Artikel von Corinna Gleide
Das Wesen des Ichs an der Schwelle
Die Geburt des höheren Ichs im Menschen und der Umgang mit dem eigenen Doppelgänger stehen in einem unmittelbaren Verhältnis zueinander. Ohne das Anschauenlernen und Verwandeln des eigenen Doppelgängers kann das höhere Ich nicht in einer guten und gesunden Art zur Geburt gebracht werden. Warum, kann man fragen, haben diese beiden Dinge einen so engen Zusammenhang? Andere Weltanschauungen, die das Ich nur mit dem Egoismus identifizieren, kennen den Doppelgänger und die Schwelle nicht.
Die umfassenden Aufgabenstellungen, die mit der Anthroposophie verbunden sind, offenbaren sich auf diesem Erkenntnisweg stufenweise. Obwohl ich mich seit Jahrzehnten mit der Geisteswissenschaft beschäftige, bemerke ich immer wieder, dass auf einmal eine neue, zuvor verborgene Stufe erreicht wird. Aber auch die Entwicklung der anthroposophischen Bewegung verlief am Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Stufen, die Rudolf Steiner im Rückblick selbst beschreibt.
In der ersten Stufe ging es ihm darum, die Grundlagen einer neuen Wissenschaft vom Geist darzustellen. Zu deren zentralen Gebieten gehören insbesondere der Mensch mit seinen sieben Wesensgliedern, die Frage von Reinkarnation und Karma, die Entwicklung der Erde und ihrer Naturreiche sowie die Christologie. Um diese Inhalte in angemessener Form aufnehmen und verarbeiten zu können, ist eine Verlebendigung und Spiritualisierung des Denkens notwendig. Hierzu findet sich im Frühwerk Rudolf Steiners mannigfaltiges Übungsmaterial. Die Aufgabenstellungen, die mit diesem ersten Entfaltungsschritt der Anthroposophie zusammenhängen, sind auch heute noch ungeheuer groß. Denn auf dem Hintergrund der weitgehend materialistischen Denkweise ist eine Spiritualisierung der Wissenschaften ein unglaublich großes Unterfangen. Allein dies würde für Jahrzehnte, ja Jahrhunderte intensivsten Arbeitens unzähliger Wissenschaftler und Forscher ausreichen.
Seelische Beobachtung zu Denken, Fühlen und Wollen
Man kann eine seelische Beobachtung an sich selbst und auch an anderen Menschen machen, durch die etwas Konstitutives und ganz Grundlegendes des Seelenlebens sehr vieler heutiger Menschen umrissen wird. Man blicke dabei auf folgende innere Situation: Man denkt einen Gedanken. Es entsteht eine Einsicht. Wenn es ein umfassender – z.B. ein geisteswissenschaftlicher – Gedanke ist, der durch den eigenen Denkprozess wirklich durchdrungen und aufgebaut wird, dann ist es umso besser. Diese Einsicht, diesen gedachten Gedanken kann man innerlich vor sich hinstellen und anschauen. Er schwebt, räumlich gesehen, im Bereich des Kopfes, kann aber auch darüber hinausgehen. Der Gedanke hat überdies eine Gestalt; diese variiert, je nachdem, um welchen Gedanken es sich handelt.
Wenn man auf die Goethezeit blickt, dann sieht man, dass Goethe selbst, aber auch viele andere Geister, dieser Zeit ihr Gepräge und ihren Geist gegeben haben. Lessing stellte in seiner ›Erziehung des Menschengeschlechts‹ die Frage nach dem Wiedergeborenwerden der menschlichen Seele; Herder arbeitete an einer neuen Geschichtsauffassung; Goethes und Schillers Freundschaft und Zusammenarbeit auf den verschiedensten Feldern stellte eine Art Herzstück der Bewegung dar; auch die Romantiker, zu denen Novalis ja zählt, gehören zur Goethezeit. Es ging den Dichtern, Philosophen und Naturforschern dieser Zeit um ein tieferes Verstehen dessen, was der Mensch seinem Wesen nach ist. Es ging um ein Erwachen für die Dimension des Ich-Seins des Menschen; der Dimension des Ich, die nicht als ein Ding, oder als etwas, worauf man als auf etwas Abgeschlossenes blickt, zu fassen ist, sondern nur da, wo das Ich selbst tätig ist. Deswegen war das Tätigsein, sei es im Naturbetrachten, sei es in der künstlerischen Betätigung, oder auch im philosophischen Denken, kurz: überall dort, wo der Mensch etwas Schöpferisches, Neues entfaltete, so wesentlich. Durch das Ich und vom Ich her entstand das Neue, verwandelte sich die Welt. Fichte als der eigentliche Ich-Philosoph hat mit dem sich selbst setzenden und fassenden Ich nicht nur eine ganz eigene Leistung hervorgebracht, sondern er hat damit auch das in seiner Zeit liegende Streben auf den Punkt gebracht
Vor 100 Jahren verfasste Walter Johannes Stein den Artikel ›Der Christus Jesus in der Lehre Rudolf Steiners‹ für das Eröffnungsheft der neu gegründeten Zeitschrift die Drei. Der folgende Beitrag geht von der Frage aus, ob und wie Steins Artikel in dieser Zeitschrift weiterwirkt und sich mit Themen unserer Gegenwart verknüpft.
Zu Claus Otto Scharmers Buch »Theorie U«