende Werkschau dieser Künstlerin.
Zur Ausstellung ›Mykene – Die sagenhafte Welt des Agamemnon‹ im Badischen Landesmuseum Karlsruhe
Auch die Geschichtsschreibung ist Kunst. Wie der Einsatz von Phantasie tatsächlich Wirklichkeit zutage fördert, belegen eindrucksvoll die Grabungen Heinrich Schliemanns, der zunächst Troja und dann Mykene entdeckte – alles auf der Basis von Literatur, die der wissenschaftliche Laie als Information wörtlich nahm: die Reiseberichte des Pausanias, die vielfach überlieferten Mythen und allen voran ›Ilias‹ und ›Odyssee‹ von Homer: »Sobald ich sprechen gelernt, hatte mir mein Vater die grossen Thaten der Homerischen Helden erzählt. Ich liebte diese Erzählungen; sie entzückten mich, sie versetzten mich in hohe Begeisterung.«
Zur Ausstellung ›Mantegna und Bellini – Meister der Renaissance‹ in der Gemäldegalerie in Berlin
In der Malerei kann ein und dasselbe Motiv die unterschiedlichsten »Interpretationen« erfahren, je nachdem, wie es gemalt wird. Ist schon die Wirkung eines Musikstückes abhängig vom »Interpreten«, der es aufführt, so gilt dies umso mehr für die Farbwahl eines Bildes, den Aufbau, die Strichführung, den Umgang mit dem Licht, die Perspektive und vieles andere. Die vergleichende Betrachtung von Bildern desselben Motivs kann helfen, diese formalen Gestaltungselemente stärker in den Blick zu bekommen. Zu solchen Vergleichen lädt derzeit die von den Staatlichen Museen zu Berlin und der National Gallery, London in Kooperation mit dem British Museum veranstaltete Sonderausstellung ›Mantegna und Bellini‹ ein.
Die Dichterin Selma Merbaum (geb. am 15. August 1924 in Czernowitz, gest. am 16. Dezember 1942 im Arbeitslager Michailowka am Bug)
Die wahrscheinlich nie bis in ihre letzte Verzweigung ausleuchtbare Rettungsgeschichte dieser 58 Gedichte ist wunderbar und unendlich bitter zugleich, weil sie erst beginnen konnte, nachdem ihrer Schöpferin, einem 18-jährigen Mädchen, auf gnadenlose Weise das Leben genommen worden war. Auch ihr »Tod«, den Paul Celan für alle Zeiten gültig als »Meister aus Deutschland« personifiziert hat, geht auf das Schreckenskonto der SS, die Tausende zur Zwangsarbeit deportierte Czernowitzer Juden ermordete – ein Genozid, der sich zwischen 1941 und 1943 im damaligen Rumänien als Teil des planmäßig vorangetriebenen Vernichtungsfeldzugs gegen die europäischen Juden ereignete. Erst 2014 konnte die Germanistin Marion Tauschwitz – nach akribischen Archivforschungen – diesem Mädchen seinen richtigen Namen zurückgeben: Selma Merbaum.
Zu Hartmut Rosa: ›Unverfügbarkeit‹
Hartmut Rosa muss spätestens seit seinem Opus magnum ›Resonanz‹als der gegenwärtig wohl meistgelesene und einflussreichste deutsche Soziologe gelten, der nicht ohne Grund Direktor des ›Max-Weber-Kollegs‹ in Erfurt ist. In seinem neuen, auf zwei in Graz im Frühjahr 2018 gehaltenen Vorlesungen beruhenden Buch verdichtet er seine Weltsicht und Gesellschaftskritik im Hinblick auf sein Resonanzkonzept und macht uns dieses – auch im anthroposophischen Sinne – noch interessanter.
Zu E. Leonora Hambrecht: ›Elisa Métrailler – Ein Leben im Dienste von Kunst und Therapie‹
Dieser Band zu Leben und Wirken von Elisa Métrailler kann als eine Art später Nachruf auf die Malerin und Maltherapeutin gelesen werden, die in ihren Impulsen eng mit der Malerin Liane Collot d’Herbois verbunden war. 1921 in Wien geboren, starb Elisa Métrailler im Jahre 1999 in Owingen am Bodensee.
Der Künstler und Sozialgestalter Michael Wilhelmi
Als ich Michael Wilhelmi zum ersten Mal wahrnahm, das war irgendwann nach der Jahrtausendwende im Berliner Johanneszweig, wäre ich wohl nie auf die Idee gekommen, er könne etwas mit Kunst zu tun haben. Auf mich wirkte er ausgesprochen kopflastig und eher trocken als sinnlich. Ein langer, hagerer Mensch von umfangreichen anthroposophischen Kenntnissen, sehr engagiert auf verschiedenen Ebenen, der zu einem angesprochenen Problem schon Antworten suchte, noch bevor es sich ganz dargestellt hatte. Ein Praktiker und immer hilfsbereit. Erst viel später sah ich einen hellen, bearbeiteten und sorgsam polierten Granitblock von organischer Form im langen Flur der Kreuzberger Erzieherfachschule stehen, die er mitbegründet hatte und in die der Johanneszweig inzwischen umgezogen war. Da stutzte ich. Etwas später tauchte eine schöne kleine Bronze im Foyer des Rudolf Steiner Hauses in Berlin auf. »Die ist von Herrn Wilhelmi«, sagte mir jemand. Da hatte ich schon begonnen, mich für seine Arbeiten zu interessieren.
Zur Ausstellung ›Emil Nolde – Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus‹ im Berliner Museum für Gegenwart (Hamburger Bahnhof)
Ungewöhnlich und doch zeitlos schön wirken die meisten Bilder Emil Noldes (1867–1956): leuchtende Farben, spannungsvolle Kompositionen, träumerische Stimmungen und märchenhafte Motive. Wüsste man nicht, dass sichdie Ausstellung ›Emil Nolde – Eine deutsche Legende‹ um dessen nationalsozialistische Vergangenheit dreht – man würde angesichts der Gemälde nicht darauf kommen.
Ende März 2019 erreichte uns eine Anfrage unserer Kollegen von der Zeitschrift ›Info 3‹, wie wir es mit der Frage nach einer gendersensiblen Sprache halten. Nachdem wir dieses Thema auf der nächsten Redaktionssitzung besprochen hatten, entwarf ich folgende Antwort: »Unsere Redaktion besteht aus drei Männern und zwei Frauen. Der Chefredakteur ist ein Mann, die Herausgeberin eine Frau. Wir sind einmütig gegen das Gendern, weil wir finden, dass es sich dabei um eine äußerliche und intellektualistische Art des Umgangs mit der Sprache handelt. Gendern macht die Sprache sperrig, weil es den Schwerpunkt vom Bezeichneten auf das Zeichen verschiebt. [...]«