Artikel von Jürgen Raßbach
Zum 100. Geburtstag Paul Celans
Er kam als Verfolgter zu uns, auf lebensgefährlichem Fluchtweg, nach Wien, 1947. Von da nach Paris. Deutschen Boden hat er nur besuchsweise betreten, immer auch mit dem unguten Gefühl, Personen zu begegnen, die in die Verbrechen des Dritten Reichs verstrickt waren. Er kam aus dem Osten, aus der Bukowina, das die Österreicher Buchenland nannten, genau aus Czernowitz, dem heute zur Ukraine gehörenden Czernowzy. Er ent-kam: ein Jude. Dass er überlebte, während seine Eltern dem Holocaust zum Opfer fielen, hat sich ihm »schwarz« als Schuld und »Erinnerungswunde« eingebrannt. Aus dieser »phylakterienfarbenen« Düsternis und Trauer ist sein unvergleichbares poetisches Werk erwachsen, dessen Anfänge klangvoll, farbig, langversig, oft auch gereimt, surrealistisch aufwogten, eine »Tonkunst«, die das Publikum verzauberte, ihm selbst aber immer verdächtiger wurde: »EIN KNIRSCHEN von eisernen Schuhn ist im Kirschbaum. / Aus Helmen schäumt dir der Sommer. Der schwärzliche Kuckuck / malt mit demantenem Spornsein Bild an die Tore des Himmels.«
Vor 50 Jahren starben Nelly Sachs und Paul Celan
Sie haben sich Briefe geschrieben, von Stockholm nach Paris, von Paris nach Stockholm, eine bewegende Korrespondenz, ein »Meridian des Schmerzes und des Trostes«.
Ein Besuch bei dem Schriftsteller Bernd Wolff (*1940)
Der Harz. Ich nähere mich ihm von Osten, überquere den schmalen Lauf der Bode, gleich zweimal, fahre durch Halberstadt und sehe ihn, nun schon deutlich näher, wieder vor mir, den legendären Gebirgszug. Es ist November, wie damals, als Goethe 1777, vom Süden her, incognito als »Maler Weber«, zur ersten seiner drei Harzreisen aufbrach – ein Ausbruch zu Pferd, ein Schimmelritt ins Ungewisse, Abenteuerliche. Mein Ziel ist Blankenburg, die Kreuzstraße. Dort wohnt, seit Jahrzehnten, wie er mir erzählen wird, der Schriftsteller Bernd Wolff, Verfasser dreier Bücher über Goethes Harzreisen. Ein viertes, über Heinrich Heines Harzreise, rundet diese bemerkenswerte Schöpfung ab: eine Tetralogie, die mehr Beachtung verdient, als ihr bislang zuteil geworden ist: ›Winterströme‹ (Verlag der Nation, Berlin 1986), ›Im Labyrinth der Täler‹ (Verlag Die Pforte, Dornach 2004), ›Die Würde der Steine‹ (Verlag Die Pforte, Dornach, 2008) und ›Klippenwanderer‹ (Futurum Verlag, Dornach, 2012).
Freies Geistesleben in der DDR – Teil II
Bückware. Wer in der DDR aufgewachsen ist, kennt diesen Begriff. Sie war nicht so leicht zu haben, oft eben nur unterm Ladentisch. Dass sich der damit angezeigte Mangel auch auf Bücher bezog, und nicht nur auf Bananen etc., verweist auf einen aus heutiger Sicht nachgerade beneidenswerten Bedarf der Bürger dieses Leselandes (wie es sich, übrigens nicht zu Unrecht, offiziell gern nannte). Die seit den 70er Jahren in regelmäßigen Abständen erscheinenden literarischen Tagebücher Hanns Cibulkas (1920–2004) gehörten zu dieser so begehrten Bückware. Ihre Titel verweisen meist auf ihre landschaftliche Bezogenheit, auf Rügen und Hiddensee sowie die thüringische Wahlheimat des in den Nachkriegswirren aus dem sudetischen Altvatergebirge Ausgesiedelten: ›Sanddornzeit‹, ›Dornburger Blätter‹, ›Seedorn‹, ›Swantow‹ ... Diese schmalen Büchlein haben auf eine stille und konsequente Weise vorbereiten geholfen, was heute mit Recht als friedliche Revolution gerühmt wird. Worin aber bestand die ganz besondere Brisanz dieser Bücher? Was war ihre Botschaft und wie war sie »verpackt«, damit sie im zensierten Buchmarkt der DDR überhaupt erscheinen konnte?