Artikel von Rüdiger Sünner
Mit Paul Celan in der Kabbalisten-Stadt Safed
Eines der spannendsten Fotos, das ich bei den Recherchen zu meinem Film ›Gottes zerstreute Funken. Jüdische Mystik bei Paul Celan‹ sah, zeigte den Dichter vor den Gräbern großer Kabbalagelehrter in Safed. Celan hatte 1969 während seiner Israelreise einen Abstecher in dieses spirituelle Zentrum gemacht, um das Grab des Mystikers Isaac Luria (1534–1572) zu besuchen, der im 16. Jahrhundert eine völlig neue Deutung der Kabbala vorgelegt hatte. Auch mich hatte Lurias Interpretation schon lange fasziniert, und erst die Entdeckung, dass Celan davon beeinflusst war, führte zu der Entscheidung, einen Film über diesen von Tragik umwölkten Dichter zu riskieren. Ich hatte die Lurianische Kabbala über die Kunst von Anselm Kiefer kennengelernt, zuerst über geheimnisvolle Bildtitel wie ›Bruch der Gefäße‹, ›Zimzum‹, ›Schechina‹ und ›Sefiroth‹. Dann durch die Kabbalastudien von Gershom Scholem, die mir diese Begriffe verständlicher machten, mit denen Luria versucht hatte, die brutale Vertreibung der Juden aus Spanien mit seinem Gottesbegriff zusammenzudenken. Gott, so seine Hypothese, muss sich bereits am Anfang der Schöpfung zurückgezogen haben, um die freie Entwicklung der Welt nicht zu gefährden (Zimzum). Seine wenigen Lichtstrahlen waren aber immer noch so mächtig, dass die ersten Seinsformen (»Gefäße«) zerbrachen und ihre Scherben von nun an durch das All schwirrten (Shevirat Ha kelim). An ihren Rändern aber kleben noch göttliche Lichtfunken, die der spirituell Suchende einsammeln und neu zusammensetzen kann, im Akt des Tikkun, was übersetzt »Reparatur der Welt« heißt.
Die Kunst und das Übersinnliche
Das Verhältnis von Joseph Beuys zu Rudolf Steiner und zur Anthroposophie ist bis heute ein heikles Thema. Auch in diesem Jahr, wo man den 100. Geburtstag des Künstlers zum Anlass nimmt, ihn noch einmal zu würdigen, wird es eher verschwiegen oder zur Polemik benutzt als differenziert ausgelotet. Kunsthistoriker und ehemalige Mitarbeiter von Beuys halten sich in diesem Punkt auffällig zurück und spielen dessen starke Verbindung zur Anthroposophie gern herunter. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die esoterische Weltsicht Steiners bis heute von einem Schatten umwölkt ist, dem viele lieber aus dem Weg gehen möchten. Waldorfschulen oder ›Demeter‹-und ›Weleda‹-Produkte werden zwar in der Öffentlichkeit durchaus geachtet, aber die Anthroposophie gilt vielen immer noch als dubiose Okkult-Lehre mit rassistischen Untertönen, die im Widerspruch zu unserer aufgeklärten Welt steht. Dazu hat auch die Beuys-Biographie des Schweizer Autors Hans-Peter Riegel beigetragen, der 2013 versuchte, Beuys als »braun« angehauchten Künstler zu entlarven, der seine Inspirationen dem »völkisch-nationalistischen Wertekanon« von Rudolf Steiner zu verdanken habe. Jüngst hat auch ›Der Spiegel‹ diese Vorwürfe wieder aufgegriffen und Steiner sogar in die Nähe zu dubiosen »Querdenkern« unserer Tage gestellt, die etwa als Verschwörungstheoretiker oder QAnon-Anhänger die Corona-Maßnahmen der Regierung bekämpfen. In dem Artikel wird behauptet, dass Beuys »seine Weltanschauung beim Großesoteriker Rudolf Steiner regelrecht abgeschrieben« und dessen völkischen »Geisterglauben ans Deutsche« mit seinem Werk fortgesetzt habe. Solche plakativen Anschuldigungen wie auch das Herunterspielen des anthroposophischen Hintergrundes des Künstlers an anderer Stelle zeigen nur die große Verlegenheit gegenüber dem komplexen Thema »Beuys und Steiner«, was ich zum Anlass nehmen möchte, einmal genauer hinzuschauen.