Artikel von Jürgen Raßbach
Zum 150. Geburtstag Adalbert Stifters. Eine Skizze
»Es gibt Dinge, die man fünfzig Jahre weiß, und im einundfünfzigsten staunt man über die Schwere und Furchtbarkeit ihres Inhaltes.« Sie stand, Ria, die kräuterkundige Alte, klein und lebensfroh, im äußersten Winkel unseres lichtdurchfluteten Wohnzimmers und sprach, mit großem Ernst, frei, wie ich das zuvor noch nicht erlebt hatte, schwäbisch eingefärbt, sie rezitierte: Stifter. Es war an einem Sonntag und wenige Stunden zuvor war unsere jüngste Tochter geboren worden, Ende Juli 1979. Sie war, in Erwartung dieses Ereignisses, mit meiner Schwiegermutter angereist, und nun gab es ein Fest, mit Musik, mit Rezitation und, natürlich, mit gutem Essen. Adalbert Stifter also, die Beschreibung der am 8. Juli 1842 stattgefundenen Sonnenfinsternis – ein gewaltiger Text, den ich damals zum ersten Male hörte. Es lag ein großer Zauber über ihrem Sprechen, eine Magie, etwas Auratisches wehte mich an. Später, in der Küche, während sie ein schmackhaftes Körnergericht zubereitete, erzählte sie mir, dass sie Sprachgestalterin sei und dass sie, neben Goethe und Kleist, Stifter besonders mochte, weil er sich so gut sprechen oder auch vorlesen ließe. Ich begann, auf diese Anregung hin, Gedichte frei vorzutragen, später auch Prosatexte, Briefe von Morgenstern etwa.