Artikel von Joachim von Königslöw
Fortgesetzte Betrachtungen zu einem ununterbrochenem Krieg
Dem Schweizer Waldorflehrer und Anthroposophen Peter Lüthi, einem Kenner Russlands und der Ukraine, ist es im vorigen Jahr gelungen, beide Länder – in denen er seit den 90er-Jahren Kurse und Seminare abgehalten hat – mehrere Wochen lang zu bereisen. So etwas geht also. In der Zeitschrift ›Gegenwart‹ berichtet er darüber und schreibt: «Es kann mir gar nicht einfallen, den Lesern mitzuteilen, was ›Russland‹, ,›die Ukraine‹ oder ›das russische Volk‹ denken, fühlen und wollen. – Und jede eigene Wahrnehmung und Begegnung vermindert ein wenig meine Abhängigkeit von dem, was westliche, ukrainische oder russische Medien und Experten beweisen wollen. Ich glaube weder dem Spiegel noch dem Antispiegel, weder dem Mainstream noch dem Antimainstream [...]. Von beiden Seiten werde ich mit Eindeutigkeiten bearbeitet, die so wenig der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit gerecht werden, die ich in jeder wahrgenommenen Wirklichkeit finde. Meine Sympathie oder Antipathie gegenüber Russland, den USA oder der Ukraine kann nicht das Kriterium sein, ob eine Information wahr ist. Da ich mir eingestehen muss, sowohl für ›Russland‹ wie für ›die Ukraine‹ Sympathien zu haben, komme ich um diese Einsicht nicht herum.« Mir geht es ebenso! Deshalb habe ich mir seinen Vorbehalt sehr zu Herzen genommen.
Wladimir Putin und sein Krieg
Ich hatte Wladimir Putins Invasion der Ukraine befürchtet und erwartet; doch als sie am 24. Februar 2022 in der Morgenfrühe tatsächlich begann, war ich, wie wohl die meisten meiner Zeitgenossen, zutiefst schockiert; weil das, was nicht geschehen durfte, eben doch geschah – und ich meine tiefe Ohnmacht spürte. Schon am Vortag hatte die ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ ein Prosa-Gedicht (sozusagen ein ›Gedicht in Prosa‹ à la Turgeniew) von Uwe Kolbe veröffentlicht. Ich zitiere die ersten fünf Zeilen (wobei die erste Zeile auch die Überschrift ist): »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen. / Der ehemalige Sowjetrepubliken beherrschende / vermutlich ehemalige Geheimdienstoffizier tut es / erneut: Angrenzende Gebiete werden angrenzende / Staaten, werden anerkannt, besetzt, einverleibt.«3 Dazu kontrastierend schildert Kolbe Reminiszenzen des inneren, kultivierten, »eigentlichen« Russland und endet wieder mit: »Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen.« Mit der Anfangszeile wird der Bogen zurück zu einem anderen, allgemein bekannten Ereignis geschlagen; denn vor 83 Jahren (das ist genau meine Lebenszeit!), verkündete Adolf Hitler mit diesen Worten, dieser Lüge den Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Über den Kulturverlust in Zeiten der Pandemie
Im Jahre 1962 erschien in den Vereinigten Staaten Rachel Carsons Buch ›Der stumme Frühling‹. Es löste damals eine Art von Aufschrei aus und befeuerte die Anfänge der ökologischen Bewegung. Worum ging es? Auch zu jener Zeit war die zivilisierte Welt keineswegs still oder stumm – im Gegenteil! Aber die Menschen spürten auf einmal: Ein wesentliches Element zum Erleben des Frühlings fehlte: die Vogelstimmen. Sie waren verstummt, denn die Zivilisation hatte den Vögeln die Lebensgrundlage genommen. Das betraf damals (und auch heute noch!) die Natur, das Naturerleben. Wenn ich jetzt 2020/21 in Analogie dazu von einem »stummen Winter« spreche, geht es um die Kultur – also das, was in der modernen Zivilisation das öffentliche In-Erscheinung-Treten und Sich-Ausleben von »Kultur« ist: Musik und Konzerte, Bildende Kunst und Ausstellungen, Theater, Schauspiel und vieles mehr, soweit es sich öffentlich im aktuellen Sich-Begegnen und Agieren der Menschen untereinander abspielt. Öffentliches Sich-Begegnen der Menschen sei aber – so heißt es – in den Zeiten der Corona- Pandemie gefährlich! Überdies sei das »öffentliche Ausleben« von Kultur nichts so Lebenswichtiges wie Essen und Trinken, Gesundheit und Hygiene, wie Produktion und Handel der für’s Leben »unverzichtbaren« Güter. Kultur sei Unterhaltung, etwas für die Freizeit! »Kultur« ist also im Sinne der um uns besorgten Politiker und ihrer Ratgeber aus Kreisen der »Wissenschaft« bloß Unterhaltung; sie wird also dem nicht-essenziellen Bereich des Lebens zugeschlagen!
Zu Gerd Koenen: ›Im Widerschein des Krieges‹*
Jeder Mensch, der heute nicht nur bloß dahinlebt, ist betroffen und belastet durch den Krieg in der Ukraine; als verheerendes Unwetter, als Entsetzen, als dunkles Rätsel hängt er über Europa und der Welt. Dieser Krieg hat inzwischen eine Flut von Büchern hervorgebracht, die ihn erklären, Thesen vertreten, Emotionen und Hass schüren, Friedensappelle an die Welt richten und kluge Diskurse darüber führen, wie es dazu kommen konnte. Kein Buch aber – soweit ich das überblicke – gibt Kunde von einem »Nachdenken über Russland« angesichts eines Krieges, dessen mörderischen Schein uns die Medien zeitnah und unmittelbar ins Haus bringen. Als Widerschein im menschlichen Denken, Betrachten und Beurteilen sich spiegelnd, wird dieser Krieg zwar nicht weniger höllisch, ist aber kein lähmendes Fatum mehr.
Die Flutkatastrophe an Ahr und Erft
Wir stehen noch immer unter dem Eindruck einer Flutkatastrophe, wie wir sie in diesem Ausmaß in unseren Gebieten noch nie erlebt haben. Sie betraf vor allem das Rheinland und Westfalen; lang andauernder Starkregen ging vom Sauerland über die Eifel bis in die angrenzenden Gebiete Belgiens und Luxemburgs nieder. Mehr als 200 Menschen kamen in den Sturzfluten ums Leben, manche bleiben bis heute vermisst. Nicht die großen Ströme Rhein und Donau, Elbe und Oder waren diesmal die Hauptakteure der Ereignisse, die man voreilig gern »Jahrhundert-Fluten« nennt, sondern kleine Flüsse und Bäche, durch deren enge Täler meterhohe – bisher unvorstellbare – Flutwellen stürzten, die alles wegrissen, was ihnen im Wege war. Die Schäden in den betroffenen Gebieten sind noch unermeßlich.
Ein Land auf der Kulturscheide Europas
Auf der Leipziger Buchmesse im März spielte Rumänien die Rolle des Gastlandes. Ein Wort, das die gegenwärtige rumänische Literatur wie die sozialen Netzwerke dieses Landes durchzieht, ist »rezist« – zu deutsch: widerstehen. Damit ist vor allem der Widerstand gegen die korrupte politische Klasse Rumäniens gemeint, der immer wieder in großen Demonstrationen zum Ausdruck kommt. Die folgende Darstellung möchte einen Beitrag zum Verständnis dieses Landes leisten, dessen Probleme aus seiner besonderen Lage heraus erklärt werden können.