Aus der Arbeit mit Schauspielern in der Türkei
Seit einigen Jahren arbeite ich als Gastdozent für Theater an der Universität in Istanbul. Gemeinsam mit meinen Kollegen und Kolleginnen habe ich den Auftrag, jungen türkischen Bühnenkünstlern die Schauspielmethode Michael Tschechows zu vermitteln. Das ist immer wieder eine beglückende Arbeit. Jedes Mal, wenn ich wieder hierherkomme, hat sich das Land verändert, leider selten zum Guten. Seit Jahren schon werden demokratische Grundwerte systematisch abgebaut und Bildungseinrichtungen für politische Zwecke missbraucht. Doch diesmal ist es schlimmer.
Zu ›Lebenslang für die Wahrheit‹ von Can Dündar
Hier schreibt einer, angetrieben durch einen unbestechlichen Gerechtigkeitswillen, einen Gerechtigkeitsmut, wie ihn die meisten von uns vielleicht nur sehr jung an sich selbst erfahren. Doch außergewöhnliche Zeiten und Umstände schaffen außergewöhnliche Menschen, wobei die Anforderungen an den Mut exponentiell steigen. Can Dündar selbst hatte sich immer als vorsichtigen Menschen angesehen, bis er beschloss, dem »Imperium der Angst« und der Unterdrückung in der Türkei auch im Gefängnis die Stirn zu bieten.
Festnahmen und Suspendierungen im Bildungswesen als Maßnahmen der Einschüchterung nach dem Putschversuch in der Türkei
»Soeben wurde Murat Özyaşar bei einer Razzia in unserer Wohnung von einer Anti-Terror-Einheit festgenommen. #MuratÖzyaşar«, twitterte die Istanbuler Journalistin Sibel Oral am 1. Oktober 2016 um 6.06 Uhr. Der kurdische Schriftsteller und Lehrer Murat Özyaşar ist ihr Ehemann, erst im Frühjahr hatten die beiden geheiratet und eine Wohnung im Istanbuler Traditionsviertel Kurtuluş bezogen. Drei Wochen vor der Festnahme war eine Tochter Mavi Lorin zur Welt gekommen, am selben Tag erfuhr Özyaşar von seiner Suspendierung als Lehrer. Oral mobilisierte unverzüglich Freunde, Familie und Anwälte und zog zum Polizeipräsidium. Sie wusste weder, was ihrem Mann vorgeworfen wurde, noch wohin man ihn brachte. Stunden später erhielten die Anwälte die Auskunft, Özyaşar sei zum Flughafen gebracht worden und werde in seine Heimatstadt Diyarbakır ausgeflogen. Kontakt zu ihrem Mandanten bekamen sie nicht.
Anmerkungen zum Putschversuch in der Türkei
Ungefähr eine Dreiviertelstunde per Fähre von Istanbul entfernt liegen die idyllischen Prinzeninseln, deren Name daher rührt, dass die Sultane des Osmanischen Reiches dorthin ihre jüngeren Brüder verbannten. Bereits im Mittelalter diente Büyükada, die größte der Inseln, fünf verschiedenen byzantinischen Kaiserinnen als Exil und im 20. Jahrhundert fand der abtrünnige Kommunist Leo Trotzki hier zeitweilig Zuflucht. Die internationalen Sicherheitsexperten, die sich am 15. Juli 2016 im ›Splendid Palace Hotel‹ auf Büyükada zusammenfanden, um über die Außenpolitik des Iran zu diskutieren, dürften sich also auf ein ruhiges Wochenende in angenehmer Umgebung gefreut haben. Bekanntlich wurde daraus nichts.
Am 9. November 2016 erfährt die Welt vom Wahlausgang in Amerika. Ein deutscher Schicksalstag, an dem wir uns erinnern an die Pogrome der Reichskristallnacht und den Mauerfall. Ein Satz aus dem kollektiven Gedächtnis: »Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten« – dies verkündete die Staatsmacht der DDR, wenige Tage bevor mit dem Mauerbau begonnen wurde. Den folgenden Satz hat Donald Trump im Wahlkampf zelebriert: »We’re going to build that wall!« Eine Mauer der Abschottung will der neue Präsident errichten – nicht nur um mexikanische Immigranten abzuwehren, sondern um alles auszugrenzen, was der Besinnung Amerikas auf sich selbst im Weg steht. Dieselbe Isolations-Geste, mit der sich Grossbritannien aus der EU verabschiedet hat, zeigt sich nun in Amerika.
