Artikel von Ulrich Kaiser
Zur Auseinandersetzung zwischen Max Dessoir und Rudolf Steiner
Am 22. Oktober 1916, es ist ein Sonntag, schreibt der vom Dienst an der Front befreite Instruktionsoffizier Walter Johannes Stein aus Wien an den Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner in Dornach: »Hochverehrter Herr Doktor! Prof Dr Max Dessoir (Berlin) hat am 20. d. M. in Wien im kleinen Vortragssaal der Urania einen Vortrag gehalten, welcher in einem Zyklus von drei Vorträgen der letzte war ›Aberglaube und Geheimwissenschaft in der Gegenwart, Theosophie‹. So lautete die Ankündigung des Vortrags. Die zwei vorangehenden beschäftigten sich mit ›Gesundbeten und Kabala‹. Ich hatte nur den dritten gehört [...] Der dritte Vortrag war eine Polemik. Was als Polemik gebracht wurde ist nicht so gefährlich wie die vorangehende ›unbefangene und objektive‹ Darstellung der Lehre des ›Herrn Steiner‹.«
Perspektiven einer allgemeinen Erzähltheorie
Traditionell verstehen wir unter Erzählungen Geschichten, die in Form von Mythen, Märchen oder Romanen kulturell überliefert sind oder von Schriftstellern verfasst werden. Sie gelten als Produkte der Phantasie. Auch wenn sie für unsere Lebensorientierung Bedeutung haben und das Fiktive sowie das Imaginäre so etwas wie eine anthropologische Disposition darstellen, sind Erzählungen als eine Art Feierabendprodukte doch von der nüchternen Tagesarbeit und dem klaren Tatsachenwissen geschieden. Ein Roman ist eben, nach traditionellem Verständnis, keine Biografie und eine historische Erzählung kein Roman. Doch die selbstverständliche Unterscheidung zwischen dem Faktischen, die für den wissenschaftlichen, und dem Fiktiven, die für den künstlerischen Text gilt, ist fragwürdig geworden. Erzählen können wir nämlich immer schon beides: erfundene Geschichten und tatsächlich erlebte. Die Erzählung als produktive Schöpfung kann sich so eng wie möglich an die erlebten Tatsachen halten oder vor Erfindungslust übersprudeln, immer ist sie Erzählung, erzählende Tätigkeit.
Als Rudolf Steiner am 10. Januar 1925 die Vorrede zur Neuauflage seiner ›Geheimwissenschaft im Umriss‹ schrieb, war ihm das Anlass für einen Rückblick auf seine innere Situation fünfzehn Jahre zuvor beim Verfassen dieses Buches. Insbesondere war er damals darum bemüht, ja besorgt gewesen, den Gehalt seiner esoterischen Aussagen für seine Zeitgenossen so verständlich wie möglich zu formulieren. So kreisen seine knappen Ausführungen in dieser Vorrede denn auch um das Thema der »Verständlichkeit«. Und sie erhalten im Hinblick auf seinen nahe bevorstehenden Tod einen vermächtnishaften, vorausblickenden, zukünftigen Charakter. Denn Rudolf Steiner würde nun selber seinem Buch nicht mehr mit neuen Erläuterungen, Verbesserungen oder der Anpassung an veränderte Lesegewohnheiten beistehen können. Ein letztes Mal noch brachte er alle Sorgfalt auf, die Bedingungen für ein angemessenes Verstehen seiner Aussagen klar mitzuteilen.