Die neueren Bibelübersetzungen belehren uns, dass das Lukasevangelium »Friede auf Erden« nicht denen verheißt, »die guten Willens sind«, sondern den »Menschen seines Wohlgefallens«. Auch wenn es ein Unterschied ist, ob sich die Menschen Gottes Wohlgefallen erwerben müssen oder nicht: Ohne ihren guten Willen ist Friede auf Erden gewiss auch nicht möglich. Und daran scheint es immer mehr zu mangeln. Oder täuscht dieser Eindruck? Unser Brennpunkt zur Lage in der Türkei – ergänzt um eine Wortmeldung zur Wahl Donald Trumps – versucht ein differenziertes Bild zu zeichnen und die politische Finsternis durch das Licht zu erhellen, das dort in vielen Menschen dennoch leuchtet.
Zum Heft ›Abrahams Kinder‹, die Drei 8-9/2016
Ihrem Heft ›Abrahams Kinder‹ mangelt leider ein Sinn für Religion, ein geisteswissenschaftlicher Blick auf Religion.
Vordenker und Vorbereiter
Reise in Humboldts Gegenwart
Sehnsucht nach Weltanverwandlung
Bei einer kursorischen Durchsicht der Notizbücher Rudolf Steiners aus dem Jahr 1897 sind wir im Archiv über eine vermutlich autobiografische Notiz gestolpert. Auf einer sonst unbeschriebenen Seite steht: »Als Nietzsche-Herausgeber / pecuniäre Vorteile / Alles fließt / doch nicht ohne Nebenabsicht[.]« Als Nietzsche-Spezialist in unserem Archiv habe ich mich daraufhin an die Entschlüsselung dieser zunächst rätselhaften Zeilen gemacht.
Zwischen Schein und Sein in Weimar
Die wesentliche Erfahrung von Licht im irdischen Raum ist seine Brechung. Licht muss auf Widerstand treffen, um sich zu zeigen, es entreisst sich seiner eigenen Unsichtbarkeit in der Reflexion. Draußen in seiner kosmischen Realität, Lichtjahre von der Erde im Weltraum entfernt, da müsste es vor lauter Sternen eigentlich hell sein, wie das Olberssche Paradoxon besagt. Doch bekanntlich ist es dort stockdunkel, noch schwärzer als schwarz. Dies spricht für die Einbildungskraft des Lichtes als höheres Gesetz seiner Natur, für sein Schwingungsvermögen als Begegnungskraft. Wo es auftrifft, erzeugt es sichtbare Form und veraÅNndert energetische Gegebenheit, es kann durchleuchten, umhüllen, schattieren, konturieren, temperieren ...
Zu William Turners ›Schneesturm im Meer‹
Als William Turner 1803 sein Seestück ›Pier in Calais‹ ausstellte, erntete er reichlich Lob, vor allem wegen der realistischen und detaillierten Ausführung. Und dennoch musste sich Turner auch Kritik gefallen lassen – Kritik, die nicht völlig von der Hand zu weisen ist: Es wurde behauptet, das Wasser sei wie aus Stein und gleiche den Adern einer Marmorplatte. Hatte Turner also doch nicht exakt genug beobachtet? Oder macht sich hier ein anderes, ein grundsätzliches Problem bemerkbar? Besteht nicht stets ein Widerspruch zwischen einem zeitlich verlaufenden Geschehen und dem faktischen Stillstand des Bildes? Ist eine gemalte Welle nicht immer statisch? Kann eine bildliche Darstellung überhaupt etwas anderes vermitteln als einen angehaltenen, quasi zu Stein erstarrten Augenblick?
Christos und Jeanne-Claudes ›The Floating Piers‹ – Eine Spurensuche
Christo hat einen langen Atem. Mit unerschütterlicher Beharrlichkeit und Begeisterungsfähigkeit läßt er schon lang gehegte Vorhaben schließlich Wirklichkeit werden. ›The Floating Piers‹ ist das erste Großprojekt, das er seit der tödlichen Hirnblutung seiner Frau Jeanne-Claude im Jahre 2009 durchgeführt hat. Eine vergleichbare Idee wollten beide schon vor 49 Jahren in Buenos Aires verwirklichen, doch daraus wurde nichts. Auch ein Anlauf vor zwanzig Jahren in der Bucht vor Tokio scheiterte am behördlichen Widerstand. Erst jetzt, am zwischen Brescia und Bergamo gelegenen
Zur Anwesenheit des Unsichtbaren
Als Kind habe ich mich gerne hoch oben in der Krone einer Pappel versteckt, die im verwilderten Garten einer Kriegsruine stand. Die Bäume waren vom Schlingknöterich überwuchert. Der bildete blickdichte Dächer und ließ die Bäume wie große grüne Fabeltiere aussehen. Der Garten grenzte an den Rheindamm, auf dem ein vor allem an den Wochenenden stark frequentierter Spazierweg vorbeiführte. Ich saß also oben in der Krone versteckt, beobachtete die vorbeischlendernden Spaziergänger und belauschte die Gespräche derjenigen, die sich auf einer in direkter Nähe meines Verstecks befindlichen Bank niederließen. Interessant war dabei weniger, was ich zu sehen und zu hören bekam, sondern vielmehr das Gefühl des Verborgenseins: Ich war unsichtbar da, und dies vermittelte, einmal ganz abgesehen von der wunderbaren Vogelperspektive, ein Gefühl der Souveränität und Unangreifbarkeit.
Gottfried Wilhelm Leibniz verteidigt den individuellen Geist
Nach Thomas von Aquin beschäftigte sich auch Gottfried Wilhelm Leibniz mit der Frage, ob dem einzelnen Menschen ein individueller Geist zukomme, oder ob er nur an einem allgemeinen Geist teilhabe. Der folgende Artikel verfolgt die Argumente, die Leibniz, zum Teil in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Denkweisen, die dem Menschen den individuellen Geist absprachen, aufbrachte. Und macht deutlich, wie diese Fragestellung auch mit der Denkbarkeit von Reinkarnation zusammenhängt.
Einige persönliche Anmerkungen zur Frage der Erkenntnis der höheren Welten
Im folgenden Beitrag wird ein individueller innerer Weg biografisch beschrieben und ins Verhältnis zu einigen der von Rudolf Steiner in ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ gegebenen Darstellungen gesetzt. Aus der Perspektive von Eurythmie und Bildekräfteforschung lassen sich bei einer Übung wie »Sprießen und Welken« viele neue Bezüge entdecken, daran anschließend kann ihre Urgebärde, das »Werden und Vergehen«, in weitreichenden Zusammenhängen aufgefunden werden.
Zur Skalierbarkeit von Imagination, Inspiration und Intuition
Die höheren Erkenntnisstufen sind nicht nur für Eingeweihte erreichbar. Die damit verbundenen Erfahrungen können unter bestimmten Bedingungen schon im alltäglichen Leben eintreten, nur werden sie dort oft nicht bemerkt, weil sie sehr unscheinbarer Natur sind. Man muss gewissermaßen seine Denkaktivität auf die richtige Größenordnung einstellen, um sie zu bemerken. Anders gesagt: Die Begriffe Imagination, Inspiration und Intuition lassen sich skalieren.
Über das Verhältnis von Wissen, Wahrnehmung und Handlung vom Gesichtspunkt der Waldorfpädagogik
In der Rezeption der Waldorfpädagogik spielen deren charakteristische Methoden, die Verwendung spezifischer Materialien und wohl auch die Haltung der Pädagogen eine überragende Rolle. Dies gilt nicht minder für die − von Rudolf Steiner als Vertiefung der Pädagogik verstandene – Heilpädagogik. Die anthropologischen Grundlagen bleiben in der Rezeption demgegenüber zurück. Dennoch konstatieren waldorfpädagogisch orientierte Forscher und Praktiker seit langem, dass nicht nur zahlreiche Praxiselemente der WaldorfpaÅNdagogik ins allgemeine Schulsystem übernommen werden, sondern sich auch genuine und grundlegende Gedanken der anthroposophischen ›Menschenkunde‹ in zeitgenössischen Konzepten wiederfinden, welche zudem durch empirische Ergebnisse bestärkt werden.
Ruth Renée Reif im Gespräch mit dem Philosophen Slavoj Žižek
Slavoj Žižek ist einer der anregendsten Denker der Gegenwart. Seine Philosophie entspringt der Auseinandersetzung mit den sozialen und kulturellen Phänomenen der Gegenwart. Der Philosophenkollege Dominik Finkelde vergleicht sie mit jenem anamorphotischen Blick auf die Wirklichkeit, der die Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts kennzeichnet, wenn perspektivisch verzogene Bildinhalte erst unter einem bestimmten Blickwinkel erkennbar werden. So wird Žižek von dem Willen getrieben, alles aus einer durch das Vokabular Hegels und Lacans getönten Perspektive noch einmal zu interpretieren. In seinem Buch ›Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus‹, dessen Taschenbuchausgabe im August 2016 bei Suhrkamp erschienen ist, entwirft er aus der Perspektive immer neuer Lektüren von Hegel, Marx und Lacan seine politische Philosophie.
Lebendige, bewegliche Begriffe sind für ein Beschreiten des anthroposophischen Erkenntnisweges sowie die Umsetzung der auf ihm gewonnenen Einsichten in den verschiedenen Lebensfeldern unerlässlich. Der Schwerpunkt des vorliegenden Heftes enthält einige aus der Praxis gewonnene Beispiele für die Bildung einer derartigen Begrifflichkeit.
Zu ›Sonnenmysterien – oder Computer?‹ von Johannes Greiner in die Drei 7/2016
Beginnen wir vom Ende her. Man stelle sich das einmal vor: eine Welt ohne Fotografie und ohne Film, ohne CD- und mp3-Player, ohne iPod, und Smartphone, ohne iPad und Tablet, ohne PC und Laptop, ohne Radio und Fernsehen, ohne eBook-Reader. Das soll kennzeichnend für »Michaeliten« sein, für Menschen, die den Sonnenmysterien am nächsten kommen, die »für die gesamte Menschheit wichtig sind«, die einer menschheitlichen Mission dienen. So beschreibt es Johannes Greiner in seinem Artikel mit dem suggestiven Titel: ›Sonnenmysterien – oder Computer?‹.
Das ›Christian-Morgenstern-Literaturmuseum‹ in Werder (Havel)
Der hier als Titel vorangestellte Aphorismus gilt natürlich auch für den kühnen Entschluss, auf dem bekannten Galgenberg im Havelstädtchen Werder das erste – und immer noch einzige – Museum für Christian Morgenstern zu schaffen. Achim Risch, der rastlose Schöpfer dieser Einrichtung, hat mir am 31. März 2016, dem 102. Todestag des Dichters, symbolisch den Schlüssel überreicht – und nun liegt es an mir, diese »Kulturtat« meines Vorgängers behutsam, aber auch mutig weiter zu gestalten.
Wohin es führt, einen sonderlichen Satz von Joseph Beuys verstehen zu wollen
Am Anfang stand ein Erlebnis auf der ›documenta 5‹ in Kassel. All das, was ich dort von dem Mann mit Hut zu sehen und zu hören bekam, hat mich ziemlich beeindruckt. Fortan verfolgte ich mit loser Aufmerksamkeit, wie er sein Werk inszenierte und die Öffentlichkeit polarisierte. Jahre später stand ich erstmals vor seiner Installation ›Zeige deine Wunde‹. Wenn möglich, nutze ich Aufenthalte in München, um im Lehnbachhaus den ›Wundenraum‹ zu besuchen. Was immer ich danach von ihm sah, sprach in mir etwas an, das ich aber kaum benennen konnte. Es war ganz einfach da. Ende der achtziger Jahre, als ich mich der Anthroposophie über ihre sozialen Arbeitsfelder näherte, bemerkte wer, ob ich denn wüsste, dass Beuys vom »Steiner-Virus« befallen war, nur sei das bislang kaum bekannt. Nein, weder wusste ich das, noch fand ich es damals bedeutsam